Ein schöner alter Ausdruck bei Luther: Er jammerte ihn! Andere übersetzen: "Er erbarmte sich" oder "Er kümmerte sich um ihn". In der Lutherübersetzung ist das erste Objekt nicht der unter die Räuber Gefallene, um den man sich kümmert. Das erste Objekt ist der Samariter: Der Verwundete jammert ihn. Er wurde bewegt oder ergriffen vom Mitleid. Die erste Aktivität geht vom Geschlagenen aus: Er bewegt den Samariter, er dreht ihm das Herz im Leibe um. Die erste Kraft des Samariters: Er wehrt sich nicht gegen den Blick des Verwundeten. Er öffnet sein Herz, das nicht aus Beton ist wie das unberührbare Herz des Priesters oder des Priesterdieners. Ich bewundere nicht zuerst die Moral des Samariters, jenes Fremden aus der unzulässigen Religion. Ich bewundere seine Schönheit; die Schönheit eines Menschen, der berührbar ist; verwundbar durch den Anblick des Verwundeten. Dieser Mensch hat keine Prioritäten außer dem Gesicht dessen, der da liegt nackt und halb tot. Wäre der Gottesdienst seine Priorität gewesen wie bei dem Priester, dann wäre er eilig vorübergegangen wie jener. Wäre der Tempeldienst seine Priorität gewesen wie bei dem Leviten, dann hätten die Augen des halb Toten ihn nicht gefunden. Seine Priorität liegt auf der Straße, es ist der Mann aus der fremden Gegend, aus dem fremden Glauben; es ist der Mann, den er noch nie gesehen hat. "Wer ist denn mein Nächster?", hat der suchende Pharisäer gefragt. "Da liegt er!", hat Christus geantwortet. Es ist nicht nur deine Mutter, nicht nur dein christlicher Onkel, nicht nur dein deutscher Vetter. Er liegt da, irgendwo zwischen Jerusalem und Bethlehem; zwischen Köln und Riga, zwischen Lima und Washington. Warum sagt Lukas eigentlich, dass der Pharisäer Jesus mit dieser Frage habe versuchen wollen? Es ist doch die wichtigste Frage, die man stellen muss.
Wie kommt es, dass man diese Geschichte noch nicht aus der Bibel, aus dem Grundbuch unseres Selbstverständnisses entfernt hat? Wie kann man mit einem solchen umstürzlerischen Text in einer Volkskirche leben? Welche Rolle spielt er bei der augenblicklichen Prioritätendiskussion in unseren Kirchen? Wir brauchen mehr Spiritualität, sagen wir, und gründen Institute zu ihrer Förderung. Schön und gut! Aber was wird mit dem Geschlagenen? Wir brauchen mehr Institute zur Pflege des Gottesdienstes, sagen wir. Schön und gut! Aber heißt das, dass wir vorübergehen an den übel zugerichteten Kerlen zwischen Jerusalem und Jericho? Vielleicht wäre es besser, wir hätten diesen Text nicht in unserer Bibel. Dann könnten wir als Priester und Leviten ungestörter zum Tempel eilen. Dieser Text irritiert mich zutiefst. Er setzt an die zweite Stelle, was ich liebe den Gottesdienst und das, was wir gemeinhin Spiritualität nennen. Aber wir kommen nicht an ihm vorbei. Er sollte dreimal am Tag auf den Synoden vorgelesen werden, die sich mit den Prioritäten in unserer Kirche beschäftigen.
Der Priester und der Levit hatten keine gebildeten Augen. Sie sahen den armen Hund, und sie sahen ihn doch nicht, denn sie hatten ja andere Prioritäten. Man muss wissen, was Gott wichtig ist, um richtig zu sehen. Hoffentlich haben wir als Kirche gebildete Ohren! Sonst könnte es sein, dass wir den Text am 13. Sonntag nach Trinitatis vorlesen und ihn doch nicht hören. Man muss gebildete Ohren haben, um den Text zu hören. Am unerträglichsten wäre eine Kirche, der die Geschichte aus dem Lukasevangelium so geläufig geworden ist, dass sie durch ihn nicht mehr irritiert wird. Die Fähigkeit, sich stören zu lassen, ist eine Voraussetzung dazu, den Willen Gottes zu erkennen und sich zu bekehren.