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Es ist eine alte Geschichte, / doch ist sie immer neu; / und wem sie just passieret, / dem bricht das Herz entzwei." Heinrich Heines Vers erfasst halb ironisch, halb schmerzlich die fatale Entwicklung einer Liebesbeziehung, die nur noch von gemeinsamen Kindern und wirtschaftlichem Druck zusammengehalten wird. Die Partner geben sich in ihrem zum Käfig gewordenen Nest kein gutes Wort mehr.
Die Frau, der Mann für sich sind im Kontakt mit dem Psychologen wertschätzend, nachdenklich, höflich – kluge Menschen, die im Beruf funktionieren, sich mit ihren Freunden verstehen. Immer wieder müssen sie schockiert feststellen, dass ausgerechnet gegenüber dem Menschen, mit dem sie besonders viel verbindet, ihre Souveränität sie völlig im Stich lässt. Kaum treffen sie aufeinander, verschwinden ihre sozialen Kompetenzen, und es gibt Streit, wann sich wer welcher Verfehlung schuldig gemacht hat.
Wolfgang Schmidbauer
Der Therapeut versucht, die Lage zu entspannen. Er macht einen Scherz. Er sagt, dass sich jeder in der Liebe den Prinzen oder die Prinzessin wünscht und nicht mit dem Frosch zufrieden ist, der sich zu ihm gesellen will. Aber nur im Märchen verwandelt sich dieser Frosch, wenn ich ihn an die Wand werfe. Im wirklichen Leben beschädigen Werfer oder Werferin den Frosch, der darüber nachdenkt, wie er den Wurf heimzahlen kann. Wie aber sonst mit der Enttäuschung fertig werden, dass sich der oder die Liebste nicht so entwickelt hat, wie es Bedürfnis und Hoffnung erwarten ließen? Man könnte das mit Humor nehmen und herausfinden, was an Versöhnung geht.
Bisher hat der Ehemann sich über seine Frau beklagt, deren Miene immer mehr versteinert. Jetzt verstummt er und sagt: "Das bringe ich nicht. Ich verstehe, was Sie meinen. Sie haben vielleicht sogar recht. Aber um das zu schaffen, braucht man eine Seelengröße, die ich einfach nicht habe. Ich soll verzeihen, was sie mir angetan hat, ich soll es nicht ernst nehmen, soll drüber weggehen? Ich bewundere Leute, die das können. Ich hätte sie gerne, die Seelengröße, das zu leisten. Aber das schaffe ich nicht."
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Das Wort von der fehlenden Seelengröße scheint mir in die Gruppe der Psychoirrtümer zu gehören. Das Einfache wird kompliziert. Leistungen, die ein Kind beherrscht, werden schwere Forderungen, die man "wieder nicht geschafft hat", ja "einfach nicht schaffen kann": Schwächen zulassen, Gefühle zeigen, den Augenblick genießen, lachen, sich freuen, obwohl nichts und niemand perfekt ist.
Wer von Seelengröße redet, ringt um ein Idealbild seiner selbst und will durch gesteigerte Mühe erreichen, was ihm wegen der gegenwärtigen Anstrengung misslingt. Er will die Unfähigkeit, weich zu werden und nachzugeben, durch die Fantasie von noch mehr narzisstischer Größe überwinden. "Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen", steht in der Bibel im Matthäus-Evangelium 18,3: Jesus stellt ein Kind in die Mitte seiner Jünger, um deren Debatte zu beenden, wer der Größte sei. Wer Seelengröße als Abschied von kindlichen Bedürfnissen versteht, muss scheitern; umgekehrt ist die Frage nach dem Glück einfacher zu beantworten, als es scheint – das Kind handelt spontan, wo der Erwachsene verzagt.
Wären Kinder so eitel und nachtragend wie Erwachsene, sie würden niemals den aufrechten Gang erlernen. Stolpern, vornüber oder auf den Hintern fallen, das passiert doch wieder und wieder. Die Kränkung ist mal größer, mal kleiner, aber sie nimmt nicht den Mut und stoppt nicht den Versuch, es beim nächsten Mal besser zu machen.
Erwachsene, die von Seelengröße reden, gehen miteinander um, als dürften sie keinen Murks, kein Versagen jemals vergessen. Wie in den Gräbern chinesischer Kaiser die Krieger aus Terrakotta, ruhen in ihrer Vergangenheit ganze Vorwurfsarmeen, jederzeit gerüstet, gegen einen Gegner zu ziehen und ihn zu überwältigen.
Muss ich groß und stark sein, um auf diese Armee verzichten zu können? Die Unfähigkeit, dem Partner zu verzeihen, wurzelt in der Angst vor einem feindlichen Gegenüber. Er überwältigt mich, wenn ich Schwäche zeige. Aber ist mein Gegner wirklich gefährlich oder wird er es erst durch meine ihm zugeschriebene Wut?
Eine erste Version des Textes erschien am 14. Januar 2019.
"Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen."
Nur Verzeihen?
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Die eindringliche Antwort, auf die Frage was bezüglich gottgefällig / wie die Überwindung der göttlichen Sicherung vor dem Jüngsten Gericht, im Sinne von Seele und Freien Willen, zu bewerkstelligen ist, findet sich in Matthäus 18,6
In dieser kreislaufend zeitgeistlich-reformistischen Welt- und "Werteordnung" des nun "freiheitlichen" Wettbewerbs, wird das "Kindliche des Geistes" mit Zeit-/Leistungsdruck zu/in einer Karriere von Kindesbeinen ausgetrieben - besonders an den Kindern des digitalen Zeitalters wird dies sehr früh deutlich!!!