Lehren aus Corona
Eltern wählen für ihre Kinder
Während Corona haben junge Menschen an den Maßnahmen gelitten, sagt der Kinderethiker Christoph Schickhardt. Sein Vorschlag: Eltern wählen für ihre Kinder, damit die Politik die Jugend nicht mehr übergeht
Ob der Sohn ihr sagt, wen er wählen würde? Und warum? Mutter mit Kind in einer Wahlkabine in Miesbach
Ob der Sohn ihr sagt, wen er wählen würde? Und warum?
picture alliance/SZ Photo/Florian Peljak
Tim Wegner
Aktualisiert am 13.06.2024
3Min

chrismon: Sie analysieren in Ihrem Buch, was aus kinderethischer Sicht falsch gelaufen ist in der ­Corona- Politik – und plädieren für ein ver­ändertes Wahlrecht. Wie sollte es aussehen?

Christoph Schickhardt: Ich schlage vor, dass Eltern pro Kind eine zusätzliche Stimme erhalten, die sie stellvertretend für ihr Kind abgeben müssen.

Müssen?

Ja, die Eltern müssen ihr Kind bei der Wahl einbeziehen. Ab 14 und bis 16 Jahre erhält das jugendliche Kind ein Veto­recht darüber, wie die Eltern wählen – und ab 16 Jahren bekommen Jugendliche das volle Wahlrecht, nicht erst ab 18. Auch in anderen Lebensbereichen traut man den Eltern zu, für und mit ihren Kindern zu entscheiden. Warum nicht bei Wahlen?

Suhrkamp Verlag

Christoph Schickhardt

Christoph ­Schickhardt ist ­Philosoph und arbeitet als Wissen­schaftler am Deutschen Krebs­forschungszentrum und Universitäts­klinikum Heidelberg. Schickhardts Buch heißt: "Nicht systemrelevant", Suhrkamp, 175 Seiten, 18 Euro.

Weil im Wahllokal niemand weiß, ob Eltern ihre Kinder wirklich einbe­zogen haben?

Man kann nicht alles absichern. Aber Eltern reden mit ihren Kindern und ­wissen, was ihnen wichtig ist. Und je reifer Kinder werden, desto klarer wird es.

Warum schlagen Sie das vor?

Kinder haben in Öffentlichkeit und ­Politik ein geringes Gewicht. Abgeordnete in den Parlamenten agieren in aller Regel so, dass sie wiedergewählt werden. In der Pandemie wussten sie, dass sie von dieser Gruppe – in Deutschland sind das immerhin fast 14 Millionen Menschen – bei Wahlen nicht zur Rechenschaft gezogen werden konnten. Ob bewusst oder unbewusst: Ich bin sicher, dieser Umstand spielt für Poli­tikerinnen und Politiker eine Rolle. Wir wissen, dass besonders viele Stimmen von den über 50 Jahre alten Menschen kommen, denen in der Pandemie das Gros der Schutzmaßnahmen galt. Und als im Frühjahr 2020 diskutiert wurde, wer was öffnen darf, ging es um die Bundesliga oder die Friseurgeschäfte. Viele Interessengruppen sprachen ­damals mit mächtiger Stimme. Aber Kinder oder Stimmen für Kinder waren nicht darunter.

In Deutschland sind rund 161 500 Menschen an oder mit Corona gestorben. Im Nachhinein fällt es schwer, zu sagen: Die Kinder und Jugendlichen haben zu große Opfer gebracht. Ist das ein Dilemma?

Es geht mir nicht darum, das Leid oder Sterben der Menschen zu ignorie­ren; auch nicht darum, in Zweifel zu ­ziehen, dass man Schutzmaßnahmen treffen musste. Es geht um die Frage, wie diese Schutzmaßnahmen getroffen wurden und ob sie mit den Belastungen für Kinder alle in der Form notwendig und verhältnismäßig waren.

Welches Versäumnis gegenüber den Kindern in der Corona-Zeit hat Sie am meisten schockiert?

Mich erschreckt dieses Muster, das man am Beispiel Kindergesundheit erkennt. Man wusste seit 15 Jahren, dass Kinderabteilungen in Kliniken wegen systematischer Unterfinanzierung geschlossen wurden. Hilferufe von Pädiatern gab es, sie wurden überhört. Man wusste, dass es besonders an psychia­trischen und psychotherapeutischen Behandlungskapazitäten mangelte.

Dann kam der erste Lockdown.

Und spätestens im Frühsommer 2020 war klar, dass dieser Lockdown die Kinder sehr belastet hatte. Auch das ig­norierte die Politik – und verhängte im Dezember 2020 den zweiten ­Lockdown, schloss erneut Schulen und Kitas, um festzustellen: Psychologische Hilfe für junge Menschen? Gibt es viel zu wenig. Das verletzt das Recht der Kinder auf seelische Gesundheit gleich mehrfach. Dieses Muster wiederholt sich – in der Bildung, bei Einrichtungen zum Schutz des Kindeswohls und so weiter.

Experten befürchten, dass die nächs­te Pandemie nur eine Frage der Zeit ist. Wie weit sind wir mit den Lehren aus der Corona-Zeit gekommen?

Wenn ich mir die vergangenen zwei ­Jahre anschaue, wurde noch nicht mal ausreichend versucht, die negativen Folgen für die Kinder zu überwinden. Die Kosten für die Pandemie haben wir sozialisiert, während die Aktienkurse, Dividenden und Vermögen zugenommen haben. Einrichtungen, die für ­Kinder wichtig sind – Jugendämter, ­Kinderkliniken, Schulen –, sind nicht systematisch gestärkt worden. Ich bezweifele leider, dass wir Lehren im Sinne der Kinder gezogen haben.

Ein Gedankenspiel: Es kommt zu ­einer neuen Pandemie, diesmal aber sind besonders Kinder von ­schweren Verläufen betroffen. Wie würden Gesellschaft und Politik reagieren?

Ich habe überlegt, dieses Gedankenspiel zu behandeln. Das ist eine sehr gute Frage, weil sie provoziert – aber ich schrecke vor einer Antwort zurück.

Produktinfo

Christoph Schickhardt, "Nicht systemrelevant – Eine Aufarbeitung der Corona-Politik aus kinderethischer Sicht", ISBN 978-3-518-47265-1, 175 Seiten, 18 Euro

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Kinder brauchen keine solchen Rechte, sie tragen, Kraft ihrer Geburt, das höchste Recht in sich, das natürliche Recht zu Sein.
Es ist immer der erwachsene Mensch, der ihnen das Bleiberecht verweigert, oder sein Leben zur Hölle macht. Ohne Liebe würde die Welt zu einem reinen Trauerspiel, durch Gesetze, Rechte und Regeln gesteuert, die von einzelnen Individuen, Gruppen, oder gar einer ganzen Gesellschaft durchgesetzt werden..
Sie führen insgesamt zu einem diktatorischen Zustand der Kontrolle und der Macht.
Freiheit ade !

Die Frage von Nils Husmann :
" Ein Gedankenspiel: Es kommt zu einer neuen Pandemie, diesmal aber sind besonders Kinder von schweren Verläufen betroffen, es drohen viele Tote. Erwachsene dagegen erkranken meist nur mild. Wie würden Gesellschaft und Politik reagieren? "

Diese Frage soll provokativ sein, sagt der Kinderethiker.
Meine Frage :
Was ist daran provokativ ?
Ich verstehe den Gedankengang wohl nicht.

" Das verletzt das Recht der Kinder auf seelische Gesundheit gleich mehrfach. "

" Das Recht auf seelische Gesundheit " ?
Diese Feststellung ist schon nahezu eine Blasphemie, ein Zwang zu einer straffen Haltung, einem Drill zur Disziplin, alles Dinge, die der späteren Karriere zuträglich sind, aber auch zu vielen psychischen Problemen führen können, wie man weiß.

Also, kein Recht, aber die Freiheit, d.h. Du darfst.
Jedes durchgefochtene Recht muss auch die Freiheit beinhalten, sensibel sein zu dürfen, empfindsam sein zu dürfen, auch über das normal gesunde Mass hinaus ,

" Wenn ich mir die vergangenen Jahre anschaue, wurde noch nicht mal ausreichend versucht, die negativen Folgen von Corona zu überwinden. "

Diese Feststellung zeigt, wie weit Theorie und Praxis auseinander driften, und selbst im digitalen Zeitalter ist der Mensch nicht angepasst genug , um wie ein Regelwerk zu funktionieren. Krisen wollen bewältigt werden, aber es gibt nicht für jede Krise eine schnell funktionierende Lösung .
Der Unterschied zwischen steriler Wissenschaft , die aus Gedankenkonstrukten erwächst und einem lebendigen Organismus, der nicht im Labor gezüchtet wurde ist groß.
Es gibt den guten alten Spruch, der da heißt : Gut Ding will Weile haben...
Geduld zu üben, und darauf zu warten, dass auch der einzelne Mensch aus der Krise heil herauskommt, seine Trauer überwindet, die an Leib und Seele , und an der Psyche erlittenen Verletzungen verheilen, brauchen Zeit, und Vevrständnis.
Ein übertriebener Aktionismus führt zu weiteren Fehlern.
Die Siegermanier, immer und zu jeder Zeit für alles Lösungen zu haben, und wenn man sie nicht hat, dann finden sich immer noch andere, die noch schuldiger sind, oder einfach nur nicht schnell genug, ist bekannt.

Dieses Imponiergehabe ist so auffällig, wie beängstigend , weil es sehr viel Ungeduld, Unmut , Arroganz zeigt.

" Ich bezweifele leider, dass wir Lehren im Sinne der Kinder gezogen haben. "

Es ist doch auch nur natürlich, wenn die besondere Sorge denen galt, die besonders betroffen waren.
Kinder waren es nicht, viele dieser psychischen Probleme, von denen immer viel geredet , geschrieben wird, aber nur wenig Konkretes gesagt wird, sind vollkommen übertrieben und aufgesetzt.
Kinder , wenn hier schon von Kinderrechten die Rede ist, haben auch ein Recht auf ihre eigenen Gefühle, sie dürfen weinen, traurig sein, schreien, wütend sein, lachen .
Nur wenn sie es verlernen, weil sie nicht DÜRFEN , werden sie krank. Die kindliche Psyche ist sehr empfindsam, und reagiert wie ein Sejsmograf . Wenn sie also durch die Pandemie gelitten haben, dann vor allem am Unverständnis , an der Überforderung, die diese Pandemie für alle darstellte, Nicht aber an der Politik. Diese Kinder und Jugendlichen haben etwas überlebt, dass sie bisher nicht kannten, und sie werden daran ganz sicher nicht zerbrechen, es sei denn , man beginnt sie in Watte zu packen und ihnen etwas suggerieren, über falsche Politik , über Rechte , ihnen also die erwachsenen Gefühle überstülpen, die sie dann an Stelle ihrer eigenen übernehmen sollen !
Alles aus einer übergroßen Sorge um ihr Wohl, versteht sich.
Hysterie !
Verständnis, Liebe und Wohlwollen sehen anders aus.