Die Installation "Forms of Love“ des Künstlerinnen-Duos Peles Duo in St. Matthäus, der Berliner Kunstkirche, wächst über die Ostertage – Stück für Stück.
Peles Duo/VG Bild-Kunst, Bonn 2024; Foto: Trevor Good
Marie Luise Kaschnitz
Ein Karfreitagsgedicht (mit Blick auf Ostern)
Von Marie Luise Kaschnitz gibt es ein berühmtes Gedicht über die Auferstehung. Sehr lesenswert ist aber auch ein Gedicht von ihr, das eher zu Karfreitag passt
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
29.03.2024
2Min

Wer in den vergangenen Jahren Ostergottesdienste besucht hat, dürfte nicht nur einmal ein Gedicht von Marie Luise Kaschnitz gehört haben, das so beginnt:

„Manchmal stehen wir auf / Stehen wir zur Auferstehung auf / Mitten am Tage…“ Es ist so beliebt, weil es die Ostergeschichte ins Heute zieht und mit diesseitigen Erfahrungen verbindet.

Ich bin nun auf ein anderes Gedicht dieser ansonsten eher vergessenen Dichterin gestoßen, das mir den Sinn neu für den Karfreitag geöffnet hat. 

Auch es beginnt mit einer alltäglichen Erfahrung: Man vergisst so viel, doch einiges bleibt in der Erinnerung haften, das sich aber nicht zu einem Ganzen verbinden lässt – Schönes und Schreckliches, Kleines und Größtes. Auch Jesus wird erinnert und vergessen. 

Etwas bleibt haften, nämlich ein Widerspruch: ein Mensch ohne Macht, der gerade deshalb Vollmacht hat. Dieser Widerspruch lässt sich nicht auflösen.

 Aber er ist es, weshalb Menschen heute noch an ihn denken, nicht nur am Karfreitag.

 

Ich vergesse so viel
Das meiste
Nur einiges nicht

 

Nicht die englische Tänzerin
Mit den roten Schuhen
Nicht den brennenden Bergahorn
Vor der Eigernordwand

 

Auch nicht die Toten
Mit Kalk übergossen
Wie sie glänzten im Mondlicht

 

Zeit schöner Engel
Mit dem Kranz im Haar
Und der Pistole im Gürtel

 

Im Briefkasten liegt ein Zettel
Verlaß das Haus
Und ein anderer
Jesus war bei dir

 

Jesus wer soll das sein?
Ein Galiläer
Ein armer Mann
Aufsässig
Eine Großmacht
Und eine Ohnmacht
Immer
Heute noch

P.S.: Das Foto zeigt die Installation „Forms of Love“ des Künstlerinnen-Duos Peles Duo, das gerade in St. Matthäus, der Berliner Kunstkirche, wächst – Stück für Stück. An zwei Tagen der Woche während der Passionszeit arbeiten die beiden Künstlerinnen an Ton-Flächen, die sie dann mit einer innigen, kräftigen Umarmung in eine Form bringen, anschließend stabilisieren und trocken lassen, dann brennen. In der Osterzeit sollen diese tiefschwarzen „Formen der Liebe“ mit Blumen gefüllt und zum Blühen gebracht werden.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.
Permalink

Lieber Herr Claussen, ein wirklich sehr berührendes Gedicht. Danke !

Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur