Bild: Brian Merrill from Pixabay
Brian Merrill from Pixabay
Ich kann etwas bewirken
In den letzten anderthalb Jahren habe ich an Dutzenden friedlichen Demonstrationen zur Unterstützung der Ukraine teilgenommen. Aber erst seit Kurzem ist mir klar geworden, warum ich das eigentlich mache
privat
13.06.2023

Letzten Donnerstag, den 8. Juni, war in Frankfurt ein Feiertag und ich war in Eile zu einer friedlichen Demo der ukrainischen Gemeinde. Meine Freundin (sie ist kein Ukrainerin) fragte mich in diesem Moment: „Warum gehst du wieder dorthin? Es wird nichts ändern. Politiker hören uns nicht. Wie viel warst du schon da? Bist du nicht müde? Verbringe lieber diese Zeit mit deiner Familie.“ Einerseits hat sie natürlich Recht. In den letzten anderthalb Jahren habe ich an Dutzenden ukrainischen Demos in verschiedenen Städten Deutschlands teilgenommen. Wie viele waren es? Zwanzig? Dreißig? Und der Krieg und die Tragödien in der Ukraine enden immer noch nicht. Vielleicht sollte ich aufhören, dorthin zu gehen?..

Zwei verschiedene Leben

Das Leben ist manchmal unvorhersehbar. Vor einigen Jahren, während meiner ersten Auswanderung nach Deutschland, beobachtete ich oft Demonstrationen verschiedener Nationalitäten. Sie hielten immer die Flaggen ihres Landes hoch, skandierten lautstark etwas ins Mikrofon, oft kamen Menschen anderer Nationalitäten auf sie zu und ich war überrascht: Wozu machen sie das alles?

An diesem Donnerstag war es in Frankfurt sehr heiß. Aber ich konnte nicht allzu frivole Kleidung anziehen: Diese Demonstration ist der Umwelttragödie gewidmet – der Explosion des Staudamms in Cherson. Viele Opfer bei Menschen und Tieren. Deswegen zog ich eine schwarze Sommerhose und ein schwarzes T-Shirt an. Die Menschen bei der Demo waren ebenfalls entweder in Schwarz oder in den Farben der ukrainische Flagge – Gelb und Blau. Treffpunkt ist der zentrale Platz der Stadt, die Alte Oper. Na ja, hier gibt es oft Fotoshootings, weil das ein schöner Orte ist. Und heute war es hier ein Hochzeitsfotoshooting. 

Ja, ich bin sehr müde, aber...

Ein schönes, glückliches Mädchen in einem weißen Kleid wusste nicht, dass wir hier sein würden. Wir, traurig und in Schwarz, wussten auch nicht, dass sie hier sein würde. 

Die Hochzeitsfotografin war nervös, aber meisterhaft und versuchte sicherzustellen, dass niemand im Bild war und die Photos trotz allem glücklich wurden. Ich beobachtete die glückliche Braut und gleichzeitig hörte den Rednern bei dem Demo zu, machte einen Foto- und Videobericht und... weinte innerlich.

Ja, mein Freund hat natürlich Recht: ich bin sehr, sehr müde. Ich möchte wirklich aufwachen und herausfinden, dass ich mehrere Jahre lang im Koma lag und alles nur geträumt habe. Ich möchte wirklich keine Angst haben, morgens den Newsfeed in sozialen Netzwerken zu öffnen, weil ich erfahren kann, dass einer meiner Verwandten oder Freunde gestorben ist. Ich möchte einen Urlaub in meiner Heimatstadt planen, in der sich die Schule befindet, die ich besucht habe, und durch die Straßen meiner Kindheit spazieren gehen.

Aber ich weiß nicht, ob ich sie jemals sehen werde, weil meine Heimatstadt momentan von Russland besetzt ist. Ich weiß nicht, ob ich die eines Tages meinen Kindern, meinen Enkeln zeigen kann. Ja, ich möchte mich entspannen und nicht daran denken, dass meine Großmutter, die ihr Heimatdorf nicht verlassen und zu mir nach Deutschland ziehen kann, jeden Moment Hilfe brauchen könnte und ich werde keine Zeit/Möglichkeit haben, ihr zu helfen. Ja, ich möchte in aller Ruhe Blumen kaufen, einen Urlaub planen, laut lachen und mich nicht schuldig fühlen, denn meine Freunde und Verwandten in der Ukraine hören in diesem Moment Sirenen und Explosionen. Ja, ich möchte soziale Netzwerke öffnen und keine Fotos von jeden Tag verstümmelten Menschen und zerstörten Häusern sehen. Ja...

Und das alles wird definitiv in meinem Leben passieren. Aber jetzt kann ich meine Augen nicht schließen und es ignorieren. Denn in der Ukraine sterben jeden Tag unschuldige Zivilisten, Kleinkinder und Tiere. Ich werde weiterhin zu friedlichen Demonstrationen gehen. Und endlich verstand ich warum.

Meine Verantwortung 

Ich gehe dorthin nicht, um von Politikern gehört zu werden. Es ist super naiv. Ich gehe dorthin, damit mich die Lokale, Bürger Westeuropas, die zu Recht wenig über die Ukrainer und die Geschichte der Ukraine wissen, hören können.

Die meisten EU-Bürger informieren sich im Fernsehen über den Krieg in der Ukraine und über die ukrainische Kultur. Aber die wahre Wahrheit liegt in der Live-Kommunikation. Um eigene Antworten zu finden, muss man im wirklichen Leben kommunizieren. Man soll Fragen von Angesicht zu Angesicht stellen und die Reaktion spüren - die echten, ehrlichen Gefühle seines Gegenübers.

Ich bin seit 18 Jahren im Journalismus tätig. Ich kenne den Unterschied zwischen einem Live-Gespräch und einem Zeitschriftenartikel genau. Und ich weiß genau, dass Live-Kommunikation für beide viel wertvoller und effektiver ist.

Natürlich werde ich nicht lügen oder propagieren. Mein Ziel ist ein anderes: Ich hoffe, dass jemand auf mich zukommt und wichtige Fragen stellt. Und ich werde mit der Wahrheit antworten, mit Fakten. Und es wird ein ehrlicher, wahrheitsgemäßer Dialog sein. Diskussion. Und es wird einem Menschen ermöglichen, etwas Neues und Wichtiges zu lernen, das hilft, Antworten zu finden, und uns, den Bürgern der Ukraine, das Land, das Leben der Menschen und die Kultur zu retten.

Ja, ich glaube, dass ich durch mein menschliches, lebendiges Gespräch mit derselben einfachen Person etwas ändern kann. Denn unser Blick auf die Welt hängt davon ab, was für Menschen wir unterwegs getroffen haben. Und dafür trage ich auch die Verantwortung. Zum Beispiel, wie ich die Frage einer Person beantworte, wie ich reagiere und wie ich die Diskussion leite.

Schließlich ist alles verbunden. Und manchmal ist das Schicksal eines Menschen nur eine Minute, die absolut alles verändern kann: Die Geschichte dieser Person, die Geschichte einer anderen Person, die Geschichte des ganzen Landes.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.
Permalink

"Am deutschen Wesen soll die Welt genesen", am ukrainischen aber sicher auch nicht.

Wenn diese Welt zu retten ist, dann nur am ganzheitlichen Wesen Mensch OHNE wettbewerbsbedingte Symptomatik, also ist die absolute Kapitulation vor dem Wettbewerb um die Deutungshoheit angezeigt, für eine zweifelsfrei-eindeutige Kommunikation in unkorrumpierbarer Gemeinschaft von/mit Gemeinschaftseigentum "wie im Himmel all so auf Erden", denn unsere Vernunftbegabung wird nur wirklich-wahrhaftig Vernunft und Verantwortungsbewusstsein sein, wenn alles global im SELBEN Maße gerecht berücksichtigt wird!!!

Permalink

Es muss lauten: ... also ist die absolute Kapitulation des Wettbewerbs um die Deutungshoheit angezeigt ...

Ein "freiheitlicher" Wettbewerb ist ebenso illusionär und menschenUNwürdig wie das egozentrierte "Individualbewusstsein"!?

Permalink

“Gott ist queer”: Viele der 18.000 Menschen, die den Abschlussgottesdienst des Evangelischen Kirchentags in Nürnberg besuchten, jubelten Pastor Quinton Ceasar bei seiner Predigt zu. Manch nachdenklichem Christen und Zeitgenossen aber wird das, was er da live auf dem Nürnberger Hauptmarkt oder am Fernseher hörte, schräg vorgekommen sein. Mir jedenfalls ging es so.
Das Motto des Nürnberger Kirchentags „Jetzt ist die Zeit!“ aufnehmend, verkündete der leidenschaftliche Pastor: „Jetzt ist die Zeit zu sagen: Wir sind alle die Letzte Generation“. Und: „Jetzt ist die Zeit zu sagen: Black lives always matter!“ Und schließlich: „Jetzt ist die Zeit zu sagen: Gott ist queer!“ Ernstlich ruft mich mein Pastoren-Kollege dazu auf, dass ich mich von der “Hetero-Normativität” löse, weg von Herkunft, weg von Traditionen. Stattdessen soll ich mich an die “befreiende Liebe von Jesus” kleben.
Tatsächlich versuche ich, mein Leben im Kraftfeld der befreienden Liebe Gottes zu leben. Und deshalb möchte ich zu dieser Polit-Predigt einiges kritisch anmerken. Woher weiß dieser Prediger eigentlich, dass Gott angeblich queer sein soll? Weil Gott so ist, wie ich ihn gerne haben möchte? Stopp! Gott ist Gott! Und viel größer als wir Menschen uns das vorstellen können. Jedenfalls ist er nicht dazu da, sich vor unseren Meinungskarren spannen zu lassen. Davor warnt schon das zweite Gebot. Jesus verstärkt diese Warnung. Und nicht mal er, der Sohn Gottes, weiß, wann das Ende der Welt sein wird - von wegen: „Letzte Generation“.
Wie viele andere Fundamentalisten begeht auch der Aktivist Quinton Ceasar den Fehler, dass er die christliche Botschaft für seine politischen Überzeugungen instrumentalisiert. Das ist ein gefährliches Ärgernis und eigentlich eines Kirchentags nicht würdig. Jedenfalls nicht eines selbständig denkenden Menschen, den die Liebe von Jesus befreit hat - befreit, nicht zuletzt von jeglicher ideologischen Bevormundung.

Reinhard Ellsel

Antwort auf von Reinhard Ellsel (nicht registriert)

Permalink

"Und viel größer als wir Menschen uns das vorstellen können. Jedenfalls ist er nicht dazu da, sich vor unseren Meinungskarren spannen zu lassen."

Sehr wohl können wir Menschen uns vorstellen und ebenbildlich gestalten was Gott ist und sein soll/will.

Gott ist die Vernunft des Geistes, die Mensch als ganzheitlich-ebenbildliches Wesen mit der uns gegebenen Vernunftbegabung zu gottgefälligem/vernünftigen Verantwortungsbewusstsein umsetzen, in einer globalen Gemeinschaft und Gemeinschaftseigentum in zweifelsfrei-eindeutiger und wirklich-wahrhaftiger Vernunft OHNE wettbewerbsbedingte Symptomatik, "wie im Himmel all so auf Erden", dann wird es auch KEIN Ende im Sinne von Offenbarung und Vorsehung mit "Gottes Gnade" geben!!!

Kolumne

Tamriko Sholi

Wer bin ich, wenn ich keine Heimatgefühle mehr habe? Was machen Krieg und Flüchtingsdasein mit mir? Darüber schreibt die ukrainisch-georgische Schriftstellerin Tamriko Sholi in Transitraum