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Ein gemeinsames Wohnprojekt gründen, darüber habe ich hier schon oft geschrieben und immer wieder treffe ich bei meinen Recherchen auf Menschen, die fragen: Wie geht das?
Anfangen
Mit Eva Stützel hatte ich für die Wohnlage schon mal ein Gespräch geführt. Nun hat die Mitbegründerin des Ökodorfs Sieben Linden ein neues Buch geschrieben. Der von ihr entwickelte Gemeinschaftskompass bildet die Grundlage; doch jetzt zieht Eva größere Kreise, spricht breitere Gruppen an. Ihre Zielgruppen sind alle Menschen, die etwas zusammen gestalten wollen und nicht wissen, wie sie ihre Ideen zum Fliegen bringen, statt sich über Machtfragen zu verstreiten oder sich im Klein-Klein zu verlieren. Dabei kombiniert Eva ihre praktische Erfahrung als Coach und Beraterin mit viel theoretischem Background über Konfliktbearbeitung und Gruppenbildung (Soziometrie und Konsens; Rangkonflikte oder Lagerfeuergespräch). Fast 350 Seiten geballtes Wissen, mit eingestreuten kleinen Geschichten und Zitaten. Die Kapitel lassen sich auch gut einzeln lesen, denn wichtig ist: Anfangen! Das Leitzitat des Bandes stammt von der amerikanischen Soziologin Margaret Mead. „Zweifle nie daran, dass eine kleine Gruppe Bürger die Welt verändern kann. Es ist das Einzige, was je die Welt verändern kann.“
Realisieren:
Heinz Feldmann lebt in Wien, in einem von ihm mitbegründeten gemeinschaftlichen Wohnprojekt. Im früheren Leben hat er viel Geld verdient und war ein Hedonist; in der zweiten Lebenshälfte hat er die Gemeinwohlökonomie entdeckt und vor allem das gemeinschaftliche Leben als enkeltaugliches Lebensmodell. Sein Nachschlagewerk eignet sich für jede und jeden, die tiefer einsteigen und selbst ein Wohnprojekt gründen wollen. Die Tipps sind umfangreich (Clusterwohnung oder Baugemeinschaft?) und praxisnah (Bankdarlehen und Mietenkalkulation). Alles keine leichte Lektüre, zudem der Aufbau des Buches mit Kapitel, Unterkapitel usw. fast schon an eine Dissertation erinnert und einige Texte zu langatmig wirken. Aber immer wieder gibt es viel Lebenspraxis, so dass ich hängengeblieben bin und viel lernen konnte. Hinzu kommen eingebaute Interviews, zum Beispiel mit einem Bankenberater der GLS Bank zur Illusion, dass gemeinschaftliches Bauen immer auch gleich billiger sei... ist es eben nicht immer. Im ganzen Buch verteilt finden sich QR-Codes, hinter denen sich dann z.B. das ganze Interview im O-Ton oder auch weitere Infos zu angesprochenen Rechtsformen, Fachbegriffen verstecken. Sie verweisen auf die gleichnamige Webseite. Auch dieses Buch lässt sich gut in Abschnitten lesen. Ein Handbuch. Wie der Titel es sagt.
Oder ganz anders...
Lars Reichardt will keine Wohnprojekt gründen und gibt auch keine Tipps zum Gespräch bei der Bank. Er ist auf der Suche, nach einem Zimmer, einer Heimat, kurz: seinem eigenen Leben. Zurzeit lebt der Redakteur der Süddeutschen Zeitung in einer Zweck-WG, doch das war nicht eingeplant. Eines Tages war die Frau weg, die Kinder ausgezogen und Reichardt blieb zurück, allein in einem Reihenhaus in einem eher bürgerlichen Viertel in München. Was tun? Allein leben ist blöd; zu teuer, und wer holt die Zeitung rein, wenn der Hausbesitzer im Urlaub ist? Also nimmt er Menschen auf, Fremde, die er nicht kennt. Darüber erzählt er im Buch, amüsant und aufschlussreich. Dazu geht er auf Reisen; er besucht in Umbrien "Utopiaggia", eine Lebensgemeinschaft, die sich egalitär und ökologisch organisiert. Zeitweise zieht er zum über 80jährigen Vater eines guten Freundes. Und immer wieder lässt er plaudernd eingestreut auch Expert*innen zu Wort kommen. Deutschland wohl berühmtester Paartherapeut Wolfgang Schmidtbauer beispielsweise gibt Auskunft darüber, warum es außerordentlich sinnvoll für guten Sex in einer Langzeitbeziehung sei, wenn die zwei Liebenden eben nicht in einer gemeinsamen Wohnung leben würden
Nach all den praktischen Tipps in den beiden Handbüchern liest sich dieses Buch eher wie eine Sahneschnitte; einige Texte waren mir schon aus der Zeitung bekannt, doch in diesem Kontext ergeben sie einen neuen Sinn. Es geht nämlich vor allem anderen um die Freiheit im Kopf. Wie sagte es der Autor (und studierte Philosoph) in einem Radio-Interview zum Buch: Die Texte seien Selbstgespräche mit sich selbst. Während der Recherche und des Schreibens habe er seine Angst abgelegt, sei mutiger geworden, was die eigene Zukunft beträfe. Wer anders leben will, muss zuallererst sich selbst ändern, freier werden; eng gesetzte Vorstellungen, wie etwas zu sein hat, über Bord werfen und ausprobieren, viel ausprobieren. Wo ist das eigene Zuhause? Da wo die Menschen sind, die er liebt, wo es vielleicht ein paar vertraute Bücher, das eine oder andere mitgenommen Möbel gibt. "Ich liebe mein Zuhause, und ich habe keine Angst mehr vor einem Umzug", schreibt Reichardt am Ende des Buches. "Mein Zuhause ist ohnehin ständig woanders."
Schöne Koinzidenz!
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Liebe Dorothea,
welch eine schöne Koinzidenz, dass Du gerade jetzt Anfang Mai die Bücher von Heinz und mir in einem Artikel rezensierst. Wir haben uns über die Arbeit an unseren Büchern kennen- und schätzengelernt, und bieten jetzt - in einer Woche - erstmalig ein Seminar zusammen an. Ein Seminar mit der Überschrift "Wir sind doch alle gleich!?" zum spannenden Thema "Macht in hierarchiefreien Projekten". Denn viele Konflikte gibt es in Wohnprojekten rund um das Thema "Gestaltungsmacht". Wir gründen diese Projekte, weil wir selbstbestimmt leben wollen und unser Umfeld gestalten wollen - und dann stellen wir irgendwann fest, dass nicht immer alle das gleiche wollen. Schnell kommen dann "Machtvorwürfe" ins Spiel. Wie können wir konstruktiv damit umgehen, dass Menschen unterschiedlich sind? Wir haben festgestellt: Das Thema "Macht" ausklammern, weil nicht sein darf, was nicht sein soll, funktioniert nicht! Wir suchen nach einem gesunden Umgang mit dem Thema, in dem möglichst viele Menschen "empowert" - in ihre Kraft gebracht - werden. Es sind noch ein paar Plätze frei!
https://booking.seminardesk.de/de/siebenlinden/a320a8d4dac148bd88a1ab2d85a061d2/wir-sind-doch-alle-