Wie erleben Sie als Fachärztin für Psychiatrie Menschen, die einen Suizidversuch überlebt haben?
Barbara Schneider: Viele sind sehr froh, dass sie noch leben. Sie berichten, dass sie in der Phase der Suizidalität wie ein anderer Mensch waren. Sie konnten ihre Suizidgedanken nicht mehr kontrollieren, die waren so stark, dass sie es wie eine Art Zwang empfanden, sich das Leben zu nehmen.
Erinnern Sie sich an ein Beispiel?
Mir fällt spontan ein sehr eindrucksvolles Beispiel eines sehr reflektierten Patienten ein. Als Kind fand er seinen Vater, der sich erhängt hatte. Er nahm sich für sein eigenes Leben vor, dass er immer um Hilfe bitten würde, sollte es ihm einmal schlecht gehen. Uns erzählte er, dass er leider sehr schnell in einen Zustand kommen könne, in dem er es eben nicht mehr schaffe, sich Hilfe zu holen.
Barbara Schneider
Weil er eine Art Tunnelblick hat?
Ja, es hatte kein anderer Gedanken mehr Platz in seinem Kopf. Außer dem Gedanken, so nicht mehr weiterleben zu wollen.
Passiert das auch Menschen, die mit beiden Beinen im Leben stehen?
Ja, das kann uns alle betreffen. Es kann auch sein, dass Außenstehende denken: "Das ist doch nicht schlimm, was hat er nur?" Aber die betroffene Person denkt: "Ich kann so nicht mehr weiterleben." Das Wort "so" ist sehr wichtig.
Warum?
Wer suizidal ist, will nicht sterben - aber eben auch nicht so weiterleben. Die Lebensumstände sind unerträglich. Was das genau bedeutet, kann für jeden von uns komplett unterschiedlich sein.
Zum Beispiel: Jemand verliert seinen Arbeitsplatz – und wir Außenstehenden denken: Bewirb dich doch für einen neuen Job, ist doch keine Katastrophe …
Genau. Aber der Mensch, der seine Arbeit verloren hat, denkt: "So geht es nicht weiter, ich habe alle Chancen vertan." Oft zieht es sich wie ein roter Faden durchs Leben, worauf wir besonders empfindlich reagieren.
Wissen Sie aus der Forschung, ob Menschen mit psychischen Erkrankungen besonders gefährdet sind, in gefährliche Phasen abzurutschen?
Menschen, die psychische Erkrankungen haben, haben auch ein höheres Suizidrisiko. Unter denen, die durch einen Suizid verstorben sind, litten 30 Prozent an einer Depression. Etwa 20 Prozent waren suchtkrank. Nur ganz wenige waren schizophren oder litten an einer Persönlichkeitsstörung. Aber Vorsicht, es gibt da einen Mythos.
Und der wäre?
Dass Suizidalität damit gleichzusetzen sei, psychisch krank zu sein. Und das ist falsch! Was stimmt: Menschen, die suizidal sind, befinden sich in einer Krise. Und Krisen können leider sehr lang andauern. Aber das heißt nicht, dass diese Menschen psychisch krank sein müssen. Und dann gibt es noch ein Vorurteil, das sich hartnäckig hält.
Welches?
Wer einmal suizidgefährdet war, bleibt ein Leben lang gefährdet. Auch das stimmt so pauschal nicht. Viele Menschen, die einen Versuch überleben, denken nie wieder daran, sich das Leben zu nehmen. Wir wissen: Von 100 Menschen, die einen Suizidversuch hinter sich haben, unternehmen in den folgenden zehn Jahren 28 einen erneuten Suizidversuch. Das heißt im Umkehrschluss: 70 von 100 versuchen es eben nicht!
Wie kann man dann überhaupt wissen, ob ein Mensch wirklich sterben möchte? Denn bei der Debatte um den assistierten Suizid soll – je nach Gesetzentwurf – ein Arzt oder eine Beraterin ja genau das beurteilen.
Grundsätzlich gehören zur Suizidalität zwei Begriffe. Der eine ist die Unbestimmtheit, die Volatilität eines Suizidwunsches. Und der zweite Begriff ist die Ambivalenz, so nicht mehr weiterleben zu wollen.
"Wie gefestigt der Wunsch zu sterben ist, kann man mit einer einmaligen Untersuchung nicht feststellen"
Das müssen Sie bitte erklären!
Suizidalität ist unbeständig. Wirklich lebensgefährliche Phasen bestehen oft nur für eine kurze Zeit. Und Ambivalenz bedeutet: Menschen schwanken immer hin und her zwischen zwei Polen: so nicht weiterleben zu können und nicht sterben zu wollen. Um Ihre Frage zu beantworten: Wie gefestigt der Wunsch zu sterben ist, kann man mit einer einmaligen Untersuchung nicht feststellen. So sehe ich das.
Angenommen, jemand berichtet von Suizidgedanken. Was kann ich tun?
Zuhören, für den anderen da sein und eine Beziehung aufzubauen, um herauszufinden, ob derjenige akut suizidgefährdet ist. Dann wäre es wichtig, diesem Menschen schnellstmöglich zu helfen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es gibt sogenannte Gatekeeper, denen dafür eine wichtige Rolle zukommt.
Wen haben Sie vor Augen?
Zum Beispiel den Gastwirt im Thüringer Wald oder in der Eifel, zu dem einmal in der Woche ein älterer, allein lebender Mann kommt, der sonst niemanden hat. Friseurinnen sind ein anderes Beispiel, denn sie gehören oft zu den letzten Kontakten, die noch übriggeblieben sind. Auch Pfarrerinnen und Pfarrer sind Gatekeeper.
Wer dafür ist, die Regelungen zum assistierten Suizid liberal zu gestalten, argumentiert oft: Dadurch würden Brutalsuizide vermieden, zu denen auch der Sprung vor einen Zug gehört. Was meinen Sie?
Das ist nicht so. Wir wissen, dass es in Ländern mit liberalen Regelungen nicht zu einer Abnahme von Brutalsuiziden gekommen ist. Im Gegenteil, sie nehmen sogar noch zu.
Je einfacher der Weg zum assistierten Suizid ist, desto mehr Menschen lassen sich zu Tode bringen?
Ja, das sehen wir in allen Ländern. In den Niederlanden zum Beispiel versterben rund fünf Prozent der Menschen durch assistierten Suizid oder Tötung auf Verlangen. Die Tötung auf Verlangen ist in Deutschland verboten.
Wenn Suizidwillige – wie in den Niederlanden – relativ leicht an tödlich wirkende Mittel kommen, warum setzen dann dennoch mehr Menschen mit einem Brutalsuizid ihrem Leben ein Ende? Welche Erklärung gibt es dafür?
Das ist nicht untersucht. Ein Grund könnte möglicherweise eine Veränderung der Haltung zur Selbsttötung in der Gesellschaft sein.
Was brauchen Sie, um Suizide zu verhindern?
Wir haben als Nationales Suizidpräventionsprogramm über vier Jahre einen Bericht verfasst, es sind Überlegungen von fast 1000 Menschen eingeflossen. Insgesamt sind wir in Deutschland gut aufstellt, auch mit dem Nationalen Suizidpräventionsprogramm. Aber es gibt noch viel zu tun.
Was heißt das?
Andere Länder in Europa investieren mehr Geld. In Deutschland tragen überwiegend Ehrenamtliche die Suizidprävention – oder Menschen in befristeten Projekten. Wir müssen diese Arbeit dauerhaft sichern. Den Hospiz- und Palliativbereich sollten wir weiter stärken. Gut wäre eine bundesweite Informationsstelle zur Suizidprävention für Fachleute, Betroffene und auch Angehörige von Menschen, die Suizidgedanken haben – dasselbe muss es vor Ort geben. Gut wären auch mobile Beratungen und Angebote gezielt für Männer. Frauen sind viel aufgeschlossener, sich Hilfe zu suchen.
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Ein wichtiger Hinweis, liebe Leserinnen und Leser:
Wenn Ihre Gedanken darum kreisen, sich das Leben zu nehmen, bietet die Telefonseelsorge Hilfe. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222. Auch eine Beratung über E-Mail ist möglich. Eine Liste mit Hilfsstellen findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention unter www.suizidprophylaxe.de
Brutalere Suizide
Üble Zustände in "Pflegeheimen", Krankenhäuser und ..., weil die "Ökonomie" der "freiheitlich"-wettbewerbsbedingten Symptomatik wichtiger als alles andere ist, da ist es doch weder Wunder noch Phänomen, wenn man sicher sein will tot zu sein.
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Sanfte Verhältnisse, brutale Suizide?
Werter Herr Horst O., Ihren zutreffenden und angenehm pointiert formulierten Gedanken möchte ich noch weiter ausführen. Wer sich vor den Zug schmeißt und dadurch dem Lokführer ein Erlebnis zumutet, das dem vielleicht die weitere Ausübung seines Berufes unmöglich macht, begeht eine brutale Tat. Das stimmt schon.
Als keineswegs brutal gilt jedoch, wenn Interviewer und Interviewte folgende Zeilen zustande bringen, ohne mit der Wimper zu zucken:
"Zum Beispiel: Jemand verliert seinen Arbeitsplatz – und wir Außenstehenden denken: Bewirb dich doch für einen neuen Job, ist doch keine Katastrophe …
Genau. Aber der Mensch, der seine Arbeit verloren hat, denkt: "So geht es nicht weiter, ich habe alle Chancen vertan." "
Da "verliert" also einer seinen Job. Klingt so, als habe einer aus Unaufmerksamkeit sein Taschentuch oder seinen Geldbeutel verloren. Nein, der Typ hat überhaupt nichts verloren. Dem wurde gekündigt. Von seinem Arbeitgeber. Und der hat gekündigt, weil ohne diesen Arbeitnehmer der Geschäftserfolg besser ausfällt als mit ihm. Der Rausschmeißer schmeißt also nicht raus, weil er moralisch nicht ganz sauber wäre - so argumentieren fälschlicherweise oft links angehauchte Moralisten - und er schmeißt auch nicht raus, weil die Kapitalseite wieder mal tüchtig in betriebswirtschaftlichen Entscheidungen gepatzt habe - so argumentieren fälschlicherweise oft die Gewerkschaften. Nein, die Kündigung erfolgt, weil die demokratisch betreute soziale Marktwirtschaft diese Kündigung erforderlich macht.
Und was denkt sich der Gekündigte? "Ich habe alle Chancen vertan". Er sucht die Schuld bei sich, obwohl er schlichtes Würstchen und Objekt fremder Interessen ist. Zu diesem Denkfehler haben ihm die ideologischen Betreuer dieser Gesellschaft (Lehrer, Psychologen, Journalisten, Pfarrer, Sozialwissenschaftler usw.) durch ihr unermüdliches Schaffen verholfen.
Und was macht der Staat? Der schafft und erhält aufrecht mit seiner Staatsgewalt die Verhältnisse, die mancher eben nicht mehr ertragen will und kann. Und als Krönung des Ganzen ernennt er die Friseuse - natürlich nur, solange die nicht selber rausgeflogen ist - zum gatekeeper und legt diverse "Präventionsprojekte" auf. Deren Inhalt lautet: "Verzichtet bitte auf den Suizid und ertragt alles lebend, was ich euch zumute. Herr Nachbar und Frau Nachbarin können es schließlich auch." Diesen Staatszynismus erkennen die lieben Zeitgenossen leider nicht als Zynismus.
Friedrich Feger
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Beitrag Assistierter Suizid
Ich bin der Meinung, wie viele Fachärzte und Psychologen, daß die Tabuisierung des Suizids oder der Absichten, diese tragische Überlegung oder Durchführung, enorm verschärft. Es wird kaum etwas in den Medien publiziert, der Nachahmungseffekt wäre zu groß. Das wirft einen düsteren Schatten auf Menschen, welche keinen Ausweg mehr sehen. Nur Aufklärung und Akzeptanz kann Menschen helfen, die nur noch Suizid als ErLösung sehen. In der medizinischen Versorgung: Niemand hat Zeit. Termine bei Psychotherapeuten gibt es nicht. Das Tabu in der Gesellschaft und Presse muß endlich aufgelöst werden. Die verwitwete Ehefrau von Robert Enke hat es richtig gemacht. Aber nicht jeder kann im Rahmen einer Stiftung an die Öffentlichkeit gehen. So viele Jugendliche begehen Suizid und keiner hat etwas gemerkt, niemand hatte damit gerechnet. Eine Ursache darinsehe ich in der Tabuisierung. Aber auch viele Menschen möchten aus verschiedenen Gründen nicht mehr leben. Das ist zu akzeptieren.
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