Bahnreisende am Ticketautomat
BERLIN, GERMANY - JUNE 01: Travellers from out of town purchase the new 9 Euro monthly rail ticket of German state railways Deutsche Bahn at Hauptbahnhof main railway station on June 01, 2022 in Berlin, Germany. The 9 Euro ticket, valid on local and regional subways and trains nationwide for one month, will run from June through August. The ticket is an effort by the federal government to both promote public transportation over personal car use as well as to relieve commuters in this current time of skyrocketing inflation. (Photo by Sean Gallup/Getty Images)
Sean Gallup/Getty Images
Macht das Reisen mit "den Öffis" einfach!
Überfüllte Züge, defekte Anlagen, kranke Mitarbeiter: So haben viele die Bahn erlebt, als es das 9-Euro-Ticket gab. Trotzdem habe ich in den letzten drei Monaten das Reisen mit dem Zug schätzen gelernt. Eine Richtigstellung.
Tim Wegner
26.08.2022

Am Donnerstag ist Schluss, dann gibt es kein 9-Euro-Ticket mehr. Als es Anfang Juni eingeführt wurde, war ich sehr skeptisch. Das günstige Angebot sei mit der heißen Nadel gestrickt, es fehle die Idee, wie wir als Gesellschaft in Zukunft umweltverträglich unterwegs sein könnten – und: "Wer sich ein 9-Euro-Ticket kauft, wird den Nahverkehr als das erleben, was er schon vor dem heutigen Tage war: defizitär, sanierungsbedürftig, verspätet, überfüllt und überfordert."

Tim Wegner

Nils Husmann

Nils Husmann ist Redakteur und interessiert sich besonders für die Themen Umwelt, Klimakrise und Energiewende. Er studierte Politikwissenschaft und Journalistik an der Uni Leipzig und in Växjö, Schweden. Nach dem Volontariat 2003 bis 2005 bei der "Leipziger Volkszeitung" kam er zu chrismon.

Ja, diese Erfahrung haben sicher viele gemacht, in alten, überfüllten und verspäteten Zügen gesessen. Sie auch? Trotz auch schlechter Reiseverläufe gebe ich ein Vierteljahr später gern zu, dass ich mich damals, am 1. Juni, auch gründlich geirrt habe. Denn das 9-Euro-Ticket war ein Erfolg. Es hat Menschen mobil gemacht, die es vorher nicht waren. Eine Frau sagte jüngst im Deutschlandfunk: "Ich kann meine Bekannten, meine Mutter besser besuchen. Ich werde immer älter. Ich habe es mit dem Fahrrad versucht. Funktioniert nicht mehr so gut. Ich bin dafür so dankbar. Ich bin viel beweglicher und hocke nicht immer nur zu Hause." (Sie sagt das ab 1 Minute und 15 Sekunden, aber der Beitrag ist in voller Länge sehr hörenswert.)

Deutschlandweit wurden rund 38 Millionen Tickets verkauft. Was für eine gute und schöne Nachricht, was für ein Erfolg der oft gescholtenen Politik in diesen schwierigen Zeiten! Es kann sich also lohnen, mutig Entscheidungen zu treffen und einfach mal etwas Neues zu probieren – ja, zu riskieren.

Ich habe das Ticket auch selbst genutzt, bin mit meiner Tochter zum Wandern in den Odenwald gefahren. 800 Meter zur U-Bahn und von dort aus konnten wir zwei Tage lang ein und dasselbe Ticket nutzen. Herrlich! Endlich musste ich nicht mehr umständlich den genauen Zielort der Reise aussuchen, um das richtige Tarifgebiet anzusteuern. Bald wird es anders sein: Fahre ich nach Frankfurt in die Innenstadt, kostet mich die Einzelfahrt 2,85 Euro. Fahre ich in die Nachbarstadt, die in einem anderen Landkreis, aber doch deutlich näher liegt, wären es 4,60 Euro. Wo ist da die Logik?

Viele Menschen fahren Auto – und daran hat das 9-Euro-Ticket leider auch kaum etwas geändert –, weil es (angeblich) so bequem und einfach sei. Und wenn die Verkehrswende weg vom umwelt- und klimafeindlichen Individualverkehr hin zum öffentlichen Nah- und Fernverkehr gelingen soll, dann sollte doch das bitte unsere Lehre aus den vergangenen drei Monaten sein: Macht das Reisen mit "den Öffis" doch bitte einfach!

Irrtümer sind gut, wir lernen daraus

Heute ärgere ich mich, dass ich diesen Aspekt bei meinem Kommentar nicht vorhergesehen habe. Aber Irrtümer sind gut, wir lernen daraus. Für Politikerinnen und Politiker sollte eine Lehre auch unbedingt darin bestehen: Seid mutig, trefft Entscheidungen, vielleicht auch auf Zeit – die Vorteile dessen, was vorher undenkbar oder verrückt erschien, sehen wir erst, wenn wir neue Wege auch mal beschreiten. Ich bin sicher, auch ein Tempolimit auf Autobahnen würde viele überzeugen, wenn man es für ein Probejahr einführte.

In anderen Punkten hätte ich mich gern geirrt: "Die Ampelkoalition hat keine Idee, wie wir in Zukunft mobil sein können." Das stimmt leider immer noch. Jedenfalls keine gemeinsame. Schon im Juni lagen die Vorteile des 9-Euro-Tickets auf der Hand. Aber einen Nachfolger gibt es nicht. Stattdessen Parteiengezänk. Ätzend. Mein kleiner Sohn will mit mir auch im Odenwald wandern, aber ich weiß jetzt schon: Nächstes Mal wird es wieder kompliziert.

Und ja, der öffentliche Verkehr ist teuer, kostet Geld, braucht Geld. Über Jahre wurde er kaputtgespart. Der Fahrgastverband Pro Bahn rechnet vor: In Deutschland geben wir 130 Euro pro Jahr und Einwohner für die Bahn aus – aber in der Schweiz ist es fast viermal so viel. Ein Freund von mir schickte mir diese Woche ein Foto aus einem ICE. Die digitale Anzeige für die Wagennummer war kaputt; ich vermute, Beschäftigte hatten eine "4" auf den Bildschirm geritzt.

Den Bahnbeschäftigten gegenüber ist es unwürdig, dergestalt improvisieren zu müssen. Aber auch uns allen gegenüber, als Land. Wir könnten es besser, wir sind lernfähig, das hat das 9-Euro-Ticket gezeigt.

Danke dafür! Es war eine schöne Zeit.

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Klar, billig wird vermisst. Vorher Reise nur Urlaub, Verwandte, Beruf. Mit 9 € dann auch zusätzlich Zeitvertreib und für 12 Stunden Shopping in München. Für 9 € die Züge überfüllt, Bahn und Personal verteufelt und keine Fahrradtour gemacht. Dafür "lecker" CO2 verpulvert und von Gruppen auch die Bahn demoliert. Jetzt ist Ende eines mobiles Konsumrecht für immer? Wahlkampf: Hartz4 auf der Schiene für alle. Die Wähler wurden angefüttert. Auch wenn sie gar keinen Bedarf haben. Weil auf dem Lande nicht alle Ziele mit der Bahn erreichbar sind, auch 9 € für Taxis und Fahrradverleih. Eine gesellschaftliche Totalalimentation.

Antwort auf von Olexio (nicht registriert)

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Leider sind die 9 € kontraproduktiv. Die Leute sollten vom PKW auf die Bahn wechseln. Vereinzelt ist das sicher getan worden. Aber dann kam der SPRIT-Nachlass, der das viele fahren wieder billiger machte. Erst sich klammheimlich freuen, dass der hohe Spritpreis zu weniger CO2 führt und dann die Steuer ermäßigen, damit wieder billiger gefahren werden kann. Da tat die linke Hand das Gegenteil der rechten Hand. Und dann haben absichtlich die 9 € boch dazu verführt, Reisen zu machen, die man normalerweise gar nicht machen würde. Für 12 Stunden zum 9 €-Shopping nach München und spart dann auch noch das Parkhaus. Auch die Busse und U-Bahnen sind gratis. Den Ärger mit der Bahn gab es gratis dazu. Der Nachlass wird jetzt als Besitzstand reklamiert, so das der böse ist, der die Vergünstigungen künftig vorenthält.

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Bei mir dauerte es etwas, bis ich begriff, dass das 9 Euro Ticket kein Tagesticket sein sollte, was für deutschlandweite Reisen mit ÖPNV auch spottbillig gewesen wäre, weil dieses in einigen Tarifverbunden schon lange deutlich mehr kostet. Deshalb finde ich, auch ein Monatsticket für 50 Euro, ermäßigt für Schülerinnen, Studenten, Alg-Ii Empfangende,... auf 30 Euro und deutschlandweit einheitlich gültig, wäre dauerhaft ein Schnäppchen, leistbar und würde bei entsprechender Nutzung auch für die Bahn sich mehr rechnen als ein 9 Euro Ticket. Es hilft auch gegen den Tarifdschungel und schwarzfahren aus Unwissenheit oder Überforderung. Dass das Modell dieses Sommers rechnerisch nicht haltbar ist, dafür brauchts kein BWL-Studium. Und der Tankrabatt muss weg bleiben. Dann könnte es m. E. wirklich was bewegen. Ein Fahrrad muss mitgenommen werden dürfen für 9 Extra-Euro im Monat. Und Fahrradwege entlang von geraden Bundesstraßen müssen dringend gebaut werden, damit man auf kürzestem Weg von a nach b und zum nächsten Bahnhof kommt. abschließbare, videoüberwachte Fahrradboxen an Bahnhöfen müssen dazu kommen, damit man auch das E-Bike dort lassen kann ohne Sorge, dass es abhanden kommt. SEV Busse brauchen standardmäßig Fahrradträger damit man auch mit Fahrrad weiterkommt zum nächsten Anschluss. So konnten wir der Verkehrswende auch auf dem Land ineinen Schritt näher kommen.