Rote Lippen für die Würde
Warum wollen ukrainische Geflüchtete wissen, wie man sich die Nägel macht? Warum schminken sich Reporterinnen in Kriegsgebieten? Wer solche Fragen stellt, hat nie Krieg oder Bombardement erlebt.
Tim Wegner
27.07.2022

Auf einer Journalistinnen­tagung berichtete eine Kollegin von ihrem Ratgeber­portal im Internet für ukrainische Geflüchtete. Die wichtigste Frage im Forum laute: "Wie mache ich mir in Deutschland die Nägel?" Ich zuckte kurz zusammen und erinnerte mich, dass auch meine ukrainischen Gäste als Erstes nicht etwa nach Wörterbuch oder Wintermantel fragten, sondern: Können wir einen ­zweiten Wand­spiegel bekommen?

Tim Wegner

Ursula Ott

Ursula Ott ist Chefredakteurin von chrismon und der digitalen Kommunikation im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik gGmbH. Sie studierte Diplom-Journalistik in München und Paris und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Sie arbeitete als Gerichtsreporterin bei der "Frankfurter Rundschau", als Redakteurin bei "Emma", als Autorin und Kolumnistin bei der "Woche", bei der "Brigitte" und bei "Sonntag aktuell" sowie als freie Autorin für Radio und Fernsehen. 2020 und 2021 wurde sie unter die 10 besten Chefredakteur*innen des Jahres gewählt. 2019 schrieb sie den Bestseller "Das Haus meiner Eltern hat viele Räume. Vom Loslassen, Ausräumen und Bewahren".

Gibts denn nichts Wichtigeres als das Aussehen? Wer solche Fragen stellt, habe nie Krieg oder Bombardement erlebt, sagt die bosnische Journalistin Samra Lučkin. Und ihre Kollegin ­Senka Kurtović, die in Sarajevo stets mit ­perfekter Frisur die berüchtigte "Allee der Scharfschützen" entlangging, ­ergänzt: "Schminken war Pflicht, jedes Mal so, als ob es das letzte Mal sein würde." ­Diese Sätze ­stehen in dem Buch "Ein Hauch von Lippenstift für die Würde. Weiblichkeit in Zeichen großer Not". Nobelpreis­trägerin Herta Müller beschreibt darin, wie sie gestylt zum Verhör der ­Securitate ging: "Ich wusste, wenn ich mich nicht mehr schminke, dann habe ich mich aufgegeben."

Es stimmt: Ich habe nie Krieg und Bombardement erlebt. Ich kann es nicht nachfühlen. Was ich kann: zuhören. Über die Schlichtheit meiner Vorurteile nachdenken. Und mich ­weiter für den Wahnsinn von Krieg und Flucht interessieren. ­Darüber bloggt auf chrismon.de übrigens sehr anrührend die afghani­sche Frauenrechtlerin Tahora Husaini. Bleiben auch Sie interessiert!

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.
Permalink

Liebe Ursula Ott,

ich, 76, bin immer so sehr einverstanden mit ihren Begrüßungen in Chrismon. Den Satz "Über die Schlichtheit meiner Vorurteile nachdenken" sollte ich an meinen (Schmink)-Spiegel pinnen.
Ich habe eine Freundin, die in unserer Kleinstadt mit ihren immer rot geschminkten Lippen auffiel. Ich selbst habe übrigens damit angefangen, als unser erstes Enkelkind geboren war. Ich fand, ich wäre ein erfreulicherer Anblick für ihn...
Mit herzlichen Grüßen

Permalink

Sehr geehrte Frau Ott,
in Ihrem Leitartikel lese ich von einer „Journalistinnentagung“. Nun frage ich mich, ob es sich dabei um ein bewusst gewähltes „generisches Femininum“ handelt oder ob es eine solche Tagung, bei der nur Frauen zugelassen sind, tatsächlich gibt.
Für Aufklärung wäre ich dankbar.
Mit freundlichen Grüßen
Georg Paulus

Permalink

Sehr geehrte Frau Ott
Ihr Leitartikel „Rote Lippen für die Würde“ hat meinen Blickwinkel auf die ukrainischen jungen Mütter und Frauen erweitert!
Mir war in den Bildern der Medien das sehr gepflegte Äußere (Garderobe und Male Up) und meistens mit großer, dunkler Sonnenbrille im Haar der geflüchteten Frauen, aufgefallen. Der Gegensatz dazu waren die Bilder der zurückgebliebenen alten Frauen.

Dieser Eindruck verstärkte meine Meinung einer übertriebenen Eitelkeit, wie man es in den sozialen Medien Instergram und Co findet.
Das dieses tiefe Bedürfnis sich nur geschminkt in der Öffentlichkeit zu bewegen, selbst auf der Flucht vor Krieg und Zerstörung, konnte ich mir bisher nicht vorstellen.
Ihr Blickwinkel ist mir neu.
--
Mit freundlichen Grüßen

J. G. H. Davenport

Permalink

Reumütig bekennt Ursula Ott in Chrismon 08.2022 die "Schlichtheit" ihrer Vorurteile, die sie gegenüber ukrainischen Gästen gehegt habe, als diese nach Wandspiegeln und Nagelstudios gefragt hätten, als ob es "nichts Wichtigeres" gäbe. Was aber für Herta Müller ein letztes Mittel gewesen sein mag, Würde gegenüber dem Terror der Securitate zu bewahren, soll auch hierzulande noch gelten? In der Bundesrepublik des Jahres 2022? Durch solch eine problematische Argumentation, die sich auf Analogien und Gewährsleute beruft, wird unser demokratischer Staat in fahrlässiger Weise in ein schlechtes Licht gerückt. Dabei wäre die Zurückweisung der Empörung über die Eitelkeit der geflüchteten Frauen so einfach, haben doch rote Lippen und Krieg bzw. Terror nichts miteinander zu tun. Hier handelt es sich um einen Sein-Sollen-Fehlschluss, wonach sich aus einer Tatsache (es ist Krieg) logischer Weise keine moralische Forderung (also darfst du dir die Lippen nicht rot anmalen) ableiten lässt.
Winfried Harst

Permalink

Liebe Frau Ott,

seitdem ich die Chrismon aus dem Kölner Stadtanzeiger kenne, lese ich sie. Eigentlich immer jeden einzelnen Artikel.

Ich finde die Herangehensweise an Alltags- aber auch Nieschenthemen so erfrischend, die Verknüpfung von modernem Christentum, Spiritualität mit Themen der Kommunikation und einfach der Umgang im täglichen Leben mit alltäglichen Fragen außergewöhnlich und sehr inspirierend.

Danke für die tollen Impulse, die schlichte Art, über Dinge zu sprechen ohne sie in Schubladen zu verstauen.
Für mich ist die Chrismon eine Bereicherung.

Herzliche Grüße,

Permalink

Sehr geehrte Frau Ott,
Fast mein ganzes Leben lang, ging ich mit meinen Eltern durch die "Kriegshölle". Geboren 1920 und 1921 waren sie sehr schwer kriegstraumatisiert gewesen. Es gab keinen Tag, an dem sie mir nicht diese Hölle schilderten.

Nach dem Tod meiner Eltern "rettete" ich dieses geschundene Leben, anhand vieler Dokumente, zu Ehren aller Menschen, denen dies nicht möglich war.

Als Ehrenamtliche verdiene ich nichts an meinen "Dokumentenbüchern" und stelle, als Umwelt- und Friedenskünstlerin meine Werke auf Facebook vor.

Doch eines muss ich, unbedingt, richtigstellen: Rote Lippen für die Würde? Wahrscheinlich ist dies "me too" geschuldet.
Jedenfalls weiß ich genau, wie meine Oma und Mama dies schilderten:
"Jeden Tag konnten wir vor Angst nicht schlafen. Wir zitterten in unseren Kellerverstecken vor Angst, vergewaltigt zu werden. Von 1945 bis 1948 zogen russische Soldatenhorden durch unser Städtchen. Obwohl wir zwei hübsche Mädchen waren, mussten wir uns verunstalten - struppige Haare, schmutzige Gesichter - ich denke, dass uns diese Verunstaltung vor einer Vergewaltigung rettete." (Mama schämte sich sehr und gestand mir diese Tatsche nur, weil ich danach gefragt hatte...)
Wir fragen uns heute, warum es, immer wieder, Kriege gibt. Ganz einfach - es wird immer wieder vergessen, wie es wirklich war...
Meine Oma, meine Tante und meine Mama waren Kämpferinnen. Niemals hätten sie sich für Vergewaltiger auch noch schön gemacht. Grausen sollte es diesen Barbaren vor ihnen...
Auf Facebook erreiche ich viele Menschen und werde niemals aufhören zu berichtigen wie es wirklich gewesen war...
Herzliche Grüße,
Moni Bachmann-Wagner

Permalink

Beim Lesen Ihrer Geschichte musste ich an etwas denken, was ich in Ian Burumas "45. Die Welt am Wendepunkt" gelesen habe. Er erzählt, dass in Bergen-Belsen nach der Befreiung irrtümlicherweise statt Lebensmitteln eine Kiste Lippenstifte geliefert wurde. Die Frauen haben sofort wieder angefangen, sich zu Schminken, obwohl sie kaum Kleider am Leib hatten - ein Sanitätsoffizier berichtete in seinen Erinnerungen, dass er den Eindruck hatte, diese Lippenstifte seien ein Segen für diese Frauen gewesen.

Herzliche Grüße
von Armin Pöhlmann aus Eisenach.