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Evangelisch gegen Antisemitismus
Wer über Antisemitismus spricht, sollte sich selbst immer mitmeinen. Man muss sich auch über sich selbst und die eigenen Abgründe klar werden. Dabei hilft eine aufgeklärt-christliche Grundhaltung – im Unterschied zu einem Para-Glauben oder einem religionslosen Säkularismus, sagt eine aktuelle Studie.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
23.06.2022

Auf der Documenta bin ich noch nicht gewesen. Ich verfolge zurzeit nur die heftige Diskussion, die über sie geführt wird. Dabei fällt mir auf, wie schwer es Menschen aus dem Kunstmilieu und mit einer eher linksliberalen Grundeinstellung fällt, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, man könne selbst etwas mit Antisemitismus zu tun haben. Obwohl doch mit Händen zu greifen ist, dass es auch einen linken Antisemitismus gegen Israel gibt.

Als Protestant hatte man in den vergangenen Jahrzehnten viel Anlass und Gelegenheit, die menschenfeindlichen Abgründe der eigenen Prägung zu bedenken und sich von ihnen zu entfernen. Kaum ein Thema ist im deutschen Protestantismus so intensiv diskutiert worden wie die antisemitischen Tendenzen der eigenen Tradition. Das war (und ist) sehr notwendig. Aber hat es eigentlich etwas gebracht?

Vor kurzem ist eine Studie über Kirche und politische Kultur veröffentlicht worden. Sie trägt den Titel „Zwischen Nächstenliebe und Abgrenzung“ und hat untersucht, welche Verbindungen es zwischen religiösen und politischen Einstellungen gibt. Sie ist nicht eben leichtfüßig geschrieben, hält aber interessante Erkenntnisse bereit. Zum einen zeigt sie, dass Kirchenmitglieder auch nur Menschen sind, die wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger dieses Landes Vorurteile und problematische Ansichten haben können. Wer hätte etwas anderes vermutet?

Andererseits zeigt die Studie, dass es doch einen Unterschied macht, was für eine Lebensposition man hat. So ließ sich ein deutlicher Zusammenhang von Paraglaube (Esoterik) und Verschwörungsmentalität und damit auch Antisemitismus nachweisen. Ebenfalls ließ sich nachweisen, dass keine Religion zu haben, auch keine Lösung sein muss. Denn auch bei dem, was die Studie „Säkularismus“ nennt, ließen sich vorurteilstreibende Effekte feststellen (man denke nur an die Ost-AfD oder an Documenta-Aktivisten). Eine allzu starke christliche Orientierung, eine „Monoreligion“, kann allerdings ebenfalls problematisch werden, weil sie zu stark auf Abgrenzung und Abwertung anderer ausgerichtet ist. Am sinnvollsten, so die Studie, ist eine „Transreligion“, d.h. eine klare (z.B. christliche) religiöse Überzeugung, die sich aber nicht über religiöse Alternativen erhebt, sondern neugierig auf die Begegnung mit ihnen ist. Das hat Auswirkungen für die politische Einstellung und das Verhältnis zum Judentum: „Eine evangelische Konfessionszugehörigkeit reduziert antisemitische Ressentiments, während Paraglauben und Verschwörungsmentalität sie stärken. Starke Überreste eines Antijudaismus sind nicht oder vermutlich nur in kleinen Randgruppen der christlichen Kirchen zu finden. Im Gegenteil, eher ist ein überzeugter Säkularismus antisemitischen Ressentiments zuträglich.“

Natürlich macht es die bloße Kirchenmitgliedschaft nicht. Aber wer Teil einer Religionsgemeinschaft ist, die über sich selbstkritisch nachdenken kann und will, ohne dabei das Wertvolle am Eigenen zu verleugnen, hat einen Vorteil. Zu moralischer Überheblichkeit besteht nun kein Anlass. Aber ein bisschen darf man sich schon darüber freuen, dass eine christliche Bildungsarbeit nicht ganz umsonst sein muss, sondern für die Gesellschaft eine gute Wirkung entfalten kann.

P.S.: "Neu über Zukunft nachdenken", das versuche ich mit dem Autor und Unternehmer Bernhard Fischer-Appelt in einer neuen Folge meines Podcasts "Draußen mit Claussen".

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Danke, einfach nur danke für den neuesten Blog über Antisemitismus.

Antwort auf von Susanne Breit-Keßler (nicht registriert)

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Der Blog war fällig. H. Claussen wird konkret, was ja im Kunstbetrieb (Betrieb?) nicht so selbstverständlich ist. Es ist vielfach ein Geschäft mit Phantasien und Ansprüchen, die selbst von den anderen Künstlern häufig nur mit gutem Willen nachvollzogen werden können.
Ein Bild, Statue, Musik, Sprache, Gedicht kann schön und erhaben sein. Aber nur das Wort kann nachvollziehbare Inhalte geben. Alle anderen Werke können nur Stimmungen, aber keine Inhalte vermitteln, die über das rein Subjektive
hinausgehen. Beus hat alle entlarvt, wenn er sagt, das alles Kunst ist, was sich als Kunst bezeichnet. Wenn dann auch noch nur das als wahre Kunst (Bares für Rares) bezeichnet wird, was mit Sinn und Form auch akademischen Ansprüchen (Hauptsache Düsseldorf!) genügt, ist der Kreis der Auserwählten geschlossen.

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Danke für das Richten der Aufmerksamkeit auf diese Studie, die einen aktuellen und wichtigen Beitrag leistet.

Um ehrlich zu sein, habe ich sofort Sorge und Bedenken bekommen, wenn Johann Hinrich Claussen anfängt, über die documenta zu schreiben. In seinem „Kulturbeutel: Johann Hinrich Claussen über Flüchtlingskunst“ veröffentlichte der Autor zur letzten documenta vor 5 Jahren hier auf chrismon nämlich Gedanken, die ebenfalls voller Ressentiments, Vorurteile und moralischem Zeigefinger waren – ohne jemals auf die Kritik und den Diskurs in den Kommentaren einzugehen oder sich gar selbstkritisch zu zeigen. Vielleicht wäre jetzt ein guter Zeitpunkt dafür, die Dinge in neuem Licht zu betrachten?
Siehe https://chrismon.evangelisch.de/blogs/kulturbeutel/kulturbeutel-johann-hinrich-claussen-ueber-fluechtlingskunst

Die Künstler und die sich dafür halten, bekommen immer eine "bedenkende Gänsehaut", wenn andere, die nicht aus der gegenseitig akzeptierten Verständnisgemeinschaft stammen, sich erdreisten, was sagen zu sollen. In dieser Gemeinschaft, ich war kürzlich auf einer Vernissage und einer Kunstenthüllung, ist das öffentliche gegenseitige Verständnis so groß, dass nur hinterher eine konkurrierende persönliche Meinung gesagt wird. Vorher nur Aaah und Oooh und verhaltener Applaus. Hinterher dann vernichtende Kommentare unter denen, die bei früheren Gelegenheiten bewiesen haben, wie ergeben sie sind. Die diesjährige Dokumenta ist ein Kulturopfer an die Verantwortlichen. Nicht nur in Asien und England (Beisp. die für uns eigenartigen Witze der Engländer und der Amerikaner) gelten andere kulturelle Maßstäbe als bei uns. Was dort eine harmlose Verleumdung ist, kann bei uns schon eine Beleidigung oder gar strafbar sein. Da hilft dann auch keine Vernissage, um diesen Widerspruch zu verharmlosen. Bei Enthüllungen dann die beifallsheischenden Erwartungen und Blicke. Der Landrat lobt alles und denkt sich seinen Teil. Die Kunst nimmt sich in ihren "künstlichen Inhaltsvermutungen" zu wichtig. Wenn der "Normalo" das nicht nachvollziehen kann, ist er dumm.

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Ich habe mir den Hinweis auf die alten Beiträge angetan. Einige Beiträge gehören als die Kunst auf die Dokumenta, die in der Lage ist, in kunstvollen sprachlichen und nur gedachten Piruetten alle Inhalt so zu verschachteln, dass alles unentwirrbar ist. Das kommt davon, wenn man wie jetzt in Kassel, Kulturen miteinander vergleicht, die sehr unterschiedliche Werte haben. Antisemitismus war und ist in Asien kein besonderes Problem. Deshalb das gegenseitige Unverständnis. Und nahezu immer ist die Interpretation, was moderne Kunst ist, so abenteuerlich wie eine besonders "anspruchsvolle" Weindegustation. Die Kunst nimmt sich zu wichtig und ist zu häufig reine Dekoration bis zum Unsinn. Aber auch Schmuck wird vielfach zu teuer bezahlt.

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Einen spezifisch protestantischen Antisemitismus gibt es nicht. Wohl aber einen kirchlichen. Wie soll es denn sonst gehen? AT und NT sind voller Schuldzuweisungen. Jahrhunderdertelang. 0033 haben "die Juden" Jesus ermordet. Nicht eine kleine Clique. Alle. Wie prophezeit. Deshalb Sühne und Verfolgung. Jeden Karfreitag wird die Anklage wiederholt und der Antisemitismus begründet. Mit kunstvollen Formulierungen und abenteuerlichen Beweisanträgen wird dagegengehalten. Was gestern geschrieben bedarf kurz danach einer aktuellen Auslegung. Das ist auch eine intellektuelle Kunst. Umsonst. Das Gebäude wackelt.

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Vielen Dank für die engagierten Reaktionen! Was die Documenta angeht, kann man exemplarisch sehen, wie sich einige Debatten verschärft haben. Vor fünf Jahren habe ich am Beispiel einer Skulptur gefragt, ob das Verhältnis von Inhalt und Gestaltung (man könnte auch sagen: von Gesinnung und ästhetischer Form) stimmig ist. Gegen den Inhalt/die Gesinnung hatte ich nichts, im Gegenteil, wohl aber fragte ich mich, ob daraus ein überzeugendes Kunstwerk geworden ist. Jetzt haben wir es mit Inhalten/Gesinnungen zu tun, die zu verurteilen sind, und mit "Kunstwerken", die dies propagandistisch verbreiten. An einem wenig beachteten Beispiel habe ich das kürzlich deutlich zu machen versucht: EKD kritisiert israelfeindliche Propagandafilme auf documenta | Jüdische Allgemeine (juedische-allgemeine.de).

Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur