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Imperialismus vs. Patriotismus
Um nicht im Mahlstrom des krisengeschüttelten Echtzeitjournalismus zerrieben zu werden, habe ich mir zwei alte Bücher vorgenommen, die auf vernachlässigte Aspekte der russischen Aggression und der europäischen Gegenreaktion hinweisen.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
19.03.2022

Das erste Buch stammt von dem sagenhaften literarischen Journalisten Ryszard Kapuściński (1932-2007) und trägt den Titel „Imperium“. Es versammelt seine Reportagen aus der Sowjetunion. Als Pole hatte Kapuściński ein leidvoll-intimeres Verständnis für Russland als viele Westeuropäer. Klar sah er, dass die vermeintlich kommunistische Sowjetunion immer noch Russland und also eine imperialistische Macht war. Dies gilt offensichtlich auch für das post-sowjetische Russland, das andere Länder in seiner Nachbarschaft immer noch als sein Eigentum betrachtet. Mich wundert, dass die Postkolonial-Engagierten darüber nicht sprechen. Dabei geht es im Krieg Russlands gegen die Ukraine doch genau darum: Eine ehemalige Kolonie soll zurückerobert werden. Solidarität mit der Ukraine ist deshalb gelebter Antikolonialismus.

Es ist deshalb auch falsch (und nur lieb gemeint), wenn auf Friedensdemonstrationen gesagt wird, dies sei kein Krieg Russlands, sondern nur Putins Krieg. Dafür dürfte das imperialistische Denken immer noch viel sehr bei vielen Russen verwurzelt sein.

Das zweite Buch, das mir einen tieferen Blick beschert, ist „The Black Sea“ (es ist zurzeit nicht auf Deutsch erhältlich, lässt sich aber auch Englisch gut lesen). Der heute 90jährige britische Journalist Neal Ascherson hat es 1995 veröffentlicht. Darin erzählt er mit unvergleichlicher Kennerschaft die Geschichte dieses geopolitisch so wichtigen Raums von der Antike bis heute. Er zeigt, wie die ersten griechischen Siedler hier die folgenschwere Unterscheidung zwischen „Barbaren“ (das waren die anderen) und „Zivilisierten“ (das waren sie selbst) erfanden. Und er erzählt von vielen Krisen, Kriegen und Eroberungen, ungezählten Völker- und Städtemorden.

Vor kurzem hat Ascherson im „Guardian“ einen Aspekt benannt, auf den bei den aktuellen Friedensdemonstrationen nur die ukrainischen Stimmen hinweisen – oft genug zum Befremden der deutschen Mitdemonstrierenden. Ascherson schreibt: „Wenn die Nato-Regierungen heimliche Bedenken gegenüber Artikel 5 haben – der Verpflichtung zur Hilfe, wenn ein anderer angegriffen wird –, dann sind wir alle verloren. Für Estland sterben? Ja, wir müssen bereit sein, für Estland zu sterben, und die Welt muss wissen, dass wir es sind. Wir wissen jetzt, dass Putin es ernst meint. Meinen wir selbst es auch ernst?“

Natürlich ist es problematisch, wenn ältere Menschen einfordern, dass Jüngere bereit sein sollen, fürs Vaterland zu sterben. Ich tue es nicht, weil ich mit 57 Jahren nicht als erster eingezogen werden würde, wohl aber unsere Kinder. Doch Ascherson ist kein Kriegshetzer, sondern ein echter Kenner, der weiß, dass in diesem Verteidigungsfall nur entschlossene Gegenwehr helfen kann. Auch ist er kein Nationalist, sondern sein Patriotismus bezieht sich auf Europa. Seine Frage an uns lautet also: Was sind wir bereit, für Europa zu tun und zu geben?

Zum Schluss noch etwas anderes, weniger Kriegerisches: Viele erleben gerade, wie gut es ist, Gutes zu tun. Auf dem Berliner Hauptbahnhof habe ich viele Ehrenamtliche gesehen, die all diese jungen Familien, all diese Kinder versorgen. Von vielen Freunden und Kollegen höre ich, dass sie Flüchtlinge aufgenommen haben. Am Samstag haben wir mit Freunden eine Wohnung bezugsfertig gemacht – das war ein guter Tag!

P.S.: Wer zur Abwechslung etwas Schönes, Bedeutendes und Berührendes genießen möchte, sollte sich das Radio-Essay über Johnny Cash von Burkhard Reinartz anhören.

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Das Problem ist: Was erwartet wird und was erwartet werden kann. Ach was wurde die Gesellschaft in den vergangenen Jahren schlecht geredet. Alle nur noch selbst-süchtige Egoisten. So schlecht wie jetzt, war die Jugend noch nie. Und jetzt das. Die Jugend geht für ihre ideale auf die Straße. Andere stellen alle Kerzen und sich selbst auf die Märkte. Auch ich habe daran teilgenommen, weil mich mein Mitgefühlt drückt. Die UKRAINE ist nahe und zwischen uns und Putin ist nur noch Polen. Drama und Gewalt sind hautnah. Warum sollte man an diesen hohen Zielen was zu kritteln haben? Die Initiatoren und Teilnehmer eint ein Problem. Was bewirkt unser Entsetzen? Sieht Putin uns, werden wir von ihm erhört? Am Freitag wird doch von Vielen tatsächlich geglaubt, dass die Proteste zu Änderungen führen könnten. Die Einsicht der entschei-denden „Klimasünde“ wird’s so nicht global geweckt. 48 AKW’s sind im Bau und 89 in Planung. 2021 wurde so viel Kohle verfeuert und CO2 verblasen, wie noch nie. Unsere Hoffnungen trügen, wenn Putin seine Raketen abfeuert und die chinesische Regierung befürchtet, dass der Energiemangel zu Unruhen führen könnte. Trotz unserer Protes-te. Vor Ort können Demos viel bewegen. Da sind die Entscheider greifbar und die Wir-kungen lokalisiert. Da wirken noch Wahlen. Den Protestlern einzureden, dass ihre Pro-teste eine globale Weitenwirkung haben, ist Vorspiegelung unrealistischer Erwartun-gen. Dennoch werde ich auch künftig protestieren, aber nicht unserer Regierung die Schuld geben, wenn woanders die Einsicht fehlt. Selbst die „vom Freitag“ werden sehr schnell umdrehen, wenn sie auf alle modernen Errungenschaften und ihre per-sönliche Mobilität verzichten sollen. Kein Recht kann eine Änderung bewirken, solan-ge nicht viele gemeinsam an einem Strang ziehen. Aber wenn es bei uns zu warm ist, ist es woanders zu kalt. Diese Unterschiede kann kein Gesetz befrieden.

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"Natürlich ist es problematisch, wenn ältere Menschen einfordern, dass Jüngere bereit sein sollen, fürs Vaterland zu sterben." Es soll also ein Problem darstellen, für das Vaterland zu sterben? Ach was, nicht einmal das soll ein Problem sein! Nur dann, wenn der, der das Wort gesprochen und der, an den es gerichtet war, die falsche Altersbeziehung haben, wird es problematisch. Das ist erfreulich deutlich.

Der Wunsch, für das Vaterland (oder auch für König, Führer, Volk und Rasse) sterben zu dürfen, stellt überhaupt kein Problem dar. Im Gegenteil, diese auf beiden Seiten der jeweiligen Fronten reichlich vorhandene Sterbebereitschaft ist Voraussetzung dafür, dass Staaten Kriege führen können. Ohne diese Bereitschaft gibt es keine Kriege. Vor dem Sterben kommt noch die ebenfalls sehr ehrenhafte Aufgabe, möglichst viele der Gegner vom Leben zum Tode zu befördern.

Ich will nicht für das Vaterland oder sonstige hehre Ziele (Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie...) sterben. Ich bin stocksauer darüber, dass dieser mein Wunsch weder bei den Staatenlenkern, noch bei den zahlreichen Vaterlandsverteidigern und -Liebhabern zählt.

Fritz Kurz

Ich will nicht für die Freiheit, für meine Familie, für mein Leben sterben. Für die Gesellschaft (altmodisch Vaterland!) schon mal gar nicht. Wenn es eng wird und ein Ungeheuer naht, such ich mir eine Insel, die so klein ist, das ein Hyperschallgeschoss immer vorbei fliegt. Sollte es dennoch brenzlich werden, sollen sich doch die Einfältigen als Notopfer anbieten. Wenn gewünscht, zahle ich auch dafür. KURZ UND BÜNDIG: ENTLARVT.

Antwort auf von Ockenga (nicht registriert)

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Da muss ich Sie enttäuschen, lieber Herr Ockenga. In die Ukraine ist kein Ungeheuer eingefallen. In die Ukraine wurde das russische Militär geschickt, nicht King-Kong oder die apokalyptischen Reiter aus dem 6. Kapitel der Offenbarung des Johannes.

Und woraus besteht das russische Militär wie jedes andere Militär auch? Aus Leuten, die davon überzeugt sind, dass der anständige Mensch seinem Vaterland zu dienen hat. Durch Gesetzestreue und Steuern zahlen immer und jederzeit, durch Militärdienst ebenso. Und wenn die Führung, also die von Ihnen immer geforderte starke Hand, Krieg für unumgänglich hält, dann zieht auch der anständige Russe in den Krieg.

Sie, werter Herr Ockenga, finden das großartig. Ich nicht.

Fritz Kurz

Sie wollen also nicht für das Vaterland sterben und sind stocksauer, daß dieser Wunsch nicht bei den "zahlreichen Vaterlandsverteidigern und -liebhabern" zählt.
Wollen Sie damit sagen, dass die ukrainischen Verteidiger, im Gegensatz zu Ihnen, den Wunsch hätten zu sterben ? Oder wollen sie vielleicht sogar zum Ausdruck bringen, dass Ihr Wunsch, nicht im Kriege zu sterben, etwas Außergewöhnliches sei ?
Im Gegenteil - so wie Ihnen geht und ging es seit Jahrtausenden Millionen von Menschen - und nicht nur als ein mögliches Geschehen !
Hegel hat dies metaphysisch ausgedrückt:
"Der Einzelne allerdings muß das Gegenteil des Krieges wünschen; aber der Krieg ist ein philosophisch wesentliches Naturmoment".
Oder noch einfacher, auf Empirie basierend, Bertold Brecht:
"Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin. Dann kommt der Krieg zu dir".
Genau das erfahren zur Zeit die Ukrainer - glauben Sie nicht doch auch, daß diese alle denselben Wunsch haben wie Sie ? Sterben wird keiner wollen, aber sie handeln einfach so, wie sie es für geboten halten. Allerdings glaube ich nicht, daß man dort viel darüber redet und vor allem nicht,daß Sie dort auf viel Empathie stoßen würden ...Im Übrigen, beim Militär sagt man:"Weit vom Schuß gibt alte Krieger ". Mutatis mutandis gilt dies auch für (bekennende oder selbsternannte ) Pazifisten ...

Vorneweg: Das Hegelzitat stimmt. Das Brechtzitat ist eine Fälschung.

https://www.zum.de/Foren/politik/archiv/a284.html#:~:text=%22Stell%20Dir%20vor%2C%20es%20ist,der%20wird%20teilen%20die%20Niederlage.

Zur Sache: Der Wunsch, am Leben bleiben zu dürfen, wird gnädigerweise auch denen zugebilligt, die vom Militär ins Jenseits befördert werden. Auf diese huldvolle Erlaubnis verzichte ich dankend.

"Oder wollen sie vielleicht sogar zum Ausdruck bringen, dass Ihr Wunsch, nicht im Kriege zu sterben, etwas Außergewöhnliches sei?"

Der Wunsch ist eher gängig. Die naheliegende Konsequenz ist leider sehr selten. Die Konsequenz lautet: Das Militär abschaffen. Und wenn "das nicht geht", dann eben auch alles das auf den Müll geben, was ursächlich dafür ist, dass "das nicht geht". Das ist ziemlich viel.

"Weit vom Schuß gibt alte Krieger". Die Nato und Russland und die Ukraine sind ziemlich nahe am Schuss und brauchen also dynamische, moderne Krieger? Dann mal viel Spaß mit denen! Zur Vorbereitung:

https://www.youtube.com/watch?v=XhA8peNwr5M

Fritz Kurz

Wenn Sie über Brecht diskutieren wollen, dann müssen Sie sagen, wo er angeblich scheußliche, bellizistische Dinge geschrieben hat. Oder gilt auch hier: Er hat es zwar nicht geschrieben, aber das kann niemanden hindern, es ihm anzuhängen.

Oder wollen Sie den Ukrainekrieg in landesüblicher Weise dazu verwenden, die Notwendigkeit und die segensreichen Folgen von Militär zu behaupten?

Fritz Kurz

Nein, über Bertolt Brecht möchte ich eigentlich nicht diskutieren. M.E. ist er einer der dreistesten und überschätztesten Plagiatoren der deutschen Literatur. Aber zu seinem Bellizismus: U.a. hat er nachweislich 1931 für den Fall einer proletarischen Revolution in Deutschland einen bolschewistischen Massenterror befürwortet, allein für Berlin fordert er die willkürliche Erschießung von "wenigstens 200 000 innenpolitischen Gegnern." Er stellt sich damit auf die gleiche Stufe wie Stalin. Daß dies kein bloßes, für Brecht typisches, Schwadronieren ist, stellt ziemlich verstört - der einer Antipathie für Brecht sicherlich unverdächtige - Jan Philipp Reemtsma fest. (J.P. Reemtsma,Eingreifendes Denken, in:Wizisla,E. (Hrsg.), Benjamin und Brecht, Denken in Extremen.)
So etwas lernt man sicherlich nicht im Deutschleistungskurs ...
Und was sein Gesinnungsfreund, Walter Benjamin, unter "göttlicher Gewalt" verstand,war auch kein "Deckchensticken" (Mao Tse Tung).

Antwort auf von querdenker (nicht registriert)

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Gut, dass Sie mitgeteilt haben, dass Sie eigentlich nicht über Brecht diskutieren wollen. Ein flüchtiger Leser Ihres Kommentars könnte sonst glatt den Eindruck gewinnen, dass Sie Brecht in die Pfanne hauen wollen. Ich respektiere selbstverständlich Ihren Wunsch, nicht über Brecht zu diskutieren.

Ganz uneigentlich möchte ich aber den Begriff des Bellizismus klären. Bellizisten halten große Stücke auf das Militär und befürworten dessen Einsatz. Soweit ist jeder anständige Bürger Bellizist. Der einzige Unterschied zwischen dem Standardbürger und dem expliziten Bellizisten ist die Form der Reklame für das Militär. Der Bürger wird nicht müde, ständig ein "leider" dazuzusagen, wenn er sich für das Militär stark macht. Der Bellizist sieht dafür keine Notwendigkeit und trägt seine Parteinahme umstandslos vor.

In modernen Zeiten, wo jeder Staat ein stehendes Heer unterhält, müssen Revolutionen gegen das Militär geführt werden, nicht mit ihm. Sonst handelt es sich um einen Militärputsch oder einen Bürgerkrieg.

Fritz Kurz

Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur