"Ich beschütze, indem ich Abstand halte" - Monty Navabi
Wiebe Bökemeier
Elissavet Patrikiou
Bei diesen Erinnerungen wird Monty Navabi ernst: "Ich verabscheue Regeln, die keinen Sinn machen, das habe ich lange genug erlebt." Als sie 15 Jahre alt war, schickten ihre Eltern sie nach Deutschland. Da habe ihr zweites Leben begonnen – eines ohne ihre zwei Schwestern und ihre Eltern, dafür eines mit mehr Chancen.
Wer Monty im letzten Jahr auf der Straße traf, fand sich schnell mit einem Espresso auf ihrer kleinen Terrasse wieder, frisch umarmt und warm eingepackt zwischen den bunten Kissen auf der Hollywoodschaukel. Inzwischen ist es erst mal vorbei mit der körperlichen Nähe. Nur für ihre zehnjährige Tochter gilt das nicht. "Die kann ja auch nicht weglaufen", sagt die Singlemutter, presst Sheyda an ihre Brust und küsst sie drei, vier Mal auf die Schläfe. Sheyda grinst und rollt mit den Augen. Nun hält Monty ihre Tochter einen Moment ganz fest – und die hält still. Dann fließen die Berührungen durch ihren Corona-Kraulkreislauf: Sheyda kribbelt mit blau lackierten Fingernägeln die Hündin Limu zwischen den Pinselohren, die presst sich wiederum an Montys Beine. Mutter und Tochter retteten die Hündin vor zwölf Wochen aus dem Tierheim. "Unser Corona-Baby. Limu hält jetzt all die Umarmungen aus, die unsere Freunde sonst bekommen hätten."
"Wir dürfen hier öffentlich Zuneigung zeigen – und können im Notfall Abstand halten"
Berühren möchte Monty Menschen trotzdem. Ihr sei durchaus bewusst, sagt sie, dass eine Seele ohne Körperkontakt schwieriger zu erreichen sei. Die wohne schließlich auch unter der Haut, und über die Haut komme man halt am besten an die Seele ran. Trifft sie eine Freundin, sagt Monty ganz deutlich zu ihr: "Ich würde dich jetzt so gern drücken" und küsst in die Luft. "Ich kann sie dann zwar nicht festhalten, aber zumindest kann ich sie mit Sprache, Gestik und Mimik berühren."
Vor Corona drückte und küsste Monty etwa zehnmal am Tag, wenn sie durch ihr Viertel St. Pauli in Hamburg lief. Das aktuell gebotene Abstandhalten empfindet sie dennoch nur als kleine Einschränkung, sogar eher als Ausdruck von Freiheit: "In vielen Teilen der Welt leben Menschen zurzeit auf engstem Raum, in Flüchtlingslagern oder Armenvierteln, und haben gar nicht die Wahl. Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir öffentlich Zuneigung zeigen dürfen – und im Notfall Abstand halten können." Also gewissermaßen ein doppeltes Privileg, sagt Monty. "Im Grundgesetz steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das gilt auch bei der Erhaltung eines Lebens. Ich beschütze, indem ich Abstand halte", erklärt Monty lächelnd und zuckt mit den Schultern. "Ich habe ja Übung in Verzicht."
"Angefasst zu werden, hat mein Sohn jahrelang kaum ertragen" - Anna Irmgard Jäger
"Braucht ihr eine Umarmung, ihr Lieben?" Anna Irmgard Jäger steht hinter dem Tor zum Innenhof und linst durch die Gitterstäbe. "Ist seit Monaten ja eine rhetorische Frage", sagt sie seufzend. Dann strafft sie die Schultern, lächelt aufmunternd und legt ihre Arme über Kreuz, um sich selbst zu drücken. Eine gut vorgespielte, ernst gemeinte Umarmung, findet Anna, ist eben besser als gar keine.
Zwischen den Häusern sitzen die Nachbarn eng beisammen und winken von weitem, Kinder fahren Skateboard und kichern. Annas Welt, vor Corona mit Bühne und Publikum, ist auf diesen Mikrokosmos geschrumpft. Die Hausgemeinschaft, zu der auch Annas Freund, der Musiker Florian, und ihr Ex-Mann Jonny gehören, hat entschieden, wie eine große Familie durch diese Zeit zu gehen. "So sind wir nie allein", sagt die 33-Jährige, während Florian pfeifend bei offener Terrassentür scharfe Quesadillas backt und der achtjährige Paul auf seinem Vater herumturnt.
Anna setzt Mokka für alle auf. Neben der Spüle spendet eine Lampe mattes Licht, der Schirm ist eine CT-Aufnahme. "Ein Beweis für mein gesundes Hirn", erklärt sie leise. Sie stammt aus einer Zeit, in der die Ärzte vermuteten, Anna könne unter Multipler Sklerose leiden. "Sie ermahnt mich, dankbar für jeden Tag mit meinen Lieben zu sein." In fast jedem Zimmer hängen Fotos von Paul. Aus einer Zeit, "als alles noch normaler war".
"Man muss jede einzelne Berührung wertschätzen"
Paul hat frühkindlichen Autismus. Er war anderthalb, als die Diagnose kam, Anna gerade Mitte zwanzig. Aus dem Baby, das seinen Eltern lächelnd in die Augen sah und brabbelte, wurde ein Kind, das meist durch andere hindurchsah. Bis heute trägt er Windeln und spricht so gut wie nie. "Ich dachte nach dem ersten Schock: Na ja, man kann Liebe auch ohne Worte zeigen, eben durch Berührung." Doch auch diese Art der Kommunikation verwehrte ihr Paul. "Er ließ in seiner inneren Welt keine Berührungen mehr von der Außenwelt zu" – und wehrte sich mit Händen und Füßen. "Angefasst zu werden, hat er jahrelang kaum ertragen", sagt Anna. "Ich fragte mich jeden Tag: Wie soll ich Gefühl zeigen und geben, wenn mein Kind Sprache nicht wahrnimmt und keine Nähe zulassen kann?" Paul trat und boxte – Anna liebte mit aller Kraft auf Abstand.
Vor etwa drei Jahren veränderte sich Pauls Verhalten. Er suchte wieder Kontakt. "Das war unglaublich." Anna fährt sich mit den Fingern über ihren linken Ellenbogen. Wie so oft, wenn sie über Paul spricht. Am Ellenbogen trägt sie ein kleines Tattoo: Pauls Kuschelknopf. Dieser Punkt an ihrem Arm ist Pauls "Lieblingsknubbel". Das Tattoo darauf ließ Anna sich stechen, weil es sie an einen besonderen Moment erinnert. Eines Abends brachte sie Paul ins Bett und flüsterte ihm, wie immer, "Ich liebe dich" ins Ohr. Eine Antwort hatte Anna zuvor nie erhalten. Aber diesmal reagierte Paul: "Ich liebe dich." Und drückte währenddessen ihren Ellbogen. Es blieb bei diesem einen Mal. Doch Anna braucht die Worte nicht. Nicht mehr. Sie weiß, wenn er diesen Punkt an ihrem Ellenbogen berührt, sagt er es, auf seine Art. "Es ist ein Ritual zwischen uns. Und das Tattoo erinnert mich jeden Tag daran, dass keine Berührung selbstverständlich ist und dass man jede einzelne wertschätzen muss. Das ist ein großer Trost, vor allem in dieser Zeit." Dann zwinkert sie und sagt: "Hey, wer kann das schon von sich behaupten? Ich bekomme Liebe auf Knopfdruck!"
"Einsamkeit tut Herzen gar nicht gut" - Heidemarie Förster
Heidemarie Förster hielt durch. "Ich habe gelernt, Gott zu vertrauen", lautet ihre simple Erklärung. Zum Glauben fand sie, nachdem ihr erster Sohn geboren war. Damals erlebte sie eine tiefe Krise. Sie war 28 Jahre alt – so alt wie ihre Mutter war, als sie sich das Leben nahm und zwei kleine Kinder hinterließ. Mutterliebe hatte Heidemarie Förster nie erfahren, und jetzt sollte sie selber Mutter sein? Sie arbeitete damals als Krankenschwester in einem Baptistenkrankenhaus in Berlin. Gern habe sie anderen geholfen, sagt Heidemarie Förster, immer, aber sich selbst habe sie damals nicht helfen können. In diesem Krankenhaus gab es Menschen, die sie zwar nur flüchtig kannte, die aber für sie beteten. Heidemarie war tief bewegt, dass Fremde sich ihrer Not annahmen. "Die Liebe Jesu hatte mein Herz berührt", sagt sie über diese Zeit.
Dank dieser Begegnung brachte sie die Kraft auf, ein neues Leben zu beginnen. Diese Kraft ist geblieben: "Ich spüre in meinem Herzen, dass ich von Gott geliebt und von Menschen unabhängig bin. Das wiederum gibt mir die Freiheit, Menschen zu lieben und mich schwierigen Situationen zu stellen. Auch Corona."
"Als Gott mich berührt hat, ist das ja auch irgendwie ohne Anfassen vonstattengegangen"
Denn sie hat ziemlich gern Leute um sich. Deshalb macht es sie auch traurig, das Fernhalten voneinander und die ewige Vorsicht. Was ihr vor allem fehlt, ist ihre Hamburger Kirchengemeinde Elim Sternschanze. Deren Leitspruch lautet: "Komm so, wie du bist!" Und jetzt kommt keiner. "Wir feiern den Gottesdienst sonst richtig", erzählt Heidemarie. "Wir tanzen, singen und berühren uns gern und oft." Gottesdienst wird es vorerst nicht geben, spontanes Festhalten ebenfalls nicht. Heidemarie wird mittlerweile wieder von ihren fünf Kindern und vier Enkeln umarmt. Und sie wünscht sich, dass es so bleibt, sie ist Risikopatientin.
Sich und andere zu schützen, indem man für sich bleibt, das findet Heidemarie Förster logisch und doch paradox: "Einsamkeit tut Herzen nämlich gar nicht gut." Einmal hat sie sich deshalb bei Gott beschwert. "Ich habe ihm gesagt: Jesus hat die Leute doch auch berührt, auch die, die an der Pest litten!"
Auf die Frage, ob sie jemals wieder ihre Freunde und Gemeindemitglieder ganz ohne Angst berühren wird, antwortet sie mit fester Stimme: "Ich glaube daran, ja. Nur wann, ist die Frage. Gott sagt, für ihn sind tausend Jahre wie ein Tag. Und ein Tag wie tausend Jahre. Irgendwo dazwischen kommen die paar Tage Corona. Das ist auszuhalten. Und so lange ich die Menschen nicht drücken darf, lasse ich mir eben etwas anderes einfallen. Als Gott mich berührt hat, ist das ja auch irgendwie ohne Anfassen vonstattengegangen." Sie deutet auf die große Tafel neben dem Geschirr, auf der sie ihr Lieblingszitat von Schriftsteller Joachim Ringelnatz mit Kreide notiert hat. Dort steht schwungvoll geschrieben: "Humor ist der Knopf, der verhindert, dass uns der Kragen platzt."
Sehr geehrte Frau Bökemeier,
Sehr geehrte Frau Bökemeier, sehr geehrte Frau Patriklou,
Ihr Artikel zu Frau Förster bewegt mich sehr. Sie hat nicht resigniert und gibt ein Beispiel, wie man es mit schwerem Schicksal aufnehmen kann. Bitte gestatten Sie mir noch die Frage nach dem Vater der Großfamilie?
Mit freundlichen Grüßen,
Hermann Benzing
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Liebe chrismon-Redaktion,
Liebe chrismon-Redaktion,
sind Sie der Meinung, Berührung täte nur Frauen gut, Männer bräuchten das nicht? Oder empfinden Sie Berührungen durch Frauen als rein und gut, Berührungen durch Männer hingegen als schmutzig und schlecht? Das sind Fragen, die sich mir aufdrängen angesichts der Ausgabe 11.2020 Ihres Magazins mit dem Titelthema "Lass dich berühren".
Schon auf dem Titelblatt schränken Sie das Thema ausdrücklich auf Frauen ein. Die abschließende Nennung von Gott unterstreicht das Endgültige des Ausschlusses der Männer aus dem Kreis der Berührenden. Im Artikel selbst kommen dann tatsächlich ausschließlich Frauen zu Wort. Auch auf den Bildern sind nur Frauen und Kinder zu sehen. Es ist, als ob Berührung von Männern inexistent oder, schlimmer noch, unerwünscht wäre.
Das macht mich traurig. Gerade von Ihrem Magazin hätte ich einen offeneren Umgang erwartet. So perpetuieren Sie doch wieder die alten Rollenklischees aus dem vergangenen Jahrhundert von harten Männern und zärtlichen Frauen. Es würde mich freuen, wenn hier eine Weiterentwicklung möglich wäre.
Freundliche Grüße
Tilman Schmidt
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