Illustration zum Interview, David gegen Goliath
Klaas Neumann
"Wir kämpfen gegen viele Goliaths"
Vor einem Jahr hat Gerhard Schick sein Bundestagsmandat zurückgegeben – um Lobbyist zu werden. Er will den Finanzmarkt reformieren und Verbraucher besser schützen. Wie soll das gehen?
28.01.2020

Zu Hause, in Ihrem katholischen Elternhaus, haben Sie gelernt, dass man zwar für Gerechtigkeit beten kann, aber sich auch für sie einsetzen muss. Wie sieht eine gerechte Ordnung aus?

Gerhard Schick: Mich hat der Philosoph John Rawls inspiriert. Er stellte die Frage: Welche Ordnung würden wir uns wünschen, wenn wir nicht wüssten, als wer wir auf die Welt gekommen sind? Als Frau oder Mann? Als Kind reicher oder armer Eltern? Rawls ging davon aus, dass sich so alle Menschen auf den sozialen und liberalen demokratischen Staat als gerechtes System einigen müssten. Zu Beginn des Lebens haben alle die gleichen Chancen – Chancengerechtigkeit. Aber, puh, das sind große Fragen. Mir fällt es leichter, klare Ungerechtigkeiten zu benennen.

Alexander Kästel

Gerhard Schick

Gerhard Schick, 47, ist Volkswirt. 2005 zog er für die Grünen in den Bundes­tag ein, wo er finanzpolitischer Sprecher seiner Fraktion war. Ende 2018 gab er sein Mandat zurück und wurde Vorstand des Vereins "Bürger­bewegung Finanzwende", der sich für ­Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Verbraucherschutz auf den Finanz­märkten einsetzt.

Woran denken Sie?

An das Beispiel Cum-Ex: Da haben Menschen sich mit ­Steuergeldern ihren privaten Luxus finanziert. Diese ­Steuern haben wir alle aber vorher eigentlich dafür bezahlt, dass es öffentliche Leistungen wie Schulen oder Polizei geben kann. Das ist ungerecht, das ist sogar kriminell.

Cum-Ex?

Cum-Ex war eine Kombination von Finanzgeschäften. Sie hatten zum Ziel, eine mehrfache Steuererstattung zu er­halten, obwohl man zuvor nur ein Mal eine Steuer abgeführt hatte. Das war klar betrügerisch und funktionierte nur, wenn Banker, Börsenhändler, Steuerberater und ­Juristen zusammenwirken. Man kann zu Recht von organisierter Kriminalität sprechen, die allein in Deutschland zu einem Schaden von zehn Milliarden Euro geführt hat. Leider haben Finanzaufsicht und Ministerien die Hinweise auf diese kriminellen Geschäfte viel zu lange ignoriert.

"Auf Finanzmärkten geht es leider viel zu oft um Kriminalität."

Wie haben Sie Ihre Leidenschaft für so trockene Themen und komplizierte Begriffe entdeckt?

Komplex und kompliziert kann es sein – aber es ist überhaupt nicht trocken! Auf Finanzmärkten geht es leider viel zu oft um Kriminalität – um Geldwäsche, um Betrug, ­sogar um Terrorfinanzierung. Das sind hoch spannende Themen. Und bei Verbraucherfragen geht es um Schicksale. Ich bin vielen Menschen begegnet, die 50 000 Euro für ihre Altersvorsorge verloren haben, weil sie schlechte ­Finanzprodukte gekauft haben und schlecht beraten ­worden sind. Es gibt Menschen, denen wird der Strom abgedreht, weil sie überschuldet sind. Da geht es dann darum, ob man den Schulausflug des Kindes noch bezahlen kann.

Wir leben in einer Zeit der Dauerempörung, aber die ­Finanzwirtschaft bekommt selten einen Shitstorm ab. Wie erklären Sie sich das?

Sobald Menschen verstehen, was dort passiert, ärgert es sie auch sehr. Aber die Komplexität schreckt erst mal viele ab. Das wollen wir mit unserer Organisation ändern. Ehrlich gesagt: Den Algorithmus der Software, die beim Diesel­skandal gefälscht war, muss ja auch niemand verstehen, um sich aufzuregen. Man kann auch Themen diskutieren, ohne jedes Detail zu verstehen. Wir dürfen die Diskussion über die Finanzmärkte nicht den Experten überlassen, weil uns einige von ihnen sonst über den Tisch ziehen.

Sie waren Abgeordneter, saßen für die Grünen 13 Jahre im Bundestag. Warum tun sich Parlamente so schwer, gute Regeln für Finanzmärkte zu schaffen?

Ende 2008 und Anfang 2009, als weltweit die Banken ­wackelten, dominierten Wirtschaftsthemen die Nachrichten. Damals gab es gute Ideen, um die Märkte unter Kontrolle zu bringen. Die Finanztransaktionssteuer war auf dem Weg. Es sollte bessere Regeln für Wirtschafts­prüfer und Ratingagenturen geben. Die Banken sollten mehr echtes Eigenkapital haben. Aber als ein Expertendiskurs daraus wurde, haben sich die Lobbyisten aus der Finanzbranche wieder durchsetzen können.

Das klingt so verschwörerisch. Wie arbeiten diese ­Lobbyisten?

Die Finanzlobby investiert viel Zeit, um ihre Kontakte zu pflegen und ihre Argumente unterzubringen – direkt in Ministerien hinein. Das Problem ist die Finanzkraft, die dahintersteht. Die Angestellten vom Bankenverband ­kamen immer mit gut vorbereiteten Präsentationen in den ­Bundestag, um ihre Sicht darzulegen. Wenn ich als Ab­geordneter aber wissen wollte, wo im Gesetzentwurf zur Bankenregulierung eine Lücke ist, musste ich mich aktiv bemühen, neutrale und kundige Gesprächspartner zu finden.

Und was bedeutet das konkret für ein geplantes Gesetz?

Beispiel Finanztransaktionssteuer: Die Grundidee war, alle Transaktionen auf den Finanzmärkten zu besteuern. Und dann kommt der Fondsverband mit einer großen Studie um die Ecke und rechnet den Abgeordneten vor, wie teuer das für die Kleinanleger werden würde. Wenn man sich nicht sehr gut auskennt, denkt man: Puh, das ist ja wirklich nicht gut für die Menschen. Aber die Rechnung war total getrickst. Viele Parlamentarier haben gar nicht die Zeit, das zu durchschauen. Es gibt auch nicht genug Organisationen und Experten, die so einen Schwindel aufdecken können. Durch so eine Angstmacherei wurde die Steuer immer ­kleiner. Jetzt will Olaf Scholz nur noch den Handel mit ­Aktien besteuern. Die Finanzlobby war so erfolgreich, dass selbst der Hochfrequenzhandel außen vor bleibt.

Sie meinen den Handel mit Finanzpapieren, den Com­puter automatisiert abwickeln. Was haben Sie dagegen? Das ist nun mal der technische Fortschritt!

Wo nur Computer und nicht mehr Menschen handeln, können sich Computer auch verselbstständigen. Das hat schon zu Turbulenzen geführt. Und nur wenige Akteure haben überhaupt Zugang zum Hochfrequenzhandel, und die können uns Normalanleger immer überholen.

Uns Normalanleger? Nur jeder sechste Bundesbürger ist an der Börse aktiv.

Denken Sie! Sehr viele Menschen zahlen über ihre betriebliche oder private Altersvorsorge Geld an Anleger ein, die für sie am Finanzmarkt agieren. Man muss sich das so vorstellen: Wenn ein Fonds einen Kaufauftrag macht für ein Aktienpaket, dann kriegt das der Hochfrequenz­händler mit, überholt schnell und kann vor allen anderen profi­tieren. Für uns Anleger wird der Preis schlechter – und das nur, damit der Hochfrequenzhandel Gewinn macht.

"Wir haben es mit Hunderten Goliaths zu tun."

Fühlen Sie sich manchmal wie David gegen Goliath?

Das Bild passt nicht recht. Der David steht da allein mit seiner Steinschleuder und kämpft gegen den großen Goliath. Wir haben es aber mit Hunderten Goliaths zu tun. Die Finanzlobby hat viel Personal. Allein kann man nicht erfolgreich sein. Deshalb habe ich den Bundestag verlassen. Wir haben uns bewusst "Bürgerbewegung Finanzwende" genannt, weil wir einzeln nicht weiterkommen. Gemeinsam können Bürgerinnen und Bürger aber was verändern.

Und die Marktwirtschaft abschaffen?

Nein, ich bin überzeugter Marktwirtschaftler – aber ­ohne Kapitalismus. Wenn es nur darum geht, Kapital anzuhäufen, fehlt eine wichtige Frage: Wofür machen wir das alles? Wenn das Ziel von Wirtschaft ist, mit Geld immer noch mehr Geld zu machen, müssen soziale, ökologische und ethische Aspekte unter die Räder kommen. Das zerstört unsere Lebensgrundlagen, das kann nicht der Sinn von Wirtschaft sein. Es braucht klare, staatliche Regeln. Was wir haben, ist keine Marktwirtschaft mehr, ­sondern eine Machtwirtschaft, in der Konzerne und Unter­nehmensverbände teilweise die Gesetze schreiben, statt dass die Gesellschaft den Rahmen vorgibt.

Wann ist das passiert?

Es gibt mehrere Fälle, die ich im Bundestag erlebt habe. Der Abschnitt im Jahressteuergesetz 2007, bei dem es um die Cum-Ex-Geschäfte ging, entstand fast wörtlich aus einem Vorschlag des Bankenverbandes, der wiederum auf die Deutsche Bank zurückging. Danach ging es erst richtig los mit dem Betrug. So etwas darf nicht sein.

"Die Diskussion über Erbschaftssteuern gehört zu den krassesten Lobbyschlachten."

Schätzungen besagen, dass von 2015 bis 2024 ­Werte in Höhe von 3,1 Billionen Euro vererbt wurden und ­werden. 2018 hat der Staat aber nur 6,7 Milliarden Euro an ­Erbschaftssteuern eingenommen. Ist das gerecht?

Nein. Die hohen Vermögen konnten ja nur aufgebaut ­werden, weil Staat und Gesellschaft Frieden und Sicherheit gewährleistet haben. Die Diskussion über Erbschaftssteuern gehört zu den krassesten Lobbyschlachten, die ich erlebt habe. Menschen mit großem Vermögen konnten viel Geld einsetzen, um die öffentliche Meinung zu beein­flussen. Das ist ihnen mit einem semantischen Trick gelungen. Es ging irgendwann gar nicht mehr darum, ­Milliardenvermögen zu besteuern, sondern es war nur noch von Familien­unternehmen die Rede, die man ge­fährde. Oder von Erben, denen man das Haus neide, für das die Eltern hart gearbeitet hätten. Es gibt auch immer den Versuch, die Diskussion auf die Einkommensverteilung zu lenken. Bei den Einkommen geht es in Deutschland aber gar nicht so ungleich zu. Es geht um die Vermögens­verteilung – und deshalb um eine faire Erbschaftsbe­steuerung. Die starke Vermögenskonzentration ist eine Gefahr, Finanzkrisen sind immer auch Verteilungskrisen.

Die Krise ist vorbei, Herr Schick. Die Arbeitslosenquote ist erfreulich niedrig, es gibt einen Bauboom . . .

Die Finanzkrise hat sich nur in die Wohnzimmer verlagert. Als 2008 die Banken wackelten, haben die ­meisten Bürger davon gar nicht so viel mitgekriegt. Aber die ­Finanzkrise ist nie richtig bewältigt worden. Die Niedrig­zinsen, die eine Folge der Verwerfungen sind, haben die Immobilienpreise massiv nach oben getrieben. Viele Menschen ­können sich die Mieten nicht mehr leisten. Das gilt auch für die Alters­vorsorge. Erste Pensionskassen sind umgekippt. Bei den Lebensversicherungen kommt ­immer ­weniger rüber. Darüber reden die Leute jetzt in ihren Wohnzimmern. Die Immobilienspekulationen ­rühren auch aus der Angst vieler Finanzmarktakteure, dass es noch mal wackelt. Sie misstrauen den Wertpapieren und gehen lieber ins Betongold. Manche Investoren kaufen Immobilien und lassen sie leer stehen, um sie später mit Gewinn verkaufen zu können. Das ist ein Markt, auf dem es nicht mehr um Menschen geht, sondern ein Markt, auf dem Immobilien zu Wertpapieren geworden sind.

Wer ein Haus erbt oder sich noch eines zu erschwinglichen Preisen gekauft hat, sieht das anders. Und andere sagen sich: Wenn ich die Raten nicht bedienen kann, verkaufe ich das Haus eben wieder – mit Gewinn.

Das kann man aus der Logik eines Hausbesitzers heraus verstehen. Aber wenn Immobilien zum Spekulationsobjekt werden, war das häufig ein Auslöser für Finanzkrisen. Und das muss uns als Gesellschaft Sorgen machen. Wir zahlen schließlich immer noch für die Krise 2008/2009.

Bitte?

Ja, die Bankenrettung hat uns in Deutschland 68 Milliarden Euro gekostet. Das Bundesfinanzministerium hat das nie klar berechnet und die Bürger informiert. Ich habe die Informationen mit mehreren parlamentarischen An­fragen zusammengetragen. Und es geht ja weiter. In ­Niedersachen und Sachsen-Anhalt ist gerade wieder mit über drei Milliarden Euro die Landesbank Nord LB gerettet worden. Das ist auch nicht die erste Rettung dieser Bank.

"Erst verlieren Menschen das Vertrauen in die Finanzwirtschaft – und dann in die Demokratie"

Häufig sind es ja Garantien. Das Geld ist nicht weg.

Leider nein. Die 68 Milliarden sind echter Verlust. Nehmen Sie den Anteil des Staates an der Commerzbank. Es kann sein, dass man den noch mal verkaufen kann, aber der heutige Kurs ist deutlich unter dem Kaufpreis. Ich halte es für ausgeschlossen, dass der Staat mit einer Null rauskommt. So eine Bankenrettung darf sich nicht wiederholen. Sie führt dazu, dass die Menschen das Vertrauen in die Finanzwirtschaft verlieren – und auch in die Demokratie.

Das müssen Sie erklären!

In Ungarn ist das ganz deutlich. Viktor Orbán war ­lange ein unbekannter Politiker. Viele Ungarn finanzierten ­ihre Immobilien mit Krediten, die in Euro oder ­Schweizer Franken notiert waren. Als der Forint in der Krise abstürzte, waren diese Menschen überschuldet, weil der Euro und der Franken viel teurer waren und sie mehr abbezahlen mussten. Orbán stellte sich an die Seite ­dieser Leute und zwang die Banken, einen Teil dieser ­Schulden zu erlassen – er hat die Wahl gewonnen, mit allen ­Folgen für die Demokratie. Auch die AfD ist ja nicht in der ­Flüchtlingskrise entstanden, sondern in der Eurokrise. Trump kann man ebenfalls nicht ohne die Krise erklären. Moritz Schularick, ein Wirtschaftshistoriker, hat nachgewiesen, dass Finanzkrisen regelmäßig zu einem Rechtsruck führen.

Da verliert man ja die Hoffnung!

Im Gegenteil! Gemeinsam können wir etwas bewegen, wie der Fall Cum-Ex zeigt. Dort haben wir für öffentliche Aufmerksamkeit gesorgt. Und auch – erfolgreich – Druck gemacht, dass mehr Personal bereitgestellt wird, um die Täter zu verfolgen. Zusammen schafft man das. Wenn sich die vielen bei uns engagieren, die sich über Banken, Versicherungen oder Inkassounternehmen ärgern, dann können wir eine Finanzwende erreichen.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.
Permalink

Sehr geehrte Damen und Herren,
es gehört schon sehr viel Mut dazu und verdient Hochachtung, wenn Gerhard Schick sein Bundestagsmandat aufgegeben hat, um gegen die übermächtige Finanzlobby für gerechte Finanzmarktreformen und besseren Verbraucherschutz mit Unterstützung einer wachsenden Graswurzelbewegung erfolgreich zu kämpfen. Gerade erst hat er seine gewichtige Stimme auf einer Berliner Tagung des „Netzwerk Plurale Ökonomik“ zum Thema „Der nächste Crash als Chance“ erhoben und darauf hingewiesen, dass es auch von der Größe der Banken abhänge, ob ein Finanzsystem krisenanfällig ist.
In Kanada habe es zum Beispiel keine Bankenkrise ab 2008 gegeben, weil dort keine Bankenfusionen stattfanden, die zu Rettungsmaßnahmen unter dem Stichwort „too big to fail“ ( zu groß, um die Banken scheitern zu lassen) geführt hätten. „Gegenmacht tut not“ könnte ein guter Slogan für die weitere Arbeit der Bürgerbewegung Finanzwende unter der hoffentlich erfolgreichen Ägide von Gerhard Schick lauten!
Mit freundlichen Grüßen
Hans-Henning Koch