Foto: Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Marko Priske
"Opfer, für die sonst niemand was tut"
Hagai Aviel veröffentlichte entgegen den Auflagen des Bundesarchivs die Namen von 30 000 Behinderten, die in der NS-Zeit ermordet wurden.
Ruthe Zuntz
05.10.2014

chrismon: Wie kamen Sie an die Liste der NS-Euthanasieopfer?

1998 nahm ich in Berlin an einem Tribunal über Menschenrechte in der Psychiatrie teil. Dort erfuhr ich zum ersten Mal von den Euthanasiemorden, die bis heute in Israel kaum ein Thema sind. Später hörte ich von dieser Liste im Bundesarchiv. Ich bat darum, weil ich sie am Rande einer Gedenkveranstaltung in Berlin vorlesen wollte. Das Bundesarchiv gab mir eine Diskette mit einer Liste aller Namen, die aus der Kanzlei des Führers stammte.

Sie haben 30 000 Namen vorgelesen?

Ja, an drei Tagen im Dezember 2002 in Berlin vorm KaDeWe – zusammen mit Aktivisten des Landesverbands Psychiatrie-­Erfahrener. Wir wechselten uns wegen der Kälte alle paar Stunden ab, ich trug fünf Schichten Klamotten. Mehrere Passanten fragten uns nach ihren Verwandten und wir ließen sie in einem Büchlein nachschlagen, das wir extra vorbereitet hatten. Manche wussten nur, dass ihre Verwandten starben, aber nicht, dass sie ermordet wurden.


Dann verstießen Sie gegen eine Auflage des Bundesarchivs und veröffentlichten die Namensliste im Internet. Warum?

Weil ich für die vergessenen ­Opfer eintrete, für die sich sonst niemand engagiert. Und weil viele Menschen heute oft nur wissen, dass ihre Verwandten in der Nazi-Zeit starben, aber nicht, dass sie ermordet wurden. Ich habe zahlreiche Briefe und E-Mails von Deutschen erhalten, die mir für diese Ver­öffentlichung gedankt haben.

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Ich finde es sehr wichtig, dass diese Morde nicht vergessen werden.
Aber aktuell sterben Leute an den schlimmen Nebenwirkungen von Neuroleptika. Und anderen schlimmen Psychiatriechemikalien. Das muss aufhören.

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Diese Auflagge ist für mich in Zeiten des Internet nicht nachvollziehbar ist. Der Verstoß dagegen ist für mich der einzig richtige Weg, das immer noch vorhandene Deckeln zu beenden. Denn Standesamtliche Unterlagen mit fragwürdigen Todesursachen einfach so ins Internet zu stellen, ohne jeglichen Hinweis für eine neue Generation, ist für mich nicht nur weiter deckeln. Eigentlich ist es ein erneutes Unrecht den Opfern und auch Angehörigen gegenüber! – So geschieht es leider auch heute „2019“ noch.