Eigentlich geht es in der Bioethik-Debatte nur um eine Frage: Was ist ein Mensch? Dem Lebensschützer passt die Antwort des Pragmatikers nicht — und umgekehrt
22.11.2013

CHRISMON: Herr Hüppe, Herr Merkel, Sie interessieren sich beide sehr für frühes, bedrohtes und behindertes Leben. Wie kommt das? Welche Rolle spielen persönliche Erfahrungen?

HUBERT HÜPPE: Ich habe drei Kinder, darunter einen Sohn mit Spina bifida — also mit offenem Rücken. Da merkt man, wie Behinderte diskriminiert werden. Wir haben zum Beispiel lange darum gekämpft, dass er auf eine Regelschule gehen kann. Was es da für Vorurteile gibt! Aber für bedrohtes Leben setze ich mich schon viel länger ein, auch als Politiker. Das hat auch mit meinen religiösen Überzeugungen zu tun. Zuerst hat mich die Abtreibungsfrage beschäftigt, dann kamen die Präimplantationsdiagnostik dazu und die Forschung an Embryonen. Und ich muss leider feststellen: Wenn man einmal anfängt, irgendwo die Menschenwürde einzuschränken, rutscht sie auch in anderen Bereichen. Das beste Beispiel dafür sind die Niederlande: Die haben mit als Erste in Europa die Abtreibung freigegeben.
Jetzt sind sie bei der Euthanasie ganz vorne.

REINHARD MERKEL: Ich habe zwei gesunde Kinder. Mein Interesse ist primär das an den schwierigen ethischen Fragen dieser Sphäre. Und um solche Fragen zu klären, brauche ich eine intensive persönliche Erfahrung mit Behinderten nicht; denn dabei geht es nicht, wie oft gesagt wird, um Probleme behinderten Lebens. Es ist unbestritten und unbestreitbar, dass jeder geborene Mensch, und wäre er noch so schwer behindert, ein gleiches Grundrecht auf Leben und Würde hat wie jeder andere. Trotzdem gibt es Situationen, in denen man schwer geschädigtes Leben ohne Intervention zu Ende gehen lassen oder sogar aktiv beenden darf. Das betrifft beispielsweise Neugeborene, die man ohne jede Bemühung zur Lebenserhaltung sterben lässt, nachdem klar geworden ist, dass ihre Lebensspanne extrem begrenzt und extrem qualvoll sein wird.

CHRISMON: Was für Krankheiten haben diese Kinder?

MERKEL: Ich nenne Ihnen von Dutzenden eine: Sie heißt Epidermolysis bullosa atrophicans letalis. Kinder, die damit geboren werden, leben in aller Regel längstens vier Wochen. Ihre Haut löst sich vom Körper ab. Das ist ein äußerst schmerzhafter Vorgang, der mit Schmerzmitteln nicht ausreichend zu lindern ist. Wer das Leben dieser Kinder intensivmedizinisch verlängert, verlängert auf verwerfliche Weise ihre Qual. Und wer sie einfach bloß sterben lässt, verurteilt sie immer noch zu einem furchtbaren Tod. Man kann aber aus dem unbestrittenen Recht auf Leben weder ethisch noch rechtlich eine Pflicht zu einem qualvollen Sterben ableiten. Daher berührt selbst die aktive Tötung solcher Kinder deren Recht auf Leben nicht, verletzt es also auch nicht; und moralisch kann sie in Extremfällen unbedingt geboten sein.

CHRISMON: Herr Hüppe, Sie sagen: Wehret den Anfängen.

HÜPPE: Weil Ausnahmen keine Ausnahmen bleiben. Bisher war es immer so. Ich kann mich noch erinnern, dass genau mit solch schrecklichen Einzelfällen die Pränataldiagnostik eingeführt worden ist. Heute ist sie die Regel bei Schwangerschaften in Deutschland. Man tötet auf ihrer Basis Kinder mit Down-Syndrom. Obwohl man bei diesen Menschen noch nicht einmal mit ihrem Leiden argumentieren kann. Dahinter sehe ich ein Muster: Erst nimmt man ganz schlimme Fälle, wo jeder sagt: O Gott, die leiden ja furchtbar! Und daraus macht man eine neue Regel. Über Mitleid wird das Tötungsverbot ausgehöhlt. Dagegen kämpfe ich. Es ist verboten, Menschen aktiv zu töten. Außer zur Notwehr.

MERKEL: Aber wir kennen neben der Notwehr auch den Notstand als rechtliches Prinzip. Das Schicksal des Kindes, das ich eben geschildert habe, ist für mich ein extremer Fall des Notstands. Ich will keiner Bewegung für die Euthanasie das Wort reden. Aber ich sage: Wir haben klare Kriterien für die Ausnahme von der Regel des Tötungsverbots. Und die dürfen, ja müssen wir anwenden. Und zwar allein zum Wohl von Neugeborenen, die aussichtslos und qualvoll leiden. Solche sauber begründeten Ausnahmen untergraben nicht im Geringsten die zu Grunde liegenden Verbote — so wenig, wie es die Ausnahme der Notwehr tut.

CHRISMON: In der gegenwärtigen Debatte geht es allerdings nicht um das Lebensrecht von Neugeborenen, sondern um das von Embryonen: Mit Hilfe von embryonalen Stammzellen könnten eventuell Therapien für heute unheilbar Kranke entwickelt werden. Darf ich einen Menschen töten, um einem anderen vielleicht einmal helfen zu können?

HÜPPE: Auf keinen Fall. Denn schon der frühe Embryo ist ein Mensch. Also gilt für ihn, was im Grundgesetz steht: Die Menschenwürde ist unantastbar. Ich dürfte ja auch keinen Wachkoma-Patienten töten, um mit seinen Organen anderen Kranken zu helfen.

CHRISMON: Herr Merkel, Sie würden den Wachkoma-Patienten nicht töten, aber den Embryo im Zweifel schon?

MERKEL: Erst einmal möchte ich dem von Herrn Hüppe genannten Prinzip zustimmen. Es ist absolut indiskutabel, einen Menschen, der Grundrechtsträger ist, allein zugunsten Dritter — und wären es ein Million oder mehr — zu töten. Aber nicht jedes lebende menschliche Wesen ist ein Grundrechtsträger. Denken Sie etwa an Hirntote. Genauso wenig wie sie Grundrechtsträger sind, ist es der frühe Embryo.

CHRISMON: Ein gewagter Vergleich.

MERKEL: Warum? Sie meinen, weil der Hirntote tot ist? Das kann man aber keineswegs so einfach sagen. Denn nur das Gehirn ist tot, 97 Prozent der Körpersubstanz eines Hirntoten leben biologisch noch, also wesentlich mehr als etwa bei einem...

Der Lebensschützer: „Es ist so oft schief gegangen, wenn es Möglichkeiten zur Selektion gab“

HÜPPE:...Beinamputierten, das kenne ich schon.

MERKEL: Nun eben. Trotzdem beenden wir das biologische Leben des Hirntoten aktiv, und zwar zugunsten Dritter, indem wir ihm Organe entnehmen. Das dürfen wir nur, weil er kein Grundrechtsträger ist, obwohl er als Mensch biologisch noch lebt. In solchen Grenzfällen menschlicher Existenz haben wir zwei Quellen, eine Grundrechtsträgerschaft zu bestimmen:

Erstens das Grundgesetz, zweitens die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Was den Embryo angeht, hat die Mehrheit des Parlamentarischen Rats 1949 gegen die ausdrückliche Aufnahme ungeborenen Lebens in Artikel eins und zwei gestimmt. Also: Der Verfassungstext selbst macht den Embryo nicht zum Grundrechtsträger. Was sagen nun die Verfassungsrichter? In der Abtreibungsentscheidung von 1993 verstricken sie sich in selbstdestruktive Widersprüche. Zunächst betonen sie, der Embryo genieße das subjektive Recht auf Leben. Aber anschließend verpflichten sie den Staat, landesweit die Möglichkeit massenhafter Abtreibungen zu garantieren, also von Rechts wegen an den angeblich rechtswidrigen Tötungen mitzuwirken. Und genau das ist die ausnahmslos verwirklichte Rechtspraxis. Unter solchen Umständen ist aber der angebliche Grundrechtsträger keiner mehr, egal, ob man ihn so nennt oder nicht. 

HÜPPE: Ich kann solche Argumente nicht akzeptieren. Um die Frage zu beantworten, wer Mensch ist und damit ein Recht auf Leben hat, gibt es kein anderes überzeugendes Kriterium als das biologische: Das menschliche Leben beginnt mit der Verschmelzung von Samen und Eizelle. Alles andere ist gefährlich. Denn weniger eindeutige Kriterien können je nach Interessenlage verändert werden. Das sieht man doch in der Debatte um die PID und embryonale Stammzellen. Da lässt man sich schnell mal neue Definitionen einfallen. Politiker, die vor zehn Jahren noch ganz anders abgestimmt haben, entdecken plötzlich, dass der Embryo vor seinem 14. Entwicklungstag noch gar kein Mensch ist. Also ist er vogelfrei, man kann ihn für die Forschung benutzen. Solchen Leuten unterstelle ich, dass für sie der Zweck die Mittel heiligt.

CHRISMON: Für Sie, Herr Merkel, ist klar, dass ein früher Embryo kein Mensch ist. In einem Aufsatz brachten Sie dazu das Beispiel vom brennenden Labor.

MERKEL: Zunächst: Nein, das sage ich keineswegs. Der Embryo ist sehr wohl ein lebendes menschliches Wesen, aber eben kein Grundrechtsträger. Dann zu meinem Beispiel: Ich stelle mir ein brennendes Labor vor, in dem auf der einen Seite zehn oder auch 10 000 am Vortag befruchtete Embryonen liegen und auf der anderen Seite ein bewusstloser Säugling. Sie können als in das Labor eindringender Retter nur entweder die Embryonen oder den Säugling retten. Jeder Mensch würde nun sagen: „Ich rette den Säugling.“ Das Beispiel beweist nichts im strengen Sinne, aber es illustriert etwas: nämlich, dass es nach unseren moralischen Intuitionen einen fundamentalen Unterschied gibt im Gewicht unserer Pflichten gegenüber einem Säugling und gegenüber frühesten Embryonen.

HÜPPE: Und was ist, wenn die Kinderstation und die Wachkoma-Station brennen, ich kann aber nur eine räumen? Wollen Sie aus der Entscheidung in diesem Fall dann doch ableiten, dass man Wachkoma-Patienten ausschlachten sollte? Es geht in diesen Beispielen um emotionale Beziehungen — aber was sagen die über Lebensrechte aus? Wenn ich die Wahl hätte, meine Frau zu retten oder einen gänzlich Unbekannten oder sogar Sie, Herr Merkel, würde ich natürlich erst meine Frau retten. Aber damit spreche ich Ihnen nicht das Lebensrecht ab. Das ist doch sowieso ein Scheinkonflikt. Altbundespräsident Roman Herzog treibt es da bis zum Letzten. Er sagt: Wer die Embryonen nicht sofort freigibt, blockiert die Heilung von Mukoviszidose-kranken Kindern. Aber wenn es dem Herrn Herzog um das Leben von Kindern geht, warum will er dann an die Embryonen ran? Er könnte mit seinem Einkommen Tausende Kinder überall auf der Welt dadurch retten, dass er ihnen eine Impfung ermöglicht.

Der Pragmatiker: „Jeder Mensch würde den Säugling retten. Und nicht die Embryonen“

MERKEL: Noch einmal: Ich kann und will damit gar nicht beweisen, dass die embryonale Stammzellenforschung zulässig ist! Was ich zeige, ist der gravierende Unterschied in unseren Pflichten gegenüber frühen Embryonen einerseits und geborenen Menschen andererseits. Und dieser Unterschied sollte uns zur genaueren Klärung seiner Gründe nötigen.

HÜPPE: Moment, das stimmt nicht. Sie schreiben in einem Aufsatz, es wäre unbarmherzig, wenn man Embryonen nicht töten dürfte, um mit ihren Zellen geborenen Menschen zu helfen.

MERKEL: Ich attestiere dem Embryonenschutzgesetz eine gegenüber schwer leidenden Menschen unbarmherzige Verweigerung, ja.

HÜPPE: Aber damit öffnen Sie doch einer finsteren Abwägung Tür und Tor. Was ist das dann noch anderes als die Praxis in China? Menschen, die zum Tode verurteilt wurden, werden dort als Organspender ausgeschlachtet. Nach dem Motto: „Wenn der eh stirbt, dann kann er doch mit seinen Organen anderen helfen.“

MERKEL: Damit haben Sie selbstverständlich Recht, Herr Hüppe, das darf man nicht. Auch bei Krebskranken im Endstadium könnte niemand sagen: Töten wir sie schnell, damit wir noch etwas von den Organen haben. Denn diese Kranken sind Menschen mit dem subjektiven Grundrecht auf Leben. Aber gerade das sind frühe Embryonen nicht, und mein Laborbeispiel illustriert das lediglich.

HÜPPE: Aber damit wir gar nicht erst in Situationen kommen, in denen wir solche Fragen diskutieren müssen, dürfen wir das Tötungsverbot an keinem Ende der menschlichen Existenz ausfransen lassen. Sonst riskieren wir eine totale Beliebigkeit, eine Rutschbahn, einen slippery slope: Töten ist intolerabel, und da bin ich intolerant. Und weil Sie eben mit dem Abtreibungsurteil kamen: Mich überzeugt es in einigen Punkten auch nicht. Aber das Argument der Richter war, mit dem reinen Abtreibungsverbot kann man Leben nicht gut schützen — dann treiben die Frauen eben heimlich ab. Wenn sie sich aber beraten lassen müssen, kann man ihnen Beratung im Sinne des Lebensschutzes anbieten. Dieses Zugeständnis braucht man bei der PID nicht. Man kann eine PID nicht heimlich machen, weil da zu viele Menschen involviert sind. Da funktioniert das Verbot also.

CHRISMON: Herr Merkel, wenn Ihnen die Einheitlichkeit des Rechts über alles geht, dann könnten Sie sich wohl mit Herrn Hüppe auf ein Abtreibungsverbot einigen?

MERKEL: Nein. Ich finde zwar, dass der Papst vor dem Hintergrund der katholischen Lehre eindeutig Recht hatte, als er die deutschen Bischöfe anwies, aus dem Beratungssystem auszusteigen. Denn wer glaubt, auch der Embryo sei Ebenbild Gottes und seine Tötung ein schweres Delikt, der darf keine Beihilfe zur einzelnen Abtreibung leisten, selbst wenn er die Gesamtzahl der Abtreibungen damit zu verringern hofft. Ich selbst halte Abtreibungen aber für zulässig, eben weil ich im frühen Embryo keinen Grundrechtsträger sehe.

HÜPPE: Dann legen Sie die Karten doch mal auf den Tisch! Sind Sie auch dafür, dass sich eine Frau dreimonatige Föten entnehmen lässt, um mit den Zellen ihrem Vater zu helfen, der an Parkinson erkrankt ist? Eine Amerikanerin wollte das!

MERKEL: Vor der zwölften Entwicklungswoche des Embryos fände ich das ethisch wie rechtlich noch vertretbar. Der weiterentwickelte Fötus ist dagegen im moralischen Sinne immerhin ein möglicher Träger subjektiver Rechte, der Embryo nicht. Das heißt aber nicht, dass ich Embryonen völlig ungeschützt lassen will. Wir dürfen ja auch mit Leichen, die keine Grundrechtsträger mehr sind, nicht beliebig verfahren. So etwas tangiert die Würde der Toten und der Lebenden. Wir wollen eine insgesamt humane Gesamttextur unserer Normenordnung. Dazu gehört, dass wir alle menschliche Substanz nicht wie eine Sache behandeln.

CHRISMON: Was dürfte man mit Embryonen nicht tun?

MERKEL: Man darf mit ihnen nicht auf eine Weise verfahren, die ich, ganz abstrakt, frivol nennen möchte. Frivol in diesem Sinne wäre etwa die Zeugung von Mensch-Tier-Hybriden. Alles, was lediglich der Befriedigung einer Forscher- oder Bastellaune dient. Ich würde auch eine Präimplantations-Auswahl von Embryonen nach Haar- und Augenfarbe verbieten.

HÜPPE: Warum?

MERKEL: Nun eben im Blick auf den Gesamtcharakter unserer Normenordnung. So etwas würde nicht zu einer humanen Gesellschaft passen.

CHRISMON: Was wäre mit der PID-Auswahl nach Geschlecht?

MERKEL: In Ländern, in denen es echte gesellschaftliche und vielleicht sogar gesetzliche Diskriminierung von Frauen gibt, wäre das ein verheerendes Werkzeug, sollte also dort generell nicht erlaubt sein. Aber wenn etwa in Deutschland, Frankreich oder Amerika eine Familie mit — sagen wir — fünf Töchtern die Selektion eines männlichen Embyos wünscht, würde ich das für ethisch unbedenklich halten.

HÜPPE: Das bestätigt doch alles, was ich vorher gesagt habe: Wir kommen da auf eine Rutschbahn. Was ist denn, wenn die Familie vier Töchter hat? Oder drei?

MERKEL: Normative schwierige Grenzen muss man immer ziehen, und in tausend anderen Bereichen auch. Reden wir doch einmal über die Dinge, die heute schon möglich sind: Dass bei uns Kinder mit Down-Syndrom im sechsten, siebten, achten Monat noch abgetrieben werden dürfen, das ist — und da sind wir sogar einer Meinung — ein Skandal. Noch einmal: In den ersten drei Monaten, in denen der Embryo nach allem, was wir aus der Embryologie wissen, nichts erleben kann, ist er genau deswegen subjektiv auch nicht schädigungsfähig. In dieser Phase würde ich lediglich Praktiken ausschließen, die frivol sind, aber nicht die Tötung. Danach greift eine abgestufte und sich stetig verstärkende Garantie subjektiver moralischer Schutzpositionen: Je weiter sich ein Fötus entwickelt, je mehr er erlebt, desto umfassender muss man ihn schützen. Wie das rechtlich am besten zu machen wäre, kann hier offen bleiben.

HÜPPE: Aber das ist doch genau das, was ich kritisiere. Sie führen jetzt wieder irgendein Kriterium ein, in diesem Fall: „Der kann subjektiv nichts erleben.“ In der zwölften Woche glaube ich das übrigens keinesfalls.

MERKEL: Na gut, über embryologische Erkenntnisse will ich nicht streiten; dann bleiben wir doch beim frühen Embryo.

HÜPPE: Aber genau das ist doch die Rutschbahn. Da kann man immer ganz flexibel sagen, na gut, dann nehmen wir eben den nächst Kleineren oder den nächst Größeren, wenn die Forschung mehr mit dem anfangen kann. Und genau das ist der entscheidende Punkt. Nehmen wir einmal an, das funktioniert nicht, aus den Stammzellen frühester Embryonen Ersatzzellen für Kranke zu züchten. Ich glaube nicht, dass die, die jetzt plötzlich darauf kommen, dass der 14. Tag entscheidend für den Beginn der Menschenwürde ist, weil der Embryo sich in die Gebärmutter ein- nistet, dann dabei bleiben würden. Die Rutschbahn ist real!

MERKEL: Überhaupt nicht. Die Einstellung in der Bevölkerung mag dies und das sein. Aber in der Rechts- und Normenentwicklung — und auf die kommt es an — ist dieses Rutschbahnrisiko sehr irreal. Und hier sind wir heute weit hinter dem moralisch Zulässigen und Gebotenen. Sie kommen mir vor wie einer, der sagt: Wenn wir die Geschwindigkeitsbeschränkung in den Städten auf 55 Stundenkilometer anheben, dann ist der Weg zur unbeschränkten Raserei vorgezeichnet. Ich sage Ihnen, dass mit dem 14. Tag eine ganz plausible Grenzmarke gefunden ist, und setzt man die rechtlich fest, dann muss man ihre Beachtung garantieren. Aber selbstverständlich wäre es ethisch überhaupt kein Unterschied, ob sie am 14. oder am 15. Tag gesetzt wird.

HÜPPE:...oder am 20. Tag.

MERKEL: Ja, denn wir sind auch am 20. Tag noch lange nicht in der Nähe des Punktes, an dem die Erlebensfähigkeit beginnt und damit der moralisch begründbare Status als Rechtsträger.

HÜPPE: Also ist der 20. Tag immer noch nicht das letzte Wort! Wir können in die Geschichte gucken, es ist so oft schief gegangen, wenn es Möglichkeiten zur Selektion von Menschen gab. Wie kann man dann so naiv sein zu glauben, dass es ausgerechnet bei der PID und bei der Stammzellenforschung nicht schief gehen wird!

MERKEL: Einzelne Missbräuche kann man nie und nirgends ausschließen, auch beim vollständigen Verbot übrigens nicht. Aber das ist gerade kein „Dammbruch“, es zerstört nicht das Normengebäude. Es gibt ja auch Leute, die bringen andere um, ohne dass deswegen Dammbrüche beim Mordverbot zu befürchten wären. Wir haben moralisch kein Recht, wegen befürchteter unerwünschter Nebenwirkungen eine moralisch gebotene Hauptwirkung gänzlich zu blockieren.

HÜPPE: Natürlich dürfen wir das. Der Atomwaffen-Sperrvertrag gibt doch da ein Beispiel. Weil das Risiko des Missbrauchs zu groß ist, verbieten wir die Weitergabe von Atomwaffen insgesamt.

MERKEL: Wenn die Nebenwirkungen die Existenz der Welt aufs Spiel setzen, dann darf man das. Ansonsten muss man eben abwägen.

 

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