Die Stadt ist belagert. Jetzt nicht aufgeben, heißt es. Und: Schwarzmaler sind wegzusperren oder zu töten! Doch dann wird der König nachdenklich. Einer der Weggesperrten hatte anderen stets schonungslos die Wahrheit gesagt, bislang lag er mit allen Prognosen richtig. Der König lässt ihn heimlich holen und fragt: "Was wird aus mir?" Der Gefangene sagt: "Wenn ich dir die Wahrheit sage, bringst du mich um." Der König schwört, ihn am Leben zu lassen. Der Gefangene sagt: "Gib auf. Der Feind tut dir nichts. Die Stadt wird sowieso erobert. Ergibst du dich aber nicht, wird sich der Feind übel an dir rächen." Der König hält sein Wort und lässt den Schwarzmaler am Leben. Aber er verlangt: "Wenn dich meine Hauptmänner fragen, was du mit mir besprochen hast, sag ihnen, du hättest mich um Gnade gebeten."
Was soll der Wahrheitssager tun? Ist er den Hauptmännern gegenüber ehrlich, muss er einen sinnlosen Heldentod sterben. Und irgendeine Erklärung werden sie von ihm verlangen. Insofern wäre eine Notlüge in diesem Fall bestimmt akzeptabel, oder?
Abrahams Lüge - kein Problem. Die des Petrus - schon eher
Das Neue Testament findet dazu große Worte. Die sündige Menschheit habe Gottes Wahrheit in Lüge verkehrt, wettert der Apostel Paulus. Der Verfasser des 1. Timotheusbriefes stellt Lügner und Meineidige in eine Reihe mit Elternmördern, Knabenschändern und Menschenhändlern.
Christen sollen nur Wahrheit reden, ein
jeder mit seinem Nächsten, schreibt ein anderer.
Aber funktioniert das auch immer? Abraham bediente sich laut Altem Testament gleich mehrfach einer Notlüge. Zweimal gab er seine schöne Frau Sara als Schwester aus. Er fürchtete, neidische Fremde könnten ihn aus dem Weg räumen, um sich dann die Witwe als Frau zu nehmen. Solche Erzählungen hinderten Christen aber nie daran, Abraham als Glaubensvorbild zu ehren.
In anderen Fällen war man weniger
nachsichtig. Petrus, später einer der wichtigsten Apostel, war der Palastwache nach Jesu Verhaftung bis in den Hof des Hohepriesters gefolgt. Dort erkannte ihn unter anderen eine Magd: "Du warst doch auch mit dem Jesus aus Galiläa." Petrus leugnete: "Ich kenne diesen Menschen nicht." Auch eine Notlüge – aber die nahm man dem Jünger übel. Sie haftet Petrus bis heute als Makel an.
Die eigene Not zählt nicht als mildernder Umstand
Dass jemand aus eigener Not lügt, entschuldigt aus Sicht der biblischen Autoren noch gar nichts. Wer vor Gericht täuscht, macht sich des Meineides schuldig. Da zählen keine mildernden Umstände. Denn eine solche Lüge zerstört nicht nur Vertrauen. Sie bringt auch das Rechtsgefüge durcheinander und verhindert ein gerechtes Urteil. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten, fordert das achte Gebot – ohne Wenn und Aber. Verzeihlich wird Geflunker erst dann, wenn es sonst niemandem schadet.
Die Bibel verurteilt auch boshaftes Lügen im Alltag. Erst schmeicheln und dann hinterrücks lästern geht gar nicht. Etwa wenn die Kollegen "Das Kleid steht dir gut!" ausrufen – und kaum hat die Dame den Raum verlassen, zerreißen sie sich den Mund: "Wurstpelle!" – "Glatte Lippen und ein böses Herz, das ist wie Tongeschirr, mit Silberschaum überzogen", also wertloses Blendwerk, schimpft das Buch der Sprüche. Egal, ob die Geschädigte das Geläster mitbekommt oder nicht.
Anderen die Seligkeit verbauen, geht gar nicht
Ganz schlimm sei es aber, wenn jemand die Frommen vom rechten Weg abbringt und auf die Weise "Gottes Wahrheit in Lüge verkehrt". Anderen die Seligkeit verbauen, da überbieten biblische Autoren einander mit Verwünschungen. Schon fehlender Bekennermut wird gerügt, wie das Beispiel des Petrus zeigt.
Der Schwarzmaler aus der Anfangsgeschichte heißt Jeremia. Als Prophet verkündete er stets die bittere Wahrheit. Seine Begegnung mit König Zedekia, während die Babylonier Jerusalem belagerten, kann man nachlesen: Jeremia 38. Als der König ihn gehen ließ, fragten die Hauptmänner Jeremia tatsächlich, was er mit dem König beredet habe. Er habe Zedekia um Gnade gebeten, redete er sich raus. Bislang hat noch niemand Jeremia diese Lüge übelgenommen. Er hat ja auch niemandem damit geschadet.
Chrismon 03.2019
Sehr geehrter Herr Weitz,
in Ihrem Artikel „Sind Notlügen erlaubt“ erläutern Sie eine Problematik mit Beispielen aus der Bibel. Es gibt Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit, die eine andere Sichtweise ebenfalls nicht ausschließen. So habe ich mehrere Personen sehr gut gekannt, die während der Besatzungszeit meiner Heimat durch Nazi-Deutschland Juden versteckt hatten. Bei Hausdurchsuchungen wurden die Bewohner nach versteckten Juden befragt. Was meinen Sie, wäre mit meinen Angehörigen und den von Ihnen geschützten Menschen passiert, wenn dort die Wahrheit gesprochen worden wäre?
So viel zum Thema Notlügen und praktizierte Menschenliebe.
Mit freundlichem Gruß
Dr. Rintje Osinga
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Ihre Kommentare
Dr. Osinga,
gut, dass sie dies so deutlich formulieren, sonst wäre es noch schlimmer ausgegangen
als es schon war.Das Institut in Ludwigsburg verfolgt immer noch Naziverbrecher, die über 90 sind und sich lange verstecken konnten. Teilweise tätigten sie Tötungen an über 5000 Menschen, sind schuldig dieser Verbrechen und werden immer noch zur Rechenschaft gezogen.
Liebe Grüße Dr. Bernd Rheinländer
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