Fragen an das Leben - Robert Seethaler
Fragen an das Leben - Robert Seethaler
Dirk von Nayhauß
"Bloß kein ­Taschentuch!"
Tränen sollen fließen, nicht sofort weggetrocknet werden. Nur dann, sagt der Schriftsteller Robert Seethaler, stellt sich irgendwann auch Trost ein.
Dirk von Nayhauß
21.12.2018

chrismon: In welchen Momenten fühlen Sie sich lebendig?

Robert Seethaler: Vor allem in der Traurigkeit. Aber auch in Situationen wie dieser: Als mein Sohn etwa fünf Jahre alt war, bemerkte er: "Du hast ja Löcher in den Socken!" Aus Spaß antwortete ich: "Für so etwas habe ich kein Geld." Daraufhin nahm er aus seinem Sparschwein fünf Euro, es war der einzige Schein. "Kauf dir dafür neue Socken, lieber Papa." Ich habe mich so warm und beschenkt gefühlt und war gleichzeitig traurig, mit anderen Worten – lebendig.

Was können Erwachsene von Kindern lernen?

Schamlosigkeit. Ich möchte manchmal Kind sein, nur um meine Scham zu überwinden. Ich glaube, die Scham braucht oftmals keinen Grund. Man kann sich für vieles schämen – für eine falsche Tat, ein falsches Wort, für einen Fleck am Kragen. Oder man kann von Scham ganz durchdrungen sein, sie kann einem das Herz und die Seele durchsetzen. Man schämt sich, wenn man so will, für das komplette Sein.

Robert SeethalerDirk von Nayhauß

Robert Seethaler

Robert Seethaler, 1966 geboren, wuchs in Wien auf. Er besuchte die Schauspielschule, war engagiert an Theatern in Wien, Berlin und Stuttgart, in der TV-Serie "Ein starkes Team" war er für 40 Folgen der Pathologe Dr. Kneissler. Als Schriftsteller wurde er bekannt mit den Romanen "Der Trafikant" und "Ein ganzes Leben", zuletzt erschien "Das Feld". 2016 war er für den "Man Booker International Prize" nominiert. Zurzeit läuft die Verfilmung seines Buches "Der Trafikant" im Kino. Robert Seethaler hat einen Sohn und lebt in Berlin.

Haben Sie eine Vorstellung von Gott?

Den Gott der Priester und Lehrer mag ich nicht. Er ist für mich bloß eine Märchenfigur. In Erzählungen kann er meinen ­Widerspruchsgeist reizen, aber nicht mein Herz anrühren. Es wäre schön, wenn es etwas gäbe, das all unser Tun und Sein in einen übergeordneten Sinn einordnet. Manchmal fühle ich mich ganz gut aufgehoben – in was auch immer. Es ist seltsame Gedrängtheit gepaart mit großer Freiheit. Das kann zu Hause sein oder in der Natur, jedenfalls aber in der Stille.

Muss man den Tod fürchten?

Nicht den Tod, nur das Sterben. Die Frage nach dem, was bleibt, hat mich immer schon interessiert, so kam ich zu meinem Buch "Das Feld", in dem Tote auf ihr Leben zurückblicken. Würde ich selbst Rückschau halten, ginge es nicht um die großen Ereignisse des Lebens. Ein ­Eichhörnchen, das ich vorhin beobachtet habe. Momente mit meinem Kind, das Erlebnis mit den Socken oder die Erinnerung an seinen kleinen, schmalen Rücken. Müsste ich heute ­sterben, ich könnte es gerade ohne Reue. Ich leide und strample und kämpfe wie verrückt. Ich habe meine dunklen und ­traurigen Phasen. Aber gerade so, mit allen Hochs und Tiefs, ist mein Leben gut.

Welchen Traum möchten Sie sich noch erfüllen?

Ich habe kaum noch große Sehnsüchte in mir. Erfüllte ­Träume haben ja häufig mit Entzauberung zu tun: Das Kind will die ganze Torte auf einmal essen, aber nachher ist ihm schlecht. Als junger Mann wollte ich zu schnell ans Theater, ich habe mich ungeschützt ins Rampenlicht gestellt. Es gab quälende Momente dort oben auf der Bühne, im grellen Licht, den Blicken der anderen ausgesetzt, habe ich mich geschämt. Doch in der Rückschau war selbst das gut, es hat mich zu dem Weg geführt, auf dem ich mich jetzt befinde.

Was ist Glück?

Die Menschen reden oft von Glück, meinen aber in Wirklichkeit Sinn. So etwas wie die Erfüllung ihres Seins. Vielleicht kann man eine länger anhaltende Zufriedenheit mit immer wieder aufstrahlenden Glücksmomenten erleben, mehr ist es nicht.

Wie gehen Sie mit Schuldgefühlen um?

Mit dem Schuldbegriff sollte man vorsichtig sein, zu vorschnell wird Schuld zugeschrieben, und noch viel schneller wird entschuldigt. Wie soll man lernen, wenn einem gleich alles erlassen und vergeben wird? Es gibt keine allgemeingültigen Kriterien für Schuld. Für ein Kind ist sie etwas völlig anderes als für einen Erwachsenen. Abgesehen von der Missachtung elementarster Werte kann es so etwas wie objektive Schuld kaum geben, Schuld ist vor allem eine ­Abmachung innerhalb der Gemeinschaft.

Wer oder was hilft in der Krise?

Ich hatte Phasen, da gab es keinen Trost für mich. Alles, was tröstlich gemeint war, hat den Schmerz nur verstärkt. Doch so paradox es klingt: Manchmal ist gerade das die beste Hilfe. Das Leid anzunehmen, die Krankheit, den Kummer. Es wird zu leichtfertig getröstet. Die Traurigkeit muss erst einmal ins Fließen kommen, häufig wird einem aber sofort das Taschentuch gereicht. Als Geste ist das gut gemeint, aber es heißt eigentlich: Hör auf zu weinen. Stattdessen müsste man sagen: "So, jetzt weine erst mal, du hast allen Grund dazu!" – "Ist doch alles nicht so schlimm": Das ist kein Trost.

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„Tränen sollte man nie unterdrücken, sonst könnte vielleicht die Seele ertrinken,
wenn man sie nicht schon an den Teufel verkauft hat“

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Lieber Herr Seethaler,

Ja,ja,ja! Das kann man gar nicht oft genug sagen, dass Tränen so wohltuend sind und hilfreich. Erfahrungsgemäss herrscht die grösste Angst vor dem Weinen bei denen, die damit nicht vertraut sind. Dann kommt das bedrohliche GefühL: Oh, jetzt wird es aber GANZ schlimm! Dabei ist es genau das Gegenteil: Das Schlimmste ist das Festhalten vorher.
Wenn die Tränen fliessen, fliessen die zurückgehaltenen Gefühle mit, und das erleichtert enorm und tut fast immer sehr wohl.

Meine einzige winzige Kritik:

Betitelt ist Ihr Artikel: Bloss kein Taschentuch!

Da muss ich als erfahrene Weinerin sagen: Ich weiss, was Sie meinen, und stimme Ihnen voll und ganz zu. Aber im dicksten Schluchzen, wenn der Schleim schon aus der Nase tropft, finde ich es sehr hilfreich, wenn mir jemand ein Taschentuch reicht. Oder besser gleich zwei! Gerade damit ich es ungestört weiter laufen lassen kann.

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Dieses Buch ist ein hervorragendes Stück Literatur und sicherlich kein Kitsch. Wer hier von Kitsch spricht, verfügt ganz mit Sicherheit über kein angemessenes Verständnis von Literatur. Konnte selbst in Österreich mehr als zwei Jahrzehnte immer wieder solche Randexistenzen eines Andreas Egger kennenlernen. Mit der Haltung von Robert Seethaler zum Ukrainekrieg allerdings bin ich mitnichten einverstanden. Wenn diesem Kriegverbrecher Putin nicht massiv Einhalt geboten wird, ist ganz Europa von diesem Regime bedroht.