Mitten in Deutschland. NSU
Mitten in Deutschland. NSU
ARD/WDR/Eurovideo
"Die Realität ist oft krasser als Fiktion"
Wie viel Wahres steckt in der Filmtrilogie "Mitten in Deutschland: NSU"? Fragen an die Produzentin Gabriela Sperl
Tim Wegner
04.10.2017

chrismon: Wissen Sie noch, wo Sie am 4. November 2011 waren?

Gabriela Sperl: Das war der Tag, an dem die NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt starben und die Legende von den sogenannten ­Döner-Morden in sich zusammenfiel. Ich war zu Hause und rief bei Stefan Aust an. Er hatte mir zuvor von der These erzählt, die Täter seien zwei Männer, wie Brüder, aus der rechtsradikalen Szene. Stefan Aust machte das Buch "Heimatschutz", ich wollte Filme machen. Mich ließ nicht los, wie es sein kann, dass in diesem hervorragend organisierten Deutschland mit einer Polizei, die 95 bis 98 Prozent ­aller Mordfälle aufklärt, eine rechtsterro­ristische Bande jahrelang unbehelligt und unerkannt neun Menschen mit Migrationshintergrund und eine Polizistin umbringt. Und kein Mord, kein Banküberfall, kein Sprengstoffanschlag wird aufgeklärt? Und plötzlich sind nur noch zwei tote Täter da?

Und das wollten Sie mit den Filmen herausfinden?

Ich mache solche Filme, weil ich Dinge erfahre, die ich nicht für möglich halte. Die Geschichten kommen auf mich zu. Zuerst glaube ich sie nicht. Wenn sie dann noch mal anklopfen und noch mal, beginne ich, mit Autoren zu recherchieren. Und finde Partner, die uns unterstützen. Dann wollen wir alle wissen, warum Dinge schieflaufen, nicht gesehen, ­verschwiegen oder vertuscht werden.

"Wir sind keine Ermittler"

Der NSU-Prozess geht zu Ende. Sie haben Ihre Filme mitten in ein schwebendes Verfahren hinein produziert.

Dafür wurden wir auch kritisiert. Aber es ging nie darum, in ein Verfahren einzugreifen. Wir sind keine Ermittler. Es ging darum zu fragen, was in einer Gesellschaft los ist, in der nach 1989/90 rechtsradikale ­Strömungen im Osten und im Westen – den Westen sollte man nicht vergessen! – sichtbarer geworden und stark gewachsen sind. Das war unser Ansatz. Und nicht: Waren es nur die beiden Uwes? War auch Beate Zschäpe dabei? Gab es noch Helfershelfer? ­Das wissen wir bis heute nicht. Viele haben sich inzwischen darauf ge­einigt, dass es die beiden Uwes waren. Ich glaube das nicht. An diesen Morden waren mehr Menschen beteiligt.

Ihre Filme bilden eine Trilogie, sie ­erzählen aus drei Perspektiven.

Ja. Denn wie können wir erzählen, wenn wir etwas nicht genau wissen? Indem wir uns der Geschichte aus verschiedenen Perspektiven nähern. Es gibt die Wahrheit der Opfer, die bis heute das Gefühl haben, dass die Morde an ihren Ehemännern und Vätern ungesühnt sind. Es gibt die Wahrheit der Ermittler, die bei ihrer Arbeit behindert wurden. Und es gibt drei Jugendliche, die ganz andere Möglichkeiten hatten, als in eine rechtsextreme Kameradschaft und den Weg in die Gewalt abzudriften.

"Mitten in Deutschland: NSU" wurde im Frühjahr 2016 in der ARD ausgestrahlt. Die Trilogie ist im Handel als DVD und Blu-Ray erhältlich.
Im Ermittlerfilm wird im Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz ein Maskenball gefeiert. Wie viel Fiktion verträgt die Realitätt?

Die Realität ist fast immer krasser als das, was sich Autoren ausdenken. Helmut Roewer, der langjährige Leiter des Thüringer Landesamts für Verfassungsschutz, hatte in der Behörde ein Weinfass stehen. Bei einer öffentlichen Veranstaltung trat er mit Pickelhaube auf. Er hat den Aufbau des Thüringer Heimatschutzes mit 200 000 DM finanziert und V-Leute, die hochkriminell waren, angeheuert. Für solche Dinge suchen Filmemacher nach Entsprechungen und Verdichtungen, und das ist hier der Maskenball. Ein Bild: Der Fisch stank vom Kopf her. Ein anderes Beispiel: Im Film "Die Flucht" spielte Maria Furtwängler eine Frau, die es so nie gab. Ihre Rolle war so wahr­haftig, dass wir Hunderte Briefe von Zuschauern bekamen. Sie hatten sich in unseren Figuren wiedererkannt. Diese Authentizität ist mir wichtig.

"Wir haben nicht spekuliert, sondern recherchiert"

Wie haben Sie versucht, in den NSU-Filmen wahrhaftig zu bleiben?

Wir alle – Produzenten, Regisseure, Redakteure, Autoren – haben bei ­diesen Filmen intensiv recherchiert. Wir haben etwa Clemens Binninger getroffen, einen CDU-Politiker, der den zweiten NSU-Untersuchungs­ausschuss im Bundestag leitete und im ersten Ausschuss Mitglied war. Die Regisseure und Autoren sprachen mit Staatsschützern, mit Zeugen. Anna Maria Mühe, die Beate Zschäpe spielt, war Zuschauerin im Münchner NSU-Prozess. Ich war sehr oft dort. Wir haben nicht spekuliert, sondern auf einem soliden Fundament, unter anderem den Ergebnissen von vielen Untersuchungsausschüssen, von vielen Befragungen operiert. Wir erzählen keine fiktionale Geschichte, wir erzählen fiktional über unsere Realität.

Wie denken Sie über den NSU-­Prozess?      

Vor Gericht geht es um eine Angeklagte und Mitangeklagte und die einzelnen Punkte der Anklage. Daran muss sich das Gericht sehr präzise halten. Wir waren da freier: Wir konnten das gesamte Umfeld in den Blick nehmen. Erstaunlich beim Prozess ist, wie viele Verfassungsschützer und Zeugen sich darauf berufen haben, nicht aussagen zu dürfen oder sich nicht zu erinnern. Mehrere Zeugen starben unter Umständen, die nicht hinreichend geklärt sind. Da kann ich nur Clemens Binninger zitieren: So viele Zufälle, so viele Ungereimtheiten, so viele offene Fragen, wie es sie im Umfeld des NSU gibt, gibt es im normalen Leben nicht. Und im Leben von Ermittlern schon gar nicht.

Produktinfo

Die Trilogie "Mitten in Deutschland: NSU" ist im Handel erhältlich. Drei DVDs kosten (Stand September 2017) beispielsweise auf der Internetseite von "Saturn" 9,29 Euro (Artikelnummer  2103147)

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" Mich ließ nicht los, wie es sein kann, dass in diesem hervorragend organisierten Deutschland mit einer Polizei, die 95 bis 98 Prozent aller Mordfälle aufklärt, eine rechtsterro­ristische Bande jahrelang unbehelligt und unerkannt neun Menschen mit Migrationshintergrund und eine Polizistin umbringt. "
Meine Betonung liegt auf den Begriffen "hervorragend organisiertes Deutschland" ! Wie kann man je die " Ordnungsliebe " des NS Staates vergessen ! Das gravierendste Kennzeichen dieses Regimes !
Darüber wurde viel geschrieben, wie es auch genügend gutes Filmmaterial gibt.
" Wir erzählen keine fiktionale Geschichte, wir erzählen fiktional über unsere Realität." Und genau das ist es, das ich problematisch finde. So wird die Realität vielmehr verfälscht, als dass sie etwas erklärt.
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Zum Titel : heißt das also, dass es hier doch nur um die "geile Story" geht ?
Trotz aller Authentizität geht in der Fiktion die Realität verloren, weil sich die Eigensicht dazu gesellt. Aber der kollektive Gesichtspunkt, von dem die Regisseurin spricht, führt zu einem verklärenden und sicher auch verbindenden Aspekt, und eben dadurch zum Erfolg. Ich sehe darin Manipulation von Realität.

Meine Kritik an dem Film geht auch dahin, dass er schneller abgedreht war, als der Prozess überhaupt zu Ende ging. Das spricht nicht für Qualität.
" Aber es ging nie darum, in ein Verfahren einzugreifen." Genau das meine ich auch, den sezierende und spaltenden Blick, der keine befriedigenden Antworten liefern kann.
Man könnte daraus die gespaltene deutsche Identität kreieren, wenn man so will. Aber solche Pechvögel, die das Leben vergessen hatte, sollte man nicht noch zusätzlich mit Pech bewerfen, oder verfolgen.
Das ist meine Ansicht. Wenn die Neugier das Denken ersetzt, entstehen Einblicke, die oft absolut sinnlos sind.