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Unübersichtliche Welt
Populisten zerstören viel Gutes. Die Kirchen können dagegen was tun
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
09.11.2016

Jetzt wissen wir’s: Der Brexit war kein Ausrutscher. Seit Donald Trumps Sieg bei den US-Wahlen ist jedenfalls denkbar, dass im Mai Marine Le Pen mit dem Front National die Präsidentschaftswahl in Frankreich gewinnt und die EU auseinanderbricht. Briten und Amerikaner haben das Establishment ab­gewählt – aus Zorn darüber, dass die Welt unübersichtlich geworden ist. Dass Autos nicht mehr in Chicago produziert werden, dass Smartphones aus Südkorea kommen. Polen und Mexikaner erledigen Billigjobs. In England, den USA, Frankreich und Deutschland werden nur noch Gutqualifizierte was.

Und Populisten schüren Neid und Missgunst. „Zuwanderer verändern unsere Kultur“, sagen sie, „das wollen wir nicht.“ Dass sich Kultur ständig verändert (Samsung, Döner und Yoga sei Dank!) – wen interessiert’s? „Um Flüchtlinge kümmert ihr euch, aber nicht um unsere Armen!“, schimpfen dieselben, die sich nie für Sozialpolitik interessierten. „Muslime passen nicht zu uns Christen“, klagen Leute, die ewig keine Kirche mehr von innen gesehen haben. „Orientalen misshandeln unsere Frauen und verachten Homosexuelle!“ Man staunt, wer plötzlich für Frauen- und Schwulenrechte kämpft. Populisten wollen, dass wir uns abschotten. Sie wollen in eine Vergangenheit zurück, die es nie gab. Und sie zerstören viel Gutes.

Die Kirchen können die Populisten vielleicht nicht stoppen, dennoch sind sie jetzt wichtig. Mehr als jede andere Institution erreichen sie die vermeintlichen Traditionsbewahrer. Kirchen müssen weiter an Regeln des Anstands erinnern und denen wehren, die gute Sitten fahren lassen (siehe Interview mit Aleida Assmann in chrismon plus 12/2016). Nein, Pöblern soll man kein Podium bieten.

Und die Kirchen sollten sich wieder mehr als Volkskirchen verstehen, als Kirchen für alle. Kirchen können Menschen zusammenführen. In gemischt-konfessionellem Religionsunterricht. Mit Multikulti in der Kita. Bei interreligiösen Abenden im Gemeindehaus. Durch Flüchtlingsarbeit. Wer Muslime kennt, neigt seltener zu Pauschalverurteilungen. Gerade erst hat ­die Studie „Kirchenmitgliedschaft und politische Kultur“ (im November zur EKD-Synode erschienen) bestätigt: Wo Glaube damit zu tun hat, dass man die Würde des Mit­menschen achtet, wirkt er Populisten entgegen.

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Jeder einzelne Darsteller von "Gute Zeiten, schlechte Zeiten", jeder Boygroup-Teenie erreicht eher "die vermeintlichen Traditionsbewahrer" als die evangelische Kirche in Deutschland. Es ist völlig egal, wie sie sich versteht. Das Volk versteht die Kirche nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Und dieser Interreligions-Wahn macht die Rechtsbizarren nur groß. Wenn der Kirche ihre eigenen Mitglieder total egal sind, der SPD die einfachen Arbeiter und dem Neuen Feminismus die Rechte und der Schutz der Frauen, muss man schon in tiefem Dornröschenschlaf träumen, um erstaunt darüber zu sein, dass Rechte damit punkten, wenn sie's tun. Siggi hat das erkannt. Kein Wunder, bei den desaströsen Prognosen für die "Volkspartei" SPD. Und selbst FDP-Lindner macht sich als Luther 2.0 allemal besser im Streit gegen die AfD als jede Kirchenfrau.

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Die Kirche als Bollwerk gegen rechts? Schon seit Jahren tritt die evangelische Kirche nur als Lautsprecher grün-roter Politik auf. Dies führt in Kombination mit einer "Theologie der leeren Kirchenbänke" zuverlässig in die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit. Nur weil die Kirchensteuern gerade so sprudeln, kann sich der Amtsapparat derzeit so bedeutungsheischend blähen. Eine Basis ist schon lange nicht mehr vorhanden. Christen jenseits des rot-grünen Moral-Äquators schalten, wenn sie denn noch Kirchgänger sind, bei politischen Predigten schon lange auf Durchzug. Und wenn es weiter um sich greift, dass sogar Beerdigungen von ehrenamtlichen Laien durchgeführt werden, dann werden sich etliche die Frage stellen, ob sie sich die Kirchensteuer sparen können. Und diese potemkinsche Kirche will sich gegen den "Populismus" stellen???

Wo war eigentlich der "Bibel-Gürtel" der USA als Bollwerk gegen Lügen und weltlichen Populismus? Vermutlich abgetaucht. Was bei uns politisch von der EKD-Hierarchie üblich, war demnach in den USA nicht vorhanden. Eher das Gegenteil, denn der Bibel-Gürtel war überwiegend Trump's Triumpf. Auch nicht recht. Wie hätten wir es denn gerne? Einseitig die Parteinahme für ROT+Rötlich+GRÜN oder völlige politische Enthaltsamkeit? Man steckt in der Klemme. Mit Gospel und schönen Liedern, mit weltlichen und himmlischen Verheißungen, mit BIO-Verlockungen und deren paradiesischen Erwartungen kommt man auch nicht weiter. Derweil läuft das Volk davon. Die Religionen sind wahrlich nicht zu beneiden, wenn sie mit der Politik kommunizieren und konkurrieren wollen. Es gibt da nur einen brutalen Unterschied. Man kann alle paar Jahre die eigene politische Überzeugung neu wählen, diese Chance bietet das Christentum nicht. Gut so.

Und Glööckler als Aushängeschild für die Kirche?
1. Satz: ja, aber nicht gegen links und alle anderen Chaoten. 2. .. jaja. 3. .. jaja. 4. ..jaja, nur statt blähen: „politisch so die Gläubigen gegeneinander ausspielen. 5. ..jaja, denn pure Insiderzirkel sind keine Basis für alle Anderen, die noch guten Willens sind. 6….jaja. 7. …Ist aber inzwischen auch nahezu egal. 8. ..Potemkin ist treffend. XXXX Und dann noch eine "Bibelstunde mit Harald Glööckler" (Überschrift Mannheimer Morgen am 24.11.16). Er hat gestern in Berlin in einer ev. Kirche einen modischen Schmuckschuber für die Lutherbibel 2017 vorstellen dürfen. Eine schamlose Anbiederung. Man glaubt wohl, das nötig zu haben. Infantiler ist kaum noch denkbar. Zwar können die örtlichen Kirchen machen was sie wollen, aber gegen diese Toleranz wird die EKD wohl kaum ihr Veto, wenn sie denn eins hätte, einlegen wollen.

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Wir lesen im Absatz 3, Satz 1 des vorliegenden Artikels: "Die Kirchen können die Populisten vielleicht nicht stoppen, dennoch sind sie jetzt wichtig." Ein großes Wort gelassen ausgesprochen. Dem kann man nur zustimmen.
Fritz Kurz

Falls keine Moderationsgründe entgegen stehen, würde ich Herrn Kurz gerne fragen, was er am zitierten Satz groß und gelassen findet.

Friedrich Feger

Zeugt es nicht von Größe in der Selbsteinschätzung, dem eigenen Verein Ineffektivität (nicht stoppen) und im gleichen Satz Wichtigkeit zu bescheinigen? Vielleicht bringt es ja ein bisschen Klarheit, auf die Art des Vorwurfs an die sogenannten Populisten zu achten. Den Rechten soll es ausgerechnet an Sitte und Anstand fehlen. Es wird also der Vorwurf des moralischen Versagens erhoben. Und was sagen die Rechtspopulisten im Gegenzug? Sie erheben den Vorwurf der Lügenpresse. Das ist spiegelgleich der Vorwurf des moralischen Versagens, diesmal an die Bunten gerichtet. Also liegt eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen den streitenden Lagern vor. Beide legen an sich selbst und die politischen Kontrahenten den Maßstab an, gefälligst moralisch sauber zu verfahren. Wo haben die Rechten das her? Von den noch als Mehrheitsgesellschaft fungierenden Eltern, Lehrern und Journalisten. Kein Wunder, die Gestalten rechts von der CSU sind nicht vom fremden Stern gefallen, sondern haben in denselben Elternhäusern gelebt, dieselben Schulen durchlaufen und dieselben Fernsehsendungen geguckt wie die auf ihre angebliche Buntheit so stolzen Standardbürger.
Wer lehrt nun ohne Unterlass, dass es darauf ankommt, sich selbst und die anderen beständig zu fragen, ob man gut oder böse handelt? Das sind die Kirchen. Nicht nur die Kirchen, die aber schon immer und ohne Ausblick auf Besserung. Die Kirchen sind also wesentliche Steigbügelhalter aller Bestrebungen, das gesellschaftliche Leben als Verfolgung von Werten darzustellen. Der frappierende Knackpunkt an den Werten ist, dass sich zu jeder Absicht die passenden Werte locker finden lassen. Siehe Bunt gegen Rechtsaußen. Die Kirche, die gegen Rechtspopulisten moralisch argumentiert, will also nichts davon wissen, dass ihr Beharren auf Moral ganz wesentlich Grundlage für den Erfolg der Rechtspopulisten ist. Dies völlig außer Acht zu lassen bedarf nun einer Gelassenheit, die mir sehr bemerkenswert vorkommt.
Fritz Kurz