###autor###Anfang Juni im Dom zu Riga: Lauter Beifall, Jubelrufe, Männer fallen einander in die Arme. Auf der Synode der Lettischen Lutherischen Kirche wurde soeben das Abstimmungsergebnis bekanntgegeben: In Zukunft dürfen nur Männer Pastoren werden, Frauen nicht. Die Kirchenverfassung wird entsprechend geändert. In der Praxis ist das sowieso schon so. Erzbischof Janis Vanags hat seit 1993 keine Frau mehr ordiniert.
Ich sitze als Gast in der Synode und beobachte, wie einige Männer ihr Triumphgefühl kaum unterdrücken. Mich beschleicht ein beklemmendes Gefühl, und ich blicke zu den anwesenden Frauen, ausgebildete Theologinnen, denen der Zugang zum Pfarramt nun endgültig verwehrt ist. „Wir haben das Ergebnis erwartet“, sagen einige, als wir uns in der Pause unterhalten. „Seit vielen Jahren ist die Auslegung der Bibel hier immer konservativer und fundamentalistischer geworden.“ Aber sie sähen auch Hoffnungszeichen: „Zum ersten Mal haben sich Pfarrer bei uns öffentlich für die Ordination von Frauen eingesetzt.“ Das war in der Tat eine mutige Minderheit, die sich jetzt Anfeindungen ausgesetzt sieht, da sie angeblich gegen Bischof und Bibel handeln würde.
Es gab erstaunlich wenige theologische Argumente auf der Synode. Für mich war die Debatte eher von Angst geprägt: Angst, dass die traditionellen Werte zerbrechen, wenn man nicht fest zu dem steht, was man aus der Tradition kennt. Diese Angst und Unsicherheit sieht man auch in anderen Teilen der lettischen Gesellschaft. Lettland hat bisher nur wenige Flüchtlinge aufgenommen – man spricht von weniger als hundert im Rahmen der EU-Regelung.
Viele Letten nehmen Menschen anderer Kulturkreise oder Religionen als Bedrohung wahr. So beriet das Parlament bereits 2015 über ein Burka-Verbot, obwohl bis heute kein Fall bekannt ist, in dem hier jemand eine solche trug. Die neokonservativen Kräfte erstarken wie anderswo in Europa. Die lutherische Kirche steht mit ihrem Rückzug in die Tradition also nicht alleine da. Doch ist ein solches Zurück wirklich die Botschaft, die sie – kurz vor dem Reformationsjubiläum – einer verunsicherten Gesellschaft geben will?
Exodus-Erfahrungen machen Mut für Veränderungen!
Christliches Selbstverständnis und christlicher Glaube basieren nicht ausschließlich auf einem „regressiven Identitätsgedächtnis“ (Werbick).
Wer glaubt, er müsse seine Zukunft in einem Rückgriff in die Vergangenheit suchen, wird sowohl die Gegenwart als auch die Zukunft verlieren. Leider erleben wir – nicht nur in kirchlichen Kreisen, sondern auch auf der politischen Ebene – eine immer stärkere Rückwärtsgewandtheit und eine Sehnsucht nach dem „Alten“, das angeblich ausschließlich Sicherheit und Stabilität verleiht.
Was für ein fulminanter Irrtum!
Bestehen wir auf bloßem Konservieren der spezifischen Lehr- und Lebensgestalt von Kirche aus einer bestimmten geschichtlichen Epoche, reduzieren wir uns selbst zur irrelevanten Sekte. Gerade angesichts der Funktion von Traditionen, nämlich Sicherheit zu geben und Identität zu stabilisieren, ist es entscheidend, die Tradition – orientiert an ihren Grundsätzen – immer wieder neu zu denken und sagen. Solche Grundsätze werden in der Jesus-Tradition deutlich, in der Barmherzigkeit und Vergebungswille Gottes die Thora-Anwendung Jesu leiten und die Gemeinschaft der Menschen so konstituieren, dass Ausgrenzungen überwunden und Spaltungen geheilt werden.
Wo Traditionen in unseren Lebensbereichen Grenzen untereinander ziehen und das Miteinander erschweren, wo alte Vorbehalte Gemeinschaft zerstören und Regeln über menschlicher Not stehen, müssen wir neue Auslegungen der Tradition wagen. Wir haben uns zu fragen, welchen Stellenwert wir den Grundsätzen Jesu in unserem persönlichen Umgang miteinander und bei der Gestaltgebung von Kirche einzuräumen bereit sind.
Gewiss darf Kirche ihre in der Vergangenheit gemachten Gotteserfahrungen nie in Vergessenheit geraten lassen. Doch es wäre ein grobes Missverständnis, Gottes Wirken auf eine in der Vergangenheit abgeschlossene Periode zu reduzieren und der Meinung zu verfallen, dass all das, was Gott den Menschen zu sagen hatte, ausschließlich und endgültig als ein in der Vergangenheit liegendes und nicht mehr zu erweiterndes oder ergänzendes Geschenk Gottes an die Menschen zu betrachten wäre. Gottes Evidenz in dieser Welt ist jedoch auch immer wieder von Unverständlichkeiten, Brüchen und Diskontinuitäten geprägt. In Zeiten des Wandels und rascher Veränderungen gilt es einerseits am Unaufgebbaren christliches Glaubensverstehens festzuhalten, aber andererseits auch sich zu öffnen für das von Gott den Menschen angebotene Neue, Überraschende, Ungewohnte.
Die Zeichen der Zeit verlangen es der Kirche ab, sich so zu wandeln, dass sie die Botschaft aufnehmen kann, die sie in diesen Zeichen erreichen soll. Das tief in der Bibel verankerte Motiv des „Exodus“ muss immer wieder neu für die Gegenwart durchdekliniert werden. Umbruchsituationen verlangen Aufbrüche, stellen Herausforderungen für das Volk Gottes dar, sich in der Erinnerung an die Exodus-Erfahrung auf neue Wege einzulassen – im Vertrauen darauf, dass Gottes Geist sein Volk leiten und zu neuen Ufern führen wird. Kleinmut und Verzagtheit gilt es abzuschütteln und den uns von Gott geschenkten neuen Wegen mutig und vom Heiligen Geist begleitet anzuvertrauen. Gott wird seine Leben und Erlösung spendende Hand ausstrecken – auch in der Gegenwart – und das im Vertrauen auf seine Führung sich einlassende Volk zu neuen und zwar fremden, aber Heil und Segen bringenden Gestaden führen; genau so, wie er das in der Knechtschaft Ägyptens darbende Volk in das Land geführt hat, in dem „Milch und Honig fließen“.
Christliches Selbstverständnis und christlicher Glaube basieren nicht ausschließlich auf einem „regressiven Identitätsgedächtnis“ (Werbick). Kirche darf ihren „Honig“ nicht nur aus Vergangenheitserinnerungen saugen, sondern es gilt deutlich zu machen, dass Gott seine segnende und heilende Begegnung in jeder Gegenwart seinem Volk aufs Neue macht; Gott widerfährt seinem Volk immer wieder neu.
Sich Gottes Heute und Morgen zu stellen, macht es erforderlich, Überliefertes, Vertrautes und Gelerntes auch hinter sich lassen zu müssen, ohne jedoch die Erinnerung in Vergessenheit geraten zu lassen, in der Kirche sich ihrer Identität und Sendung immer wieder aufs Neue bewusst macht und machen muss. Jedoch – und das zeigt die Geschichte immer wieder, realisiert sich Identität vor allem nicht in bewusster Wiederholung des angeblich immer so Dagewesenen, sondern bedeutsam und als eigentliche Quelle für Identität erweist sich die Vermittlung Kontinuität und Diskontinuität ; Kontinuität impliziert auch Diskontinuität, denn aus dem Entwicklungsprozess geht das Andere, das Neue, das für die Gegenwart und Zukunft Bedeutsame hervor. Die Wandlung ermöglicht eine neue Erfahrung dahingehend, dass man sich genau in ihr selbst treu bleibt bzw. erst sich in ihr wieder neu entdeckt. Biblische Erfahrungen und Vorbilder fordern gerade zu einem auch in der Gegenwart unverzichtbaren „Exodus“ heraus.
Zeiten, in den Diskontinuitäten und Umbrüche sich vollziehen, schaffen jedoch nicht nur Zufriedenheit und Harmonie. Vielen Menschen sitzt die Angst tief im Nacken vor dem Zusammenbruch des bisher so Gewohnten und persönliche Sicherheit Vermittelnden. Bohrende und zugleich an sich zweifelnde Fragen hinsichtlich des eigenen Verhaltens in der Vergangenheit („Es kann doch nicht alles falsch gewesen sein, woran ich bisher geglaubt und wofür ich eingetreten bin!“) rufen eine Mischung von Trotz und Resignation hervor. Die Angst vor Erneuerungen und Reformen verschließt häufig die Ohren für eine Argumentation, die darauf hinweist, dass diejenigen, die der Kraft des Hl. Geistes misstrauen und eigene Sicherheitsgewohnheiten nicht abzulegen bereit sind, die Kirche im Hier und Heute schon für tot erklärt haben.
Paul Haverkamp, Lingen
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Fortsetzung: Die
Fortsetzung: Die verwissenschaftliche Kirche hat im "Heißluftballon" ihrer Theorien hoffnungslos abgehoben und verwendet eine "Katheder-Sprache", die das Volk nicht mehr erreicht. Der Vor-Ort-Theologe, der dann diese neue Theologie dem Volk vermitteln soll, ist wahrlich nicht zu beneiden. Dringender denn je brauchen wir einen neuen Luther, der in der Lage ist, den Glauben wieder „handwerklich“ mit den Realitäten und den Gläubigen zu verbinden. Dieser „Überluther“ hat stärkere Gegner als alle Päpste. Er müßte nicht nur den medialen Kampf gegen alle vom Staat bezahlen „Erbhöfe“ bestehen, er müßte auch noch gegen alle „Wohlstandsbäuche“, gegen die neuen demokratischen Freiheiten und die neue globale Säkularisation kämpfen. Das größte Hindernis wird sein, dass weltweit immer mehr Menschen glauben, gänzlich ohne eine Religion (und deren Werte?) auskommen zu können.
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Freuen Sie sich auf 2017, das
Freuen Sie sich auf 2017, das Luther Jahr. Lassen wir´s drauf ankommen. Die Kirche, vom welcher Sie sprechen, ist Polemik.
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Kirche ist Polemik? Ja, wenn
Kirche ist Polemik? Ja, wenn das so ist, und diese dann das Lutherjahr organisiert, wird dann das Jahr zur Polemik? Was Polemik, schreibt der Duden. Da hat der Gast ja wohl alles durcheinander gebracht.
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Vermutlich haben Sie recht.
Vermutlich haben Sie recht. Aber so generell nun auch wieder nicht. Zwar bleibt Alt alt und ist dem Neuen unterwürfig, aber die Werte, die die Funktionalität des Staat, die der Gesellschaft, das friedliche Miteinander und letztlich auch die Überzeugungskraft des Christentums garantieren, bleiben weitgehend die Selben. Denn diese Werte beruhen auf dem Gleichgewicht der menschlichen Eigenschaften mit dem „sisyphusischen“ christlichen Ziel, dauerhaft die guten über die schlechten Eigenschaften zu stellen. Da aber die menschlichen Eigenschaften keine beliebige Manipulationsmasse darstellen, ist dieses Bemühen zwar sinnvoll, wird aber die Notwendigkeit von Gesetzen nie ersetzen können. Dass wir nicht mehr, wie unsere Ahnen, glauben können und wollen, ist dagegen unbestritten. Wer das dennoch versucht, wird sich eine lebenslange Höhle suchen müssen, um zu glauben, ein Anrecht auf das Paradies zu haben. Herr Schoch hat einen Schock, Herr Haverkamp versucht, die Lösung über eine neue und zudem noch zeitgemäße Auslegung zu finden. Für mich besteht der Schock aber auch darin, dass geglaubt wird, mit diesen komplizierten, für den Normalgläubigen unverständlichen, Formulierungen und Inhalten eine neue Überzeugung einzuleiten. Sowohl die innere und erst recht die äußere Mission ist so unmöglich. Glaubensinhalte, die nur noch von einer „gutwilligen“ Insider-Klientel wahrgenommen werden (können?), taugen nicht viel.
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