Silia Wiebe mit ihrem Fahrrad
Mit dem Fahrrad klappert Silia Wiebe, 38, Freundinnen ab und bringt die Spenden zu „ihrer“ syrischen Familie
Nicole Malonnek
Fulltime-Job Flüchtlingshilfe
Die berufstätige Mutter ist an ihre Grenzen gekommen. Sie kann nicht bei allem helfen
undefinedNicole Malonnek
17.12.2015

Ich stand noch nie am Bahnhof, um erschöpften Flüchtlingen Wasserflaschen zu reichen. Und ich werde mein Arbeitszimmer nicht räumen, damit Fremde darin leben können. Als ich zum ersten Mal den Wohncontainer einer Flüchtlingsfamilie betrat, hatte ich ein Aufnahmegerät in der Handtasche, um einen Artikel zu schreiben. Nach dem Interview gingen wir spazieren. Aus Jux setzte ich den vierjährigen Jungen auf ein parkendes Motorrad. Er kriegte sich nicht mehr ein vor Lachen. Seitdem sind wir Freunde. Und Freunden hilft man.

Vor meinem Besuch war ich gewarnt worden: „Die werden Sie sofort nach einer Wohnung fragen.“ Wir saßen keine zehn Minuten zusammen, da fragten sie mich, ob ich eine Wohnung für sie habe. Nun braucht man nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie sehr sich eine kriegstraumatisierte Familie mit drei kleinen Kindern nach einem eigenen Bad sehnt, nach einem Kinderzimmer und etwas Ruhe. Ich versprach, bei der Suche zu helfen. Tatsächlich fand ich in den folgenden Wochen allerhand: ein Fahrrad, einen CD-Player, Besteck, Klamotten, Bilderbücher, einen Kinderwagen und eine Kita mit drei freien Plätzen. Aber eine Wohnung fand ich nicht, obwohl ich bis heute täglich Vermieter anrufe, Anzeigen lese, Bittmails verschicke.

Währenddessen lernte ich meine Freunde neu kennen. Ich ­un­terteile sie in drei Gruppen. Es gibt die wenigen, die von Krieg und Flucht nichts wissen wollen. Dann gibt es die, die Babykleidung auf dem Flohmarkt verkaufen und sagen: „Was übrig bleibt, kannst du dann ja deinen Syrern geben.“ Oder die ausrangierte Kleider auf mein Fahrrad packen und, kaum dass ich zu Hause bin, noch mal anrufen: „Kannst direkt zurückkommen, habe noch Hausschuhe gefunden.“ Und schließlich gibt es die echten Helfer, die ihre Spenden gut sortiert vor meiner Haustür abladen.

Mein siebenjähriger Sohn fragte mich kürzlich: „Ist ein Star-Wars-T-Shirt dabei? Kann ich das haben?“ Ich schüttelte entsetzt den Kopf. Das fehlte noch, dass wir uns die besten Teile herauspicken. Ich beschloss, mein Kind einfach mal mitzunehmen. So wird er verstehen, warum sich zu Hause nicht mehr alles nur um ihn dreht. „Überfordere ihn nicht! Kinder brauchen schöne Erfahrungen“, warnte eine Bekannte. „Syrische Kinder allerdings auch“, sagte ich, „und ich nehme ihn ja nicht mit in den Krieg!“

Über der Belastungsgrenze: Trotzdem hatte ich mehr Begeisterung erhofft

Im Container bekamen wir die Ungeduld der Familie zu spüren. „Wir brauchen jetzt wirklich eine Wohnung, es geht nicht mehr“, sagten die Eltern eindringlich und erzählten, dass ihre Tochter auf die vielbefahrene Straße gerannt war, weil die Containertüren allzeit offen stehen. Ich saß in ihrem 14-Quadratmeter-Zimmer, verstand ihre Not und fühlte mich, als würde mir jemand eine Speerspitze unters Kinn halten.

Neben der Wohnungssuche war ich längst involviert in die Beschaffung von Umstandsklamotten für die Schwägerin, in die Läuseplage und in diverse Kitakonflikte. Und da war ja auch noch die Oma, die völlig allein im Grenzgebiet Syriens ausharrte und auf Fluchthilfe wartete. Auch da hoffte die Familie auf meine tatkräftige Unterstützung.

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Als die Familie dann per SMS vorschlug, am Wochenende „Holiday“ bei mir zu Hause zu machen, und ein Onkel von ihnen anrief und mich bei der Rettung einer Verwandten in Tschechien um Hilfe bat, bekam ich Panik. Ich fragte mich, wie viel Flüchtlingshilfe eigentlich in mein vollgestopftes Leben als berufstätige Mutter passt. Und hatte eine Idee. Einer kinderlosen Freundin schlug ich vor, dass wir uns die Unterstützung der Familie teilen. Ihre Antwort klang ernüchternd: „Klingt gut, ich schlafe noch mal drüber.“ Sie hat sich nicht mehr gemeldet.

Ja, ich weiß, dass jeder das Recht hat zu überlegen, ob und wie sehr er sich engagiert. Und es gibt Lebensphasen, in denen wir schon ohne Flüchtlingshilfe über der Belastungsgrenze sind. Trotzdem hatte ich mehr Begeisterung erhofft. Ich lerne jetzt, Grenzen zu setzen und auch mal zu sagen: „Ich muss euch ent­täuschen, hier kann ich leider nicht helfen!“ Aber wenn der syrische Junge meine Hand nimmt und mir zeigt, wie gut er auf Deutsch schon bis zehn zählen kann, bin ich einfach froh, dass ich zumindest ein bisschen was für ihn und seine Familie tun kann.

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Danke für Ihre Berichterstatttung über die gegenwärtige Flüchtlingsproblematik. Sie ist sachlich und ernüchternd, wie es das Beispiel von Silia Wiebe zeigt: die Mentalitätsunterschiede sind groß.

Nach meinem Empfinden gibt es für die syrische Familie keine Regeln - das Leben wird durch Beziehungen geregelt.

Mein Fazit nach der Lektüre dieses Artikels ist: zuviel Hilfe lähmt die Eigeninitiative.

Mit freundlichen Grüßen

Angelika Luksch, Mariaposching

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wer helfen will, der sei, bitte, so frei und helfe, so gut er kann. Ich bin sicher, dass auch Spenden schon Hilfe genug sind, auch Sachspenden, d.h. Dinge, die wir nicht mehr brauchen, die aber einem andern vielleicht gut tun. Man muss nicht über seine Grenzen gehen. Und nicht jeder, der nicht aus vollem Halse Ja schreit, ist ein potenzieller AFD Wähler, oder beteiligt sich an Demos gegen Flüchtlinge. Diese Diskriminierung sehe ich als reine Beleidigung der Bevölkerung.

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Ich finde es schön, dass Frau Wiebe sich so für die syrische Familie einsetzt. So machen es tausenden andere Paten und Patinnen auch, berufstätig oder nicht berufstätig, mit Kindern oder ohne Kindern. Wir, ein berufstätiges kinderloses Paar, übernehmen seit einigen Monaten drei Patenschaften. Mir ist es eigentlich egal, was meine Freunden davon halten. Wir machen es aus Überzeugung und weil wir uns mit den Familien gut verstehen. Unter Druck wurden wir noch nie von den von uns begleiteten Menschen gesetzt. Auch wenn wir Kinder gehabt hätten, würden wir diese Arbeit machen.
Absolut verwerflich finde ich die Bemerkung von Frau Wiebe, dass sie eine kinderlose Freundin drum gebeten hat, die Arbeit mit ihr zu teilen. Ich als ungewollt kinderlose Frau hätte mich auch nicht mehr bei ihr gemeldet. Unverschämt, wie man immer wieder kinderlose Paare als egoistische Menschen mit zu viel Zeit darstellt.
Mit freundlichen Grüßen,
Pia Schulz

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Der Artikel spricht mir in sofern aus dem herzen, dass "Ehrenamtliche" nicht immer Menschen mit "zu viel" Zeit sind. Sondern einfach engagierte Menschen, die sich berühren lassen und schnell überwinden können auch mal was neues auszuprobieren, wenn es sinnvoll sein könnte.
Die Aufmunterung würde ich auch nicht an Menschen schicken, die "theoretisch mehr Zeit" haben. Es gibt ja auch unterschiedliche Fähigkeiten, Neigungen. Jedem macht was anderes Spaß. Aber jene die das eigentlich gut finden und nur zögern. möchte ich ermutigen:
Ich selbst bin ein Mensch mit wenig Zeit. Ich kürze den Medienkonsum (und Haushaltsperfektion) zugunsten meiner Patenschaft und schaffe weniger als 2h Treffen pro Woche. Aber diese kurze Zeit ist so viel Wert und für diese Zeit bekomme ich so viel Dankbarkeit entgegen gebracht und lerne von dem Mut und der Zuversicht der Person. Dass ich daraus viel mehr Kraft ziehe als aus dem Zeitunglesen oder Radiohören. Der direkte Kontakt baut mein Selbstbewusstsein auf und bereichert mich innerlich, was positiv in alle Lebensbereiche ausstrahlt. Wer ein sozialer Mensch ist und gerne erzählt, den möchte ich ermutigen:

Einfach bei der Gemeinde anrufen und Kontakt vermitteln lassen!
Kostet nichts und könnte Bereichern!