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„Es geht nicht ohne Erlass“
Griechenland wird seine Schulden nicht bezahlen können, sagt Jürgen Kaiser von erlassjahr.de. In Zukunft könnte ein Insolvenzrecht für Staaten helfen, Finanzkrisen zu vermeiden
Tim Wegner
09.07.2015

chrismon: „Heiligt das fünfzigste Jahr und verkündet Freiheit für alle Bewohner. Ein Erlassjahr soll es für euch sein.“ Kann das eine Idee sein, die heute noch gilt?

Jürgen Kaiser: Dieses Gebot aus dem Alten Testament ist verbunden mit der Landnahme Israels. Jeder sollte gleich viel haben. Aber manche Menschen hatten mehr Glück als andere, damals wie heute. Es kam zur Ungleichheit. Daher die Idee, alles zurückzuverteilen. Jesus hat dieses Gebot im „Vaterunser“ und in seiner Antrittsrede in Nazareth aktualisiert. Seit dem 19. Jahrhundert steht im Insolvenzrecht, dass Gläubiger an Grenzen stoßen, wenn die Würde des Schuldners es erfordert. Und dass Schulden Entwicklung blockieren können, haben wir in der Dritten Welt gesehen. Die Idee ist hoch aktuell!

Alle blicken auf Griechenland. Die Finanzwelt ist globalisiert. Wenn Banken Forderungen abschreiben, stürzen die Märkte doch ins Chaos, oder?

Private Gläubiger wie Banken spielen lange keine Rolle mehr in Griechenland. Es ist naiv zu glauben, dass Griechenland ohne Schuldenschnitt je wieder Geld von privaten Gläubigern an den Finanzmärkten leihen kann.

Woher wollen Sie das wissen?

Ärmere Länder wie etwa Burundi waren in den achtziger Jahren ähnlich verschuldet. Das afrikanische Land hatte keine Chance mehr auf Investoren. Erst als ihm rund 80 Prozent der Staatsschulden gestrichen wurden, bekam es Zugang zum privaten Kapitalmarkt. Das gilt für viele der 36 ärmsten Staaten, denen Weltbank und der Internationale Währungsfonds, der IWF, seit der Kölner Schuldeninitiative von 1999 die Schulden erlassen haben.

Was bedeutet das für Griechenland?

Es geht nicht ohne Schuldenschnitt, wenn eine schwache Volkswirtschaft mit fast 180 Prozent der Wirtschaftsleistung verschuldet ist. Um zu einem erträglichen Schuldenstand zu kommen, hätte Griechenland nach Ausbruch der Krise 2010 ein Wirtschaftswachstum von sechs bis zehn Prozent aufweisen müssen, weil die Schulden in dieser Größenordnung zunahmen. Auch der Schuldenschnitt für private Gläubiger im Jahr 2012 von 109 Milliarden Euro änderte nichts daran. Alle Annahmen, dass so ein Wachstum bei gleichzeitigen Sparauflagen zu erreichen sei, waren weltfremd. Die Bundesregierung hat an einer Insolvenzverschleppung mitgewirkt. In der Privatwirtschaft ist das strafbar. Dieses Versagen erklärt auch den Ton in der Debatte. 

Wie hoch müsste der Schuldenschnitt sein?

So hoch, dass Griechenland die Maastrichter Kriterien erfüllt und – in Relation zum Bruttoinlandprodukt – eine Schuldenstandsquote von 60 Prozent erreicht. Heute sind es 177 Prozent. Also ein Erlass um zwei Drittel der Schulden.

Bei über 300 Milliarden Euro an Schulden sind das...

...200 Milliarden Euro. Dieses öffentliche Geld hätte seit 2010 nie an die Ägäis fließen dürfen. Das hätte man wissen müssen.

Nun sollen neue Kredite fließen. Was meinen Sie dazu?

Wenn diese Kredite als Überbrückungshilfe gedacht wären, um in Ruhe die Schulden umstrukturieren zu können, wären sie sinnvoll. Während der Laufzeit des Verfahrens würde Griechenland liquide bleiben. Aber die Gläubiger wollen keinen Schuldenerlass. Es ist der alte Fehler: Finanzierung der Krise statt Lösung der Krise. Die neuen Kredite - die voraussichtlich wieder an Sparauflagen geknüpft sind - werden den Schuldenstand weiter erhöhen und nicht zu einer Besserung der Schuldentragfähigkeit beitragen. Der Teufelskreis, in dem sich Griechenland sich aktuell befindet, wird nur verstärkt.

"Falsche Anreize gibt es nicht nur für Schuldner, sondern auch für Gläubiger."

Wer Griechenland Schulden erlässt, lässt den Reformeifer in Spanien, Portugal oder Italien erlahmen!

Der „moral hazard“: Falsche Anreize führen zu Fehlentwicklungen. Das ist nie auszuschließen. Aber ein Schuldenerlass ist kein Freifahrtschein. Auch die 36 ärmsten Staaten mussten Haushaltsauflagen akzeptieren. Falsche Anreize gibt es nicht nur für Schuldner, sondern auch für Gläubiger. Zum Beispiel Ghana: Das Land hat Rohstoffe, ein stabiles politisches System. Trotzdem ist es wieder auf den IWF angewiesen, weil es sich nach dem Erlass besoffen hatte an Krediten. Wie bei Griechenland bestand der „moral hazard“ der Gläubiger auch bei Ghana in der Annahme, dass Staaten nicht pleitegehen können.

Was folgern Sie daraus?

Wir brauchen ein Insolvenzrecht für Staaten. Dann können Gläubiger nicht mehr davon ausgehen, dass ihre Rendite sicher ist, weil die öffentliche Hand sie sowieso raushaut. Es gibt einen Präzedenzfall: Indonesien war 1969 mit zwei Milliarden Dollar verschuldet. Ein neutraler deutscher Banker schlug einen Erlass von 50 Prozent vor. Heute könnte ein unabhängiger Mediator diese Rolle ausfüllen. Leider verfolgt auch die Regierung in Athen diese Idee nicht. Aber auf  Druck von Argentinien erarbeitet die UN-Generalversammlung derzeit so ein Verfahren. Einige der reichen G8-Länder torpedieren die Idee – darunter Deutschland. Seitens der Bundesregierung heißt es, dass über die globale Finanzarchitektur nur im IWF geredet werden dürfe, wo die reichen Länder über eine komfortable Stimmenmehrheit verfügen.

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OKAY - wir zahlen, streichen Hartz vier und im Gesundheitswesen und die Griechen feiern weiter.