Foto: Espen Eichhöfer
Sind Arbeitslose zu faul fürs Ehrenamt?
Warum nur engagieren sich so wenige Erwerbs­lose? Wollen die nicht? Die Forscherin hat einen ganz ­anderen Grund gefunden: Man lässt die Leute nicht
Tim Wegner
30.01.2014

chrismon: Fast die Hälfte der Leute mit Hochschulabschluss engagiert sich ehrenamtlich; von den Menschen ohne Berufsabschluss engagiert sich gerade mal ein Viertel. Wollen die nicht? Sind die faul?

Chantal Munsch: So interpretiert man das üblicherweise: Die wollen nicht. Erst sind sie wenig zur Schule gegangen, jetzt leben sie von Hartz IV, liegen in der Hängematte und wollen sich noch nicht mal freiwillig für die Gesellschaft engagieren. Das ist eine verbreitete Perspektive, die man ­wissenschaftlich analysieren muss – aber nicht teilen sollte.

Vielleicht sind diese Menschen selbst so bedürftig, dass sie nichts für andere tun können?

Sagen wir es so: Das Leben mit Arbeitslosigkeit ist kein Hängemattenleben, sondern unglaublich anstrengend. Es kostet viel Kraft, nicht gebraucht zu werden, ausgeschlossen zu sein. Und diese Kraft fehlt dann fürs Engagement. Wenn man ein gesichertes Einkommen hat, hat man einfach weniger existenzielle Sorgen und damit mehr Kraft, sich zu engagieren.

Aber Berufstätige haben doch viel weniger Zeit für ein Engagement! 
Man hat weniger Zeit, aber man steht viel sicherer mit beiden Beinen im Leben und kann aus dieser Sicherheit heraus ganz ­anders agieren.
 
Wollen sich Langzeitarbeitslose überhaupt engagieren?
Ja!

Wieso, haben Sie sie befragt? 
Beobachtungen bringen hier mehr als Befragungen. Ich habe ein Stadtteilhaus beraten, das Menschen unterschiedlichster Herkunft fürs Engagement gewinnen wollte. Wir kannten diese Statistiken und sagten: So wollen wir das hier nicht haben. Und was ist passiert? Wir hatten es im Ergebnis genau so. Das heißt: Die Engagierten, die uns am Ende blieben, waren fast alle erwerbstätig, sie waren länger zur Schule gegangen, hatten wichtige ­Positionen im Stadtteil – als Ladenbesitzer, Vereinsvorsitzende, Lehrerin, Pfarrer. ­Alles Menschen, die auch sonst eine gewisse Verantwortung haben oder etwas mitbestimmen können.

Sie wollten ja aber alle Menschen. Was ist schiefgelaufen?
Wir haben viele Menschen angesprochen, die wenig Geld oder keine Arbeit hatten. Die reagierten sehr positiv. Und sie kamen dann auch. Bei der Auftaktveranstaltung hatten wir eine gute Mischung. Aber sie sind nur ein einzi­ges Mal gekommen.

Was ist passiert?
Wir wollten bei der Auftaktveranstaltung erfahren, was den Menschen in diesem Stadtteil wichtig ist, was sie gern ändern würden. Und die Menschen, die arbeitslos waren, saßen da, hörten zu, lächelten höflich, nickten höflich und sagten in den allermeisten Fällen nichts. Mitgeredet haben nur Menschen, die erwerbstätig waren. Ein Mann, der nichts geredet hat, der aber im Stadtteilhaus immer zuverlässig mitgeholfen hat im Hintergrund, sagte mir, als ich ihn fragte: „So wie das dort war, da kann man nichts sagen.“

Ich sag jetzt mal ganz gemein: Vielleicht haben Menschen mit wenig Schulbildung auch wenig zu sagen...

Das ist eine Projektion auf diese Gruppe. Fast alle Menschen kennen das Gefühl, dass man in eine Versammlung geht oder in eine Gruppe, und eigentlich ist einem etwas wichtig, aber diese Gruppe, diese Versammlung ist so, dass man das, was einem wichtig ist, nicht sagen kann. Auch ich kenne dieses Gefühl.

Warum kann man nichts sagen?
Weil es Formen des Redens gibt, die gesellschaftlich als „klüger“ angesehen werden oder die sehr selbstsicher wirken. Es ist eine bestimmte Art zu reden und sich ­darzustellen. Das betrifft nicht nur die Wortwahl, sondern auch den Aufbau der Rede oder wie jemand in die Runde schaut. Wer diese Art nicht kennt, bekommt das Gefühl, nicht mitreden zu können. Mit dem Inhalt hat das nichts zu tun.

Hätte es geholfen, dass die Leute auf ausgeteilte Zettel schreiben, was sie eigentlich sagen wollten?
Ja, das hilft. Wir haben das damals nicht gemacht, aber wir haben aus unseren ­Fehlern gelernt. Es gibt eine ganze Menge Moderationsmethoden, um möglichst vielen Menschen zu ermöglichen, das zu sagen, was ihnen wichtig ist. ­Leute, die gern viel reden, mögen diese Me­thoden oft nicht so.

Angenommen, man teilt Kärtchen aus – dann schreiben die Leute drauf, sie ­hätten gern mehr Kinderbetreuung und Radwege und ein Stadtteilfest. Dann ­bilden sich dazu Arbeitsgruppen... 
Und wenn man dann nicht auch die Arbeitsgruppe moderiert, passiert wieder dasselbe. Die einen merken: Hier kann ich nicht mitreden. Und die anderen merken: Hm, wenn die redet, das ist so anders, das stört.
 
Fühlten auch Sie sich gestört, Sie als hochgebildete Mittelschichtsangehörige? 
Ich habe als Wissenschaftlerin teilgenommen an einer solchen Gruppe und mich selbst beobachtet. Und ich merkte, dass es mir unglaublich schwer fällt zuzu­hören, wenn jemand nicht genau so redet, wie ich das gewohnt bin. Ich hoffe dann, dass es gleich vorbei ist. Ich höre auch gar nicht richtig zu, ich finde es nicht so wichtig, was jemand sagt. Ich fühle mich in meinem Ablauf gestört.

Von wem fühlten Sie sich gestört? 
Ich merkte, dass es mir schwer fiel, ­Leuten zuzuhören, die nicht die Chance hatten, lange zur Schule zu gehen, die schon früh die Erfahrung gemacht haben, ausgegrenzt zu werden, die dann auch keine ­Arbeit bekommen, obwohl sie gerne ar­beiten möchten.

Was haben die Menschen denn gesagt oder getan, was Sie als fremdartig und sogar als störend empfanden?   
Eigentlich nichts. Denn wenn man genau hinguckt, sieht man die Unterschiede gar nicht mehr. Deshalb sollte man nicht auf die anderen gucken, sondern auf sich selbst. Dann erkennt man: Ich grenze aus, obwohl ich das nicht will. Wir grenzen nicht bewusst aus, indem wir sagen: Du passt hier nicht her, hier ist nur für Leute mit Hochschulabschluss oder Erwerbs­tätigkeit. Sondern wir grenzen aus, indem wir bestimmte Normalitäten behaupten – etwa des Diskussionsablaufs –, und dann merken viele Menschen von sich aus: Okay, zu dieser Normalität passe ich nicht. Das ist der feine Trick: Wir können heute ausgrenzen, ohne uns ausgrenzend zu fühlen, vielmehr fühlen wir uns total integrativ.

Was kann ich tun, um nicht auszugrenzen?
Sie könnten sich selbst und Ihre Gruppe oder Einrichtung in den Blick nehmen: Welche Menschen haben wir als „ganz normal“ im Blick? Wen finden wir „besonders“? An welche Gruppen denken wir gar nicht? Wer fühlt sich in unseren Räumlichkeiten wohl, für wen sind sie selbstverständlich – und wer fühlt sich hier fremd? Das Gleiche gilt für die Art zu reden. Es gibt keine Form, die für alle offen ist – aber je mehr Formen und Orte möglich sind, desto mehr verschiedene Menschen beteiligen sich.

Wer wird ausgegrenzt beim Ehrenamt? Frauen doch eher nicht, oder?
Man denkt ja, Frauen sind die, die immer alles machen. Aber in den Umfragen kreuzen mehr Männer als Frauen bei der Frage „Engagieren Sie sich?“ das Ja-Kästchen an. In der Statistik sieht man, dass sich alle Statusunterschiede auch in der Freiwilligenarbeit niederschlagen: Geschlecht,  Bildung, Erwerbstätigkeit, Migrationshintergrund... Die statushöhere Gruppe ist im Engagement immer besser repräsentiert.

Vielleicht müssen ja manche Arbeitslose erst wieder Disziplin und Pünktlichkeit lernen, bevor sie zum Beispiel von einem Freiwilligenzentrum als Ehrenamtliche eingesetzt werden können.
Pünktlichkeit ist ein schlechtes Beispiel, denn die Erwerbslosen, die ich kennengelernt habe, waren immer schon eine halbe Stunde früher da. So wichtig war ihnen das Engagement. Es gibt den schönen Begriff des Empowerment: Wenn man gebraucht wird, wird man kräftiger. Wenn man dagegen lang arbeitslos ist und es niemanden mehr gibt, der einen braucht, dann verlernt man womöglich einige Fähigkeiten, die man auch fürs Engagement braucht.

Das würde bedeuten, dass Langzeitarbeitslose nicht mal mehr für einen ehrenamtlichen Einsatz gebraucht würden.
Das ist auch eine politische Frage: Wer soll und darf die Gesellschaft mitgestalten? Will man fürs Engagement nur die Menschen, die ebenso fit im Leben stehen, wie man es von der Erwerbsarbeit gewohnt ist – und die anderen lässt man außen vor?

Vielleicht könnte man sagen: Ja, alle Menschen haben etwas zu bieten – aber nicht gleich und auf Abruf. Sondern manche brauchen am Anfang eine Begleitung, bei der es auch darum geht, sich überhaupt wieder kompetent zu fühlen und dann auch kompetent zu sein. 
Ja, manche brauchen eine Begleitung in die freiwillige Tätigkeit. Aber haben die Freiwilligenagenturen die Ressourcen dafür, können die das leisten? Politisch sind ­Ehrenamt und Teilhabe gewünscht. Aber die festen Stellen in der Gemeinwesen­arbeit, deren Aufgabe es ja ist, die Beteiligung in den Stadtteilen zu fördern, sind in den letzten 20 Jahren stark zusammengestrichen worden. Wir haben heute vor allem projektförmige Programme, da sind Leute nur mit kurzen Verträgen angestellt.

Was soll daran schlimm sein? 
Das Allerwichtigste bei solchen Projekten ist heute, ein Ergebnis zu bekommen und das in möglichst kurzer Zeit. Früher hat man mehr auf den Prozess geschaut, dass sich möglichst viele Menschen beteiligen können. Und man hatte Stellen, um gerade sozial benachteiligte Menschen langfristig zu unterstützen. Beim projektförmigem Engagement machen übrigens vor allem Menschen aus der Mittelschicht mit. Das verstärkt die Trennung.

Derzeit forschen Sie zu „abgebrochenen Zugängen“ – Sie fragen, ob Menschen mit Migrationshintergrund sich in den gro­ßen Wohlfahrtsverbänden engagieren können oder nicht.
Das Projekt fängt erst an. Wir fragen: Wieso hören Menschen mit Migrationshintergrund mit ihrem Engagement wieder auf? Hat das etwas mit Migration zu tun, oder hat das ganz andere Gründe? Es gibt Wissenschaftler, die sagen: Die großen Wohlfahrtsverbände sind offener für verschiedene Herkünfte. Aber damit ist vor allem die soziale Schicht gemeint. Ob die auch offen für Migranten sind, ist nicht erforscht.

Was vermuten Sie? Sind Diakonie und Caritas offen für Menschen mit Migra­tionshintergrund?
Die Vorgespräche, die ich mit einigen Menschen bei Caritas und Diakonie geführt ­habe, waren schon mal sehr spannend. Die Frage nach dem Abbruch von Engagement hat fast alle in große Aufregung versetzt. Denn natürlich wollen sie offen sein! Diese Reaktion finde ich sehr ermutigend. Gleichzeitig, das zeigt ja meine bisherige Forschung, kann es eine Diskrepanz geben zwischen dem eigenen Selbstverständnis  – ich bin offen – und der Erfahrung anderer Menschen – ich kann da nicht mitmachen. Eins ist aber wichtig: Eine Studie über die Ursachen der Abbrüche kann keine Aussage über die Offenheit von bestimmten Verbänden machen. Ich bin jetzt einfach erst einmal sehr gespannt, was mich da erwartet.

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In einer Gruppe werden immer "Rollen" ausgehandelt. Das ist immer so.

Wenn einer was sagen will dann wird diesem sofort ins Wort geredet, oder mit Gestik oder Mimik übergangen und ignoriert. Letztendlich gibt es dann einen Anführer, einen Wortführer, Mitläufer, und eben die Sündenböcke.

Ein Arbeitsloser kann sich schlichtweg ein Ehrenamt gar nicht leisten. So erging es zumindest mir. Meistens muss man zu einem bestimmten Ort hinkommen. Ein Auto kann man sich nicht leisten, der Bus kostet auch Geld. Dann muss man entsprechend gekleidet sein. Geld für Kleidung hat man nicht. Zum Friseur gehen, geht nicht. Wenn man sich dann tatsächlich ehrenamtlich betätigt, fragen die Leute, warum man nicht morgens um 4 Uhr die Zeitung austrägt und Geld verdient, statt sich ehrenamtlich zu betätigen. Das sich das Ganze aber nicht rechnet, will niemand wissen. Dass man letztendlich gratis die Zeitung ausgetragen hat, interessiert nicht.

Selbst wenn man für eine ehrenamtliche Tätigkeit eine Aufwandsentschädigung erhält, muss man dies als "Einkommen" sofort dem Jobcenter melden, der dann eine Neuberechnung der Hartz4 Leistungen vornimmt, denn sonst bekommt man eine "Sperre". Selbst wenn 13jährige Hartzer die Zeitung austragen, wird das angerechnet und das Kind schaut in die Röhre und konnte somit kein Taschengeld verdienen. Also trägt niemand die Zeitung aus.

Diesem ganzen Theater entgeht man am besten, wenn man sich nicht engagiert und zu Hause bleibt. Das Zuhause beiben kostet im Winter natürlich auch wieder viel Geld, denn man muss häufiger die Heizung anstellen. Wenn man eine 8 Stunden Arbeit hat, dann fallen zusätzliche Heizkosten weg. Derjenige der Arbeit hat, spart auf jeden Fall.

Die allerblödeste Situation besteht darin, wenn ein Mensch eine Teilzeitbeschäftigung hat, und zusätzlich aufstockendes Hartz-4 bezieht und sich dann auch noch ehrenamtlich engagiert. Da kommt man dann mit dem Formulare ausfüllen nicht mehr nach, und aus der ganzen Bürokratie fast nicht mehr heraus. Das kostet Kraft und unendlich viel Energie.

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Ja, da hat die Gästin Recht! Arbeitslosigkeit ist ein Full-time-job. Man erwartet von Arbeitslosen, dass sie sich mindest 40 Stunden in der Woche um eine Arbeitstelle bemühen, dass sie Bewerbungen schreiben, Ihr Äußeres in einen Topzustand bringen, jedes Vorstellungsgespräch( auch die Trainingsgespräche) mit Bravour meistern: wortgewandt, trainiert( Keinen Kaffee annehmen, mit super gut geputzten Schuhen erscheinen, zuvor einen Friseur kontaktiert haben, ihr Äußeres muß aber ,mit dem Bewerbungsphoto identisch sein....u.s.w., u.s.w., sich einen attraktiven PKW zulegen oder für das Gespräch ausleihen). Wenn sie das Alles beherzigen, stehen sie jeden Monat auf ihrem Konto in den roten Zahlen. Das interessiert aber keinen Menschen!!!
Ganz im Ernst: Ehrenämter können sich nur Ehefrauen von gut verdienenden Ehemännern oder Ehemänner von gut verdienenden Ehefrauen leisten. Oder aber Menschen, die es verstehen, sehr sparsam zu leben....äußerst sparsam!!!!!!!!!!!Rentner z. B. oder Hausfrauen mit einer guten Schulbildung( Hauswirtschaft, Handarbeit, Werkunterricht, Sportgymnastik, Erlernen von Musikinstrumenten) und dem Drang, Überflüssiges auf Bazaren wieder zu verkaufen! Anders geht es nicht!!!

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Und wieder einmal kommt es mir so vor als würde ein Arbeitsloser nur einen Zeitvertreib suchen. Dem ist NICHT so. Ein Arbeitsloser würde gerne eine anständig bezahlte Arbeitsstelle finden, um sein Leben wieder selsbtbestimmt bestreiten zu können.
Nur weil ich im Moment Arbeit suche, heisst das nicht, dass ich Freiwild für die Allgemeinheit bin. Ich habe auch als Arbeitsloser noch ein eigenes Leben eine eigene Familie. Und genau dafür benötige ich Geld.
Wenn die "ehrenamtliche " Tätigkeit normal bezahlt würde, wie ein normaler Arbeitsplatz, dann mache ich das.