Martin Gerten/dpa
Arbeit tut gut, aber viele Menschen finden keine. Ein zweiter Arbeitsmarkt könnte besser sein als Hartz IV
Gabriele MeisterLisa Strieder
12.11.2013

chrismon: Bei der Diskussion um Langzeitarbeitslosigkeit geht es immer nur um Zahlen. Worüber müssten wir stattdessen reden?

Tim Obermeier: Wer Arbeitslosen helfen will, muss die Menschen hinter den Zahlen kennen. Es gibt nicht die Arbeitslosen. Das ist eine sehr heterogene Gruppe. Und man muss auch fragen, wie die Zahl berechnet wurde: Menschen, die etwa einen Ein-Euro-Job haben, gelten in der Statistik nämlich nicht mehr als arbeitslos.

Gibt es trotzdem typische Probleme, mit denen Langzeitarbeitslose kämpfen?

Wir haben 110 Interviews geführt und einen Datensatz des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung ausgewertet, der Informa­tionen zu 15 000 Personen enthält. Bei fast allen Hartz-IV-Empfängern haben wir Hemmnisse bei der Arbeitssuche festgestellt – ­offensichtliche, wie fehlende Abschlüsse, und subtile, wie Tattoos und Übergewicht. Arbeitgeber sortieren solche Bewerber früh aus.

Wollen die gar nicht arbeiten?

Davon kann keine Rede sein! Es mag schwarze Schafe geben, aber wir haben festgestellt: Langzeitarbeitslose sind sogar moti­vier­ter als Leute mit Arbeit. Einen Ein-Euro-Job wollen viele freiwillig machen, obwohl sie dann immer noch keine richtige Arbeit haben.

Ist das denn eine sinnvolle Alternative?

Die meisten sind froh, endlich eine Aufgabe und eine Tagesstruktur zu haben. Aber wenn der Job nach sechs Monaten endet, fühlen sich viele erst recht nutzlos.

Weil die Gesellschaft ihnen das signa­lisiert?

Ja. Arbeit hat bei uns einen extrem hohen Stellenwert. Arbeitslosen wird oft vorge­worfen, sie seien selbst schuld an ihrer Si­tuation. Außerdem haben gerade Langzeit­arbeitslose keine finanziellen Reserven mehr. Sie können nicht mit anderen ins Kino gehen, sie sind von der sozialen Teilhabe ausgeschlossen.

Die Konjunktur ist gut, und die Menschen finden trotzdem keine Arbeit. Wie sieht das in zehn Jahren aus?
Aufgrund unserer Studie gehen wir davon aus, dass in Deutschland etwa 435 000 Personen leben, die mit unserem jetzigen Arbeitsmarktsystem nie klarkommen werden. In zehn Jahren pressen wir diese Leute hoffentlich nicht mehr in ein Schema. Mit dem Geld, das wir jetzt für Hartz IV ausgeben, ­werden wir hoffentlich Unternehmen fördern, die auch Menschen mit Hemmnissen ein­stellen und ihnen geschützte Räume ­bieten, in denen sie ihre Potenziale entfalten können. Auch bei diesen Stellen sollten alle elementaren Arbeitnehmerrechte gelten, zum Beispiel Lohnfortzahlung bei Krankheit. Alles andere wäre Diskriminierung.

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"Die Konjunktur ist gut, und die Menschen finden trotzdem keine Arbeit?" Als Christ sage ich: das ist nicht die Hauptsache im Leben. Und eine schlimme Suggestion zugleich. Warum soll Arbeit so gut sein? Der Vorteil ist ein, möglicherweise, besseres Leben. wer aber nichts findet, hat vielleicht nur seine Möglichkeiten nicht ausgelotet ? Für Gott ist nichts unmöglich. Und Kino ist oft nicht drin, aber andererseits ist Kino auch für engagierte Menschen oft eine Überforderung! Wie wir es auch drehen und wenden, es gibt im Leben nur Sieger und Gewinner, das dürfen wir nicht übersehen!