Eine Frau in blauer Jacke hält mit ihrer Hand ein braun-rotes Cello
Meine Mutter präsentiert ihr selbstgebautes Cello
Sarah Zapf
„Die Unterlagen sind nicht auffindbar“
Meine Mutter baute sich mit 53 ein eigenes Cello in einer Dresdner Werkstatt. In der DDR war oft nur Staatstreuen die Musikschule vergönnt.
Julian Leitenstorfer
13.04.2023

Meine Mutter Christiane besuchte vor einigen Jahren einen ganz besonderen Workshop in Dresden: Sie baute sich ein eigenes Instrument bei einem Geigenbauer, der neben Geigen, Bratschen auch Celli anfertigt. Nach traditioneller italienischer Bauweise. Über zwei Wochen lang im September 2014 schaute sie täglich nicht nur ihrem Lehrmeister in seiner Arbeit über die Schulter, sondern durfte selbst unter Anleitung jeden der einzelnen Schritte umsetzen und begleiten - vom Rohmaterial mit allen Einzelteilen bis zu dem eigenen spielfertigen Instrument.

Wir holten meine Mutter damals in der Werkstatt im Dresdner Osten ab, als ihr Workshop beendet war. In den Räumen roch es nach Holz und Leim. Glücklich und stolz präsentierte sie uns damals ihr eigenes Cello, das sie nach mühevoller, tagelanger Handarbeit glanzvoll auf dem Boden abgestellt in ihrer Hand hielt. Wir merkten meiner Mutter die Erfüllung an. Für sie war es ein Herzensprojekt. Nicht nur, weil meine Mutter schon immer eine kreative und anpackende „Do it yourself“-Mentalität hatte, sondern auch wegen ihrer anders als erhofft verlaufenen musikalischen Ausbildung in der DDR.

Meine Mutter wollte als Kind gerne Geige lernen. Sie war von der Feinheit, dem Klang des Instruments fasziniert. Mein Opa und meine Oma spielten beide Klavier und Orgel. Als Pfarrer gehörte das Orgelspiel fast schon dazu. Meine Oma sprang ein, wenn kein Kantor im Gottesdienst zur Verfügung stand. Beide lernten es von der Pike auf. In den 1940er Jahren kamen die Lehrer noch nach Hause, um eine Stunde Klavier zu unterrichten. Oft wurde ein Holzbrett auf die Klavierränder über die Klaviatur gelegt, damit sich das Fingerspiel eigenständig und ohne Augenkontrolle entwickelt. Bezahlt wurde direkt danach mit ein paar Reichspfennig. 

Die Bauschritte hat meine Mutter in einem Fotobuch dokumentiert

Meine Großeltern steckten alle Kinder damals in den kirchlichen Flötenkreis - auch meine Mutter, die wie ihre Brüder eher widerspenstig und ohne große Ambitionen auf der Flöte spielte. Mit dem Gehalt meines Opas war es undenkbar, allen fünf Kindern einzeln Unterricht zu bezahlen. Und in einer Pfarrersfamilie war es sowieso naheliegend, die Gemeindeangebote zu nutzen und sich musikalisch einzubringen. Gespielt wurden dann auch nur sakrale Werke. Und die Gemeindelieder, um den Gottesdienst zu begleiten. Meine Mutter war eher rebellisch, sie mochte diesen engen Rahmen nicht.

Ihre Schwestern und sie legten deshalb Anfang der 1970er Jahre eine Aufnahmeprüfung an der örtlichen Musikschule ab - für Klavier- und Geigenunterricht. Die bestanden alle drei mühelos mit Bravour. Die Lehrer freuten sich schon über neue Schülerinnen aus einem musikalischen Elternhaus. Damals wurde an den Musikschulen in der DDR die gezielte Ausbildung vorwiegend auf Orchesterinstrumente im Einzelunterricht und mit Prüfungspflicht forciert. Klassik wurde in dem Staat groß geschrieben, hatte er doch bezogen auf die Quote der Sinfonieorchester pro Einwohner die besten Klassik-Versorgung weltweit. 

Und plötzlich sind die Unterlagen verschwunden

In der DDR-Verfassung war die Wichtigkeit der Musik auch verankert. In Artikel 18 hieß es: „Die sozialistische Gesellschaft fördert das kulturvolle Leben der Werktätigen.“ Dem Mangel an Konsum setzte man die planmäßige Pflege humanistischer Werte, wie eben ein kulturelles Angebot, entgegen. Die Konzerte verzeichneten eine hohe Stammkundschaft. Schulen und Kombinate besuchten regelmäßig - freiwillig und unfreiwillig - die Konzerte. 

Zwei Wochen nach der Prüfung erhielten meine Großeltern die Meldung vom Musikschulleiter, dass die Aufnahmeunterlagen leider nicht mehr auffindbar seien. Auf wundersame Weise. Für alle drei Töchter. Das täte ihnen leid, aber so sei es nun einmal. Kein Angebot, die Prüfung noch einmal zu wiederholen. Kein wirklicher Ablehnungsbescheid. Reine Schikane und Benachteiligung. Damit war die Ausbildung an der Musikschule gestrichen. Und meine Mutter wanderte zurück zum Klavier in der Gemeinde, ein Instrument, das sie damals gar nicht lernen wollte. 

Ich konnte in den 2000er Jahren als Neunjährige die Instrumente wählen und lernen, die ich wollte: Saxophon und Klarinette. Und ganz offiziell an der selben Musikschule, an der meine Mutter und ihre Schwestern damals abgelehnt wurden. Ein Grund mehr, an der Musik dranzubleiben.

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Kolumne

Sarah Zapf

Sarah Zapf kommt aus Annaberg-Buchholz in Sachsen. Der untergegangene Staat prägte Sarahs Kindheit, ihr Familienleben, ihre Jugend. Davon, und von ihrem aus Tschechien stammenden Großvater erzählte sie von Dezember 2022 bis Dezember 2023.