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Die Entwickler von Social-Media-Plattformen sind ziemlich gut darin, uns glücklich zu machen, mit immer passenden Erinnerungen und Fotos aus vergangenen Jahren. Meistens freue ich mich tatsächlich, diese zu sehen. Seitdem ich in Deutschland lebe, war Juli immer die Zeit für mich, in der ich mein Heimatland besuchte. Ich kaufte Geschenke für meine Freunde und Familie und packte voller Vorfreude meine Koffer.
Immer zu dieser Zeit werden mir auf Facebook Fotos von meinen jährlichen Reisen nach Kabul angezeigt. Mein Gesicht wirkt frisch und munter, als würde ich direkt im Himmel sitzen und all meine Sorgen vergessen haben. Doch dieses Jahr ist alles anders. Es gibt keine Reise nach Afghanistan. Wenn ich die Fotos sehe, spüre ich nur einen tiefen Groll, der sich auch durch fließende Tränen nicht auflöst.
Die Demonstration endete in einem Blutbad
Eine Erinnerung von vor sechs Jahren ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Am 23. Juli 2016 wurde von der »Enlightenment Bewegung« eine riesige Demonstration in Kabul organisiert. Diese Bewegung gilt als Wendepunkt im zivilen Ungehorsam gegen die diskriminierenden Entscheidungen der Regierung. Obwohl die Bewegung ursprünglich von den Hazara ins Leben gerufen wurde, nahmen schon bald Menschen aus allen ethnischen Gruppen daran teil, was vorwiegend für jüngere Menschen wichtig war, die versuchten, die historische Diskriminierung und den Hass zwischen verschiedenen Ethnien zu überwinden. Die Regierung warnte zwar vor den Gefahren einer solchen Demonstration, doch trotz der drohenden Gefahren versammelten sich unzählige Menschen, um ihre Stimme für Gerechtigkeit zu erheben.
Ich saß mit einem Freund in einem Restaurant, unweit entfernt von der Demonstration. Plötzlich klingelte sein Telefon. Als er den Anruf beantwortete, wurde er ganz ganz blass: „Mir geht es gut, mach dir keine Sorgen“, sagte er. Nachdem er aufgelegt hatte, klingelte sein Telefon weiter unaufhörlich und es erreichten ihn eine Nachricht nach der anderen. „Wir müssen los! Deine Familie macht sich bestimmt Sorgen. Es hat einen Anschlag bei der Demo gegeben!“ Er bestellte mir ein Taxi und schickte mich nach Hause.
Krawatten als Symbol des Scheiterns der vom Westen aufgezwungenen Demokratiebewegung
Zu Hause angekommen, saß meine ganze Familie gebannt vor dem Fernseher. Mein Eltern sahen mich zornig an. „Wo warst du denn? Uns wurde doch gesagt, heute zu Hause zu bleiben!“ sagte meine Mutter vorwurfsvoll. Weinend schaute sie sich die Nachrichten an. Überall waren schreiende Menschen und leblose Körper zu sehen. Einige junge Männer haben sich vor der Kamera ihre Krawatten vom Leibe gerissen, als Symbol für das Scheitern der vom Westen aufgezwungen Demokratie.
Am nächsten Tag ging ich zum Ort des Anschlags. Es war ein fürchterlicher Anblick. Die Straßen waren voller Blut und in jeder Ecke waren noch zerfetzte Leichenteile zu sehen. So vielen jungen Menschen, die sich nach Veränderung und einer besseren Zukunft sehnten, wurde das Leben genommen. Es ist unvorstellbar, wie sich ihre Angehörigen fühlten mussten. Zudem waren viele der Demonstranten die Hauptverdiener ihrer Familien. Ich wünschte, ich könnte ihnen sagen, dass ihre Liebsten nicht umsonst gestorben sind. Die traurige Wahrheit ist aber, dass sich der Terror durch Gruppierungen wie ISIS gegen Hazara und Schiiten seit der Machtübernahme der Taliban sogar verschlimmert hat.
In den meisten Orten auf der Welt gibt es keine Demokratie, keinen Wohlstand
Dieses Jahr am 23. Juli ging ich zum Christopher Street Day in Berlin. Überall wurde getanzt und von Liebe erzählt. Die Veranstaltung wirkte mehr wie eine große Party als eine Demonstration für Gleichberechtigung. Es gab keinerlei Reden oder andere inhaltliche Beiträge zum Thema. Ich fragte mich, ob der Großteil wirklich zur Unterstützung einer bunten Gesellschaft kam oder lediglich einen Grund zum Feiern und Trinken suchte.
Den jungen Leuten hierzulande fällt es sehr schwer, sich ihrer Privilegien bewusst zu werden. Wenn man sein ganzes Leben lang nur Wohlstand und Demokratie erlebt hat, ist es kaum vorstellbar, dass es an den meisten Orten auf der Welt ganz anders zugeht. Eine bittere Wahrheit, welche auch die jungen Leute in Afghanistan seit Jahrzehnten erleben und an der sich so bald nichts ändern wird. Mehr als je zuvor fühle ich mich motiviert und verpflichtet, auf die furchtbaren Zustände Afghanistans aufmerksam zu machen.