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Warum Intellektuelle häufiger mal schweigen sollten
Ob und wie Kirchenleute sich zu aktuellen politischen Themen äußern sollten, ist eine Frage, die mich seit jeher beschäftigt (und nervt). Deshalb beobachte ich so neugierig, wie es die Kolleginnen und Kollegen in Literatur und Publizistik halten. So richtig überzeugend ist das gerade nicht. Das hat Gründe.
19.05.2022

Kriegszeiten zeichnen sich auch dadurch aus, dass viele Menschen lautstark dummes Zeug von sich geben. Das klassische Beispiel dafür sind die europäischen Intellektuellen-Debatten zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Jetzt läuft es nicht viel besser. Man muss das verstehen: Alle sind aufgeregt, voller Angst und anderer unkontrollierbarer Gefühle, zugleich weiß niemand, was gerade wirklich passiert und was noch alles geschehen wird. Das ist aber ein besonderes Problem für diejenigen, die sich von Berufswegen öffentlich zu Wort melden. Ihre vermeintlich höhere Intelligenz, Bildung und Ausdrucksfähigkeit ermöglicht es ihnen, sich schnell und prominent medial zu verbreiten. Da immenser Orientierungs- und Diskussionsbedarf herrscht, meint es der Medienmarkt es zu gut mit ihnen.

Doch Publizisten, Philosophinnen oder Schriftsteller wissen auch nicht mehr als der Rest der Bevölkerung. Das hält viele von ihnen allerdings nicht davon ab, törichte offene Briefe zu verfassen, abgehobene Kommentare von sich zu geben, in Talkshows ihre mangelnde Urteilskraft vorzuführen. Einige haben dabei offenkundig ihre Emotionen nicht im Griff. Bei anderen lässt sich nicht übersehen, dass ihr ganzes Bemühen nur darauf zielt, sich durch die neue Lage nicht verunsichern zu lassen, sondern die alten eigenen Prinzipien unerschüttert aufrecht zu halten.

Und schließlich folgen all ihre Äußerungen der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie. Es sind zumeist Menschen, die in ihrem Leben noch nie institutionelle oder soziale Verantwortung übernommen haben. Als Ich-AGs wissen sie nicht, dass man gerade in Krisen besonnen agieren und kommunizieren sollte. Stattdessen versuchen sie, sich zu profilieren. Das geht am leichtesten, indem man Empörung schürt, Schuldige jagt, Meinungsrudel bildet und andere Rudel angreift. Das führt dann in ein lärmiges Meinungspingpong von perfekt abgedichteter Selbstbezüglichkeit. Militärexperten würden zwar sagen, dass all dies nicht „kriegsentscheidend“ sei (es geht ja hier eher um Unterhaltung). In der Tat, es ist bei Lichte betrachtet egal, wer was sagt, wer sich mit wem verfeindet und welcher Literaturverein sich wie zerlegt. Doch es verstopft die Kanäle und lenkt die Aufmerksamkeit weg von den aktuellen Geschehnissen und von den Menschen, die unter ihnen zu leiden haben.

Die Stärke der Literatur und der intellektuellen Publizistik liegt eigentlich darin, dass sie über einen längeren Zeitraum hinweg in stiller Arbeit heranreift, dass Texte langsam geschrieben und dann liegen gelassen werden, um erst nach erneuter Prüfung ein paar Tage später veröffentlicht zu werden. Das ist eine bewährte Methode, die auch in der Kriegs- und Krisenpublizistik Anwendung finden sollte.

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur