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Wer nennt die Namen, zeigt die Gesichter, erzählt die Geschichten?
In Ländern, in denen viele Menschen an Covid19 gestorben sind, wurden beeindruckende Versuche unternommen, die einzelnen Lebensgeschichten hinter den Sterbestatistiken sichtbar zu machen. Warum geschieht so etwas nicht auch in Deutschland?
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
12.12.2020

Als die schreckliche Zahl „100.000“ überschritten war, stellte die „New York Times“ in einer journalistischen Herkules-Tat viele, viele, viele der Verstorbenen vor, nannte ihre Namen, brachte Erinnerungen, erzählte Trauriges, Anrührendes, Humorvolles. Berühmte Menschen waren dabei und un-berühmte, Alte und Jüngere, Männer und Frauen aus den verschiedensten Herkünften. Bald wird die Zahl „300.000“ überschritten sein. Ob die „New York Times“ dazu etwas Ähnliches plant?

Bisher ist Deutschland, was die Todeszahlen angeht, vergleichsweise glimpflich durch die Pandemie gekommen. Ich selbst kenne nur zwei Menschen, die gleich zu Beginn „mit“ Covid19 verstorben sind. Ihre Familien und Freunde haben sie beigesetzt und gedenken ihrer. So ist es gut, so ist ausreichend. Doch wird nicht bald eine Zeit kommen, wo es deutlich mehr Todesfälle geben wird? Oder ist sie schon da? Die Zahl „400“ steht im Raum – so viele ungefähr sollen jeden Tag in Deutschland dem Virus zum Opfer fallen. Doch seltsam: In den Traueranzeigen ist davon bisher nichts zu lesen. Auch in den Zeitungen ist dies bisher kein Thema. Das hat auch sein Gutes: Auf noch mehr Skandalisierung können wir gut verzichten. Ich ärgere mich schon genug, wenn ich von Medien mit kopf- und herzlosen Vergleichen „wie ein Jumbojet-Absturz pro Tag“ belästigt werde. Bei „CNN“ zieht man sogar ritualhaft die Vergleichsgrößen „Vietnam-Krieg“ oder „Pearl Harbour“ heran. Das finde ich abstoßend.

Ganz nüchtern betrachtet, ist eine Überlastung der Friedhöfe, Bestattungsunternehmen, Pastoren oder Trauerrednerinnen noch nicht zu befürchten. Die 400 Sterbefälle verteilen sich ja auf das ganze Land. Und bisher war es eher so, dass es hier eine "Unterlastung" gab. In Metropolgebieten findet für über die Hälfte der Verstorbenen gar nichts mehr statt, außer einem "stillen Abtrag". Schockierende Bilder und Nachrichten von Friedhöfen am Rande der Erschöpfung wird es wahrscheinlich erst einmal nicht geben. Deshalb stellt sich die Frage danach, wie wir der Corona-Toten gedenken, anders, ernster, leiser, intensiver.

Gedenken geschieht am besten still, aber es hilft auch eine rituelle Gestalt. Eine nationale Gedenkstunde wünsche ich mir nicht, da befürchte ich staatstragende Vereinnahmungen. Aber wie wäre es, wenn die Kirchengemeinden sich etwas überlegten? Auch hier wird es – Gott sei Dank – immer noch vergleichsweise wenige Corona-Beerdigungen geben. Doch könnte man zum Beispiel zu Beginn des Fürbittengebets in der Stille eine Kerze stellvertretend für alle, die besonders unter der Pandemie zu leiden haben – die Erkrankten, die Verstorbenen, die Angehörigen – entzünden. Am besten für einen vorher bestimmten Zeitraum, damit es sich nicht erschöpft. Oder man macht es selbst zu Hause: Jedes Mal, wenn man die Kerzen auf dem Adventskranz entzündet, denkt man – nicht an eine hohe Zahl, sondern an unverwechselbare Menschen, die fehlen werden.

P.S.: Wer etwas Schönes erleben und dem allgemeinen-aufgeregten Gerede entkommen möchte, dem empfehle ich eine Radiosendung mit der Dichterin Dorothea Grünzweig. Sie lebt im fernen Finnland, schreibt wunderbare Verse und hat sie hier in einem sehr klugen, charmanten Gespräch vorgestellt.

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur