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Auch ich hatte mich an der Diskussion um Antisemitismus auf der Documenta beteiligt. Mir war nämlich ein besonders hässliches und obskures Detail aufgefallen (man klicke hier und lese außerdem den sehr instruktiven SZ-Artikel von Kia Vahland). Deshalb fühlte ich mich verpflichtet, nach Kassel zu fahren und mir einen eigenen Eindruck zu verschaffen.
Inzwischen haben wohl alle mitbekommen, dass ein riesiges Bild des indonesischen Kollektivs Taring Padi wegen antisemitischer Motive abgehängt wurde. Dabei sollte es – an einem zentralen Platz präsentiert – das Aushängeschild der Ausstellung werden. Doch in einem abgelegenen, ehemaligen Hallenbad sind immer noch viele andere Bilder von Taring Padi zu sehen. Man sollte sie in Ruhe studieren, weil man sie ebenfalls abhängen könnte.
Diese Bilder dienen der politischen Agitation. Deshalb nutzen sie einfache und wirkungsvolle Mittel: Es sind bunte Wimmelbilder, naive Malerei, leicht verständlich, grell und laut. Mit vielen Bezügen zur indonesischen Volkskultur. Als deutscher Protestant jedoch fühlt man sich an eine wichtige Bild-Erfindung der eigenen Konfession erinnert: die „Gesetz-und-Evangelium“-Bilder waren im 16. und 17. Jahrhundert sehr beliebt. So stellten sie die neue Lehre der Reformation vor: Ein Baum teilt das Bild in zwei Hälften, rechts sieht man das Land der Gnade (Christus, Auferstehung, Paradies) und links das Land des Gesetzes (Mose, Sünde, Tod). Bei den besseren Varianten waren beiden Bildhälften dialektisch aufeinander bezogen, bei den schlechteren lief es auf eine simple Abwertung des Alten Testaments, des Judentums und des Papsttums sowie eine billige Aufwertung der Reformation hinaus.
Das größte Bild von Taring Padi, das immer noch zu sehen ist, variiert diese Idee auf eine grob-propagandistische Weise. Dieses Bild zerteilt – wie fast alle Werke des Kollektivs – die Menschheit in zwei Gruppen. Rechts die Guten: Aktivisten und Freiheitskämpferinnen in schönster Harmonie, indigene Familien im Einklang mit der Natur. Links die Bösen: Kapitalisten mit Geld und Fabriken, Waffen und Soldaten. Sie besitzen keine menschlichen Gesichter. Die Welt wird so säuberlich aufgeteilt in Gute und Böse, Menschen und Dämonen, Einheimische und Fremde. Die Botschaft ist eindeutig: Die Moderne ist schlecht, die Feinde sind keine Menschen, das Böse kommt von außen. Man kann solch einer Weltsicht – aus deutscher Perspektive – durchaus eine strukturelle Antisemitismus-Nähe attestieren.
In einer geschichtlich-politischen Ausstellung allerdings könnten die Bilder von Taring Padi wichtige Exponate sein und als Zeugnisse eines notwendigen, mutigen, lebensgefährlichen, beeindruckenden Protests gegen extreme staatliche Gewalt und wirtschaftliche Ausbeutung in Indonesien dienen. Dafür aber müsste man sie in einen Kontext stellen und Verstehenshilfen geben. Auf der kaum kuratierten und dialogunfähigen Documenta dagegen wirken sie bloß wie Propagandakitsch, wie Relikte einer linkspopulistischen Agitation, die selbst in Indonesien keineswegs mehrheitsfähig sein dürfte.
Doch wenn man das Scheitern der Documenta wirklich verstehen will, muss man auch die Grundidee des Kuratoren-Teams Ruangrupa in seinem ursprünglichen Kontext betrachten. Dazu hat mir mein Kollege Eckhard Zemmrich von „Evangelische Mission Weltweit“, dem Dachverband evangelischer Missionswerke, wertvolle Hinweise gegeben. Er hat lange in Indonesien gelebt und intensiv zur dortigen Religionskultur geforscht. Ich habe ihn nicht nur auf Taring Padi, sondern auch auf das „Lumbung“-Prinzip von Ruangrupa angesprochen. Damit soll die Tradition indonesischer Reisscheunen bezeichnet sein, in denen alles gemeinschaftlich beraten, entschieden und genutzt wird. Was das eigentlich bedeuten soll, hatte ich in den vielen, vielen Medien-Berichten zu Documenta leider nicht gefunden.
Eckard Zemmrich erklärt es mir so: „Jede indonesische Insel, jedes Dorf, jede Ethnie hat ihre eigenen Bezeichnungen für diesen Beratungsort. Was ihnen gemeinsam ist, kommt am besten im indonesischen Begriff ‚Majelis‘ (‚Rat‘) zum Ausdruck: Man berät so lange, bis man eine Konsensentscheidung zustande gebracht hat. Mehrheitsentscheidungen haben dagegen ein Geschmäckle. Das gilt insgesamt für das indonesische Verständnis von Demokratie: Die vierte Säule der Staatsideologie ‚Pancasila‘, die landläufig mit ‚Demokratie‘ übersetzt wird, meint sehr Spezifisches, indem sie den aus dem islamischen Bereich herrührenden Begriff ‚Permusyawaratan‘ benutzt, der eben solch eine auf Konsens zielende Debattenkultur meint (die schon Mohammed in Medina pflegte). Das Ganze hat mit der hohen Stellung von ‚Harmonie‘ als sozialer und ontologischer Kategorie zu tun, die kosmologisch verankert ist.“
Daraufhin fragte ich ihn, ob solch eine politisch-religiöse Harmonie, so attraktiv sie wirken möge, nicht eine dunkle Seite habe. Individualität hätte in ihr keinen Platz, bleibender Dissens sei nicht vorgesehen, echte Diversität also auch nicht, wer nicht zum geschlossenen Kollektiv gehöre, finde keinen Ort, könne kein richtiger Mensch sein.
Dem stimmte Eckhard Zemmrich zu, führte mich aber sogleich zu den Abgründen der indonesischen Geschichte. Man müsse bedenken, dass diese Harmonievorstellung mit höchstrealen, extremen Gewalterfahrungen verbunden sei. Viel Gewalt kam tatsächlich von außen, nämlich durch die Kolonisatoren. Gegen sie richtete sich ein nationalistischer Widerstand. In dem epochalen Trauma dieser Nation – den Massakern von 1965/66 unter dem Diktator Suharto, denen Hunderttausende (wenn nicht Millionen) zum Opfer fielen – vermischte sich jedoch das „Außen“ mit dem „Innen“. Zum einen wurde das Morden von der CIA mitinitiiert, zum anderen haben ganz normale Bürger sich anstecken lassen und ihre Nachbarn umgebracht. Propagandistische Grundlage des Mordens war die Utopie einer Harmonie, eines nationalen Kollektivs, in dem alle Einheimischen aufgehen sollten. Und wer das nicht tun wollte – wie die Kommunisten, die kommunistischer Sympathien Verdächtigen, überhaupt die der Gottlosigkeit Beschuldigten –, wurde nicht mehr als Mensch betrachtet und durfte ausgelöscht werden.
Solch traumatischen Erfahrungen bilden den historischen und weltanschaulichen Kontext, in dem die Bildsprache von Taring Padi und das kuratorische Konzept von Ruangrupa entstanden sind. Ob sie dort eine angemessene politische und ästhetische Aufarbeitung gefunden haben? Auf jeden Fall zeigt sich in dieser Perspektive, wie fahrlässig es war, sie unvorbereitet und unbegleitet in Kassel auftreten zu lassen. Wahrscheinlich haben die Verantwortlichen gemeint, es reiche aus, einfach mal „den globalen Süden“ einzuladen und machen zu lassen. Im wohligen Völlegefühl eigener Fortschrittlichkeit haben sie übersehen, welcher Anstrengungen – intellektuell, kommunikativ und existentiell – es bedarf, um einander fremde Kulturen, die zudem jeweils ganz unterschiedliche Traumatisierungen in sich tragen, in einen Dialog zu führen.
P.S.: Wie es ist, Jesus zu spielen – darüber spreche ich in einer neuen Folge meines Podcasts mit Rochus Rückel, einem der beiden Hauptdarsteller der Oberammergauer Passionsspiele.