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Edissa* klammert sich an den Stäben des grünen Doppelstabmattenzauns fest und starrt hindurch. Sie weiß nicht, dass der Zaun so heißt. Ich weiß es, weil ich manchmal was zu Bausachen sagen soll. Edissa weiß, dass hinter dem Zaun der Spielbereich ihrer Kita war. Jetzt ist der ganze Sand weg. Von den Klettergeräten und Spielhäuschen sind die sonst unsichtbaren Bodenanker zu sehen.
„Hey Edissa, sieht aus, als könne die Schaukel Stelzen laufen“, sage ich. Edissa sagt nichts. Sie sieht mich an, springt von der Mauer und läuft zu ihrer Mutter, die ein paar Schritte weiter am Handy ist. Sie hat mich nicht erkannt. Meine Frau behauptet, unrasiert sähe ich mindestens 10 Jahre älter aus. Zudem habe ich eine Arbeitshose an und ein ziemlich mitgenommenes T-Shirt.
Wenn ich Edissa und die anderen Kinder früher besuchte, war ich anders angezogen. Geht man durch die Weststraße Richtung Neuenahrer Innenstadt, kommt man an der Kita Arche Noah vorbei. Bei schönem Wetter spielten die Kinder draußen. Dann kamen immer welche an den Zaun, um mir irgendwas zu erzählen. Also nicht irgendwas, wichtige Sachen, die sie mit heiligem Ernst loswerden mussten.
2024 könnte die Kita ihr 60-jähriges Bestehen feiern
Edissa war oft bei denen, die kamen, um zu erzählen. Sie stand dann auf der Mauer und hielt sich am Zaun fest, nur auf der anderen Seite. Weil der Spielbereich mit Mauer höher ist als der Bürgersteig, begegneten wir uns auf Augenhöhe. Was für Erwachsene eine ernsthafte Angelegenheit von Respekt und Wahrnehmung ist, war für die Kinder lustig. So groß sein wie ich, ganz ohne gewachsen zu sein.
Die Kita ist schon ziemlich alt. 2024 könnte sie 60-jähriges Bestehen feiern. Ihr Markenzeichen ist, dass Kinder so unterschiedlicher Herkunft dabei sind, wie Tiere auf der Arche waren. Vor gut 10 Jahren ist die Kita ins Mehrgenerationenhaus gezogen. Mehrgenerationenhäuser waren 2006 ein Geistesblitz der damaligen Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen. In Bad Neuenahr wurde die alte Grundschule umgestaltet. Richtig funktioniert hat es nie mit der Kita und dem ministeriellen Geistesblitz. Aber das ist eine Sache zwischen zwei Einrichtungsträgern, deren Revieren und Zuständigkeiten und Dünkeln. Für die Kinder hat das nie eine Rolle gespielt, die nehmen einfach als gegeben hin, was sie kennen.
Edissas Eltern stammen in zweiter Generation aus einem Land auf dem Balkan und sind liberale Moslems. Sie feiern ihre Feste, aber wenn die Kita einen Martinsumzug durch die Stadt macht, stehen sie am Stand und verkaufen Punsch, Waffeln und Würstchen. In der Woche vor Ostern war Edissa Jesus und das war ok. Wir hatten eine Andacht zu Palmsonntag in der Aula. Weil die Kita so alt ist, gab es einen Esel, den Kenner sofort ins Spielzeugmuseum gesteckt hätten: aus Plüsch mit Filzsattel und Zaumzeug auf einem Metallgestell mit kleinen Rollen. Wer sich traute, wurde mit einem Betttuch und Kordel als einziehender Jesus ausstaffiert. Zwei zogen und alle anderen tanzten und jubelten mit Luftballons. Edissas Gesicht in seiner Mischung aus Stolz und Freude ist mit Worten nicht zu beschreiben.
Der Kindergarten ist jetzt leer. Geborstene Scheiben sind vernagelt. Den gröbsten Schlamm haben Erzieherinnen mit ihren Familien und Eltern fortgeschafft. Trotzdem stinkt es wie an einer Tankstelle. Der Esel wird ertrunken sein. Im ersten Stock des Hauses hat die Kita zwei Räume bekommen. Dort malen sonst morgens Senioren Bilder und lernten bildungshungrige Bürger Fremdsprachen. Mehrzweckraum heißt sowas. Im September soll hier der Kita-Betrieb wieder aufgenommen werden. Wer dann kommt, weiß keiner. Eine Zeitung aus Westfalen hat zu Spenden aufgerufen und einen namhaften Betrag in Aussicht gestellt. Edissas Mutter erzählt mir, ihre Tochter habe das letzte Bild aus der Kita – ein Haus auf einer Blumenwiese – mit brauner Wasserfarbe übermalt. Edissa zieht sie fort, ohne mich anzusehen. Sie will weg.
*Edissa ist in Wirklichkeit nicht ihr echter Name. Ihre Traurigkeit aber ist echt.