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In ihren „Heiligen Schriften“ schwärmen alle Religionen vom Frieden. Doch seit 100 Jahren leisten die Religionen im Nahen Osten eher Beiträge zum Krieg als zum Frieden. Jede hat Angst vor der Übermacht der Anderen. Auch die jetzige Eskalation begann mit der ach so wichtigen Frage: wer wo wie laut beten darf?
Militärisch ist Israel nicht zu besiegen. Warum aber schickt dann die Hamas 4000 Raketen Richtung Israel, obwohl sie genau weiß, dass auf ihrer Seite wie immer weit mehr Menschen sterben werden als auf der Seite Israels? Solche logischen Fragen klingen im Morgenland für viele unlogisch. Jetzt nach dem Waffenstillstand muss über einen nachhaltigen und ehrenhaften Frieden nachgedacht werden.
Die Geschichte lehrt, dass Angst und Misstrauen nicht durch Krieg und Gewalt zu überwinden sind. Wichtig wäre jetzt wohl eher diese Frage: Welchen Beitrag könnten Religionen zum Frieden im Nahen Osten ganz konkret und praktisch leisten?
Die zentrale Botschaft: Versöhnen statt vernichten
Die zentrale Tugend der drei abrahamischen Religionen ist in gleicher Weise die Barmherzigkeit. Hier steckt ein riesiges, noch unerschlossenes Friedenspotential. Die gemeinsame Basis von Judentum, Christentum und Islam heißt: verstehen statt verurteilen, versöhnen statt vernichten, lieben statt hassen. Empathie ist der einzige Weg zum Frieden. Aber er funktioniert nicht, vielleicht noch nicht?
Gottfried Hutter, Psychotherapeut, Theologe, Politologe und Nahostkenner mit Jahrzehnte langen Kontakten zu wichtigen Persönlichkeiten aus Politik und allen drei Religionen im Nahen Osten macht in seinem Buch „100 Jahre Nahostkonflikt – Ehrenhafter Frieden“ einen neuen, überraschenden, zunächst utopisch scheinenden, aber doch realisierbaren Friedensvorschlag: Die umstrittenen israelischen Siedlungen im Westjordanland sind eine Friedenschance!
Utopisch, unrealistisch, verrückt? Sicher noch eine Vision.
Alle Kriege wurden irgendwann beendet. Warum soll das beim jetzigen Krieg zwischen Israel und der palästinensischen Hamas nicht möglich sein?
Vor 100 Jahren hätte niemand gedacht, dass es je eine deutsch-französische Freundschaft geben könnte. Doch es gibt sie längst.
Als Willy Brandt in den siebziger Jahren bereit war, die Oder-Neiße-Grenze zwischen Polen und Deutschland anzuerkennen, waren CDU und CSU zunächst strikt dagegen. Doch auch hier wurde das scheinbar Unmögliche möglich. Die Idee Brandts, diese ehemals deutschen Gebiete gehören faktisch eh schon seit 1945 zu Polen, wir Deutsche geben doch eigentlich durch diese Anerkennung des Faktischen gar nichts weg, überzeugte schließlich auch die Konservativen und Helmut Kohl konnte 1990 zugunsten der deutschen Einheit endgültig auf die früheren „deutschen Ostgebiete“ verzichten. Kohl „schenkte“ sie praktisch den Polen. Und wir Deutschen bekamen dafür das „Geschenk“ der deutschen Einheit. Beide Seiten hatten durch diese vernünftige Politik einen Gewinn. So ähnlich könnte es jetzt mit Geschenken zwischen Palästinensern und Israel gehen: Die Palästinenser „schenken“ Israel die Anerkennung ihres Staates und Israel stimmt einem eigenen palästinensischen Staat zu. Beide Seiten hätten gewonnen, weil sie auf dieser Basis einen ehrenhaften Frieden schließen könnten.
Diese Vorschläge macht Gottfried Hutter, der als langjähriger Trauma-Therapeut weiß, wie man beidseitige Traumata auflöst. Israels Ministerpräsident Netanjahu müsste sich vor der UNO, also vor der ganzen Welt, dafür entschuldigen, dass die Juden 1948 den Arabern Land wegnahmen, aber er könnte zugleich um Verständnis dafür werben, das den Juden nach 2000 Jahren Exil und nach dem Holocaust gar nichts anderes übrig blieb. Das heißt: Der israelische Ministerpräsident müsste den ersten Schritt tun, dann könnte die arabische Welt sagen: Das Land reicht für uns beide. Kooperation ist besser als Aggression. Einige meiner arabischen Freunde sagen mir: Eine solche Sprache würden wir verstehen. Darauf warten wir.
Das Land reicht für beide
Also warum sollen nicht zwei Staaten friedlich nebeneinander koexistieren? Israel mit einer arabisch-palästinensischen Minderheit neben Palästina mit einer jüdischen Minderheit der heutigen jüdischen Siedler?
Gerade die so umstrittene jüdische Minderheit der Siedler im Westjordanland bietet jetzt eine realistische Chance, das gesamte Westjordanland einschließlich der jüdischen Siedlungen und Gaza zu einem neuen palästinensischen Staat zu verwandeln. Das wäre endlich ein politisches Gleichgewicht zwischen Israel und Palästina mit der Chance auf Wohlstand für alle.
Wie lief es denn in Europa nach 1945?
Die wirtschaftliche Kooperation war die Basis für Wohlstand und politischer Zusammenarbeit. Das war der Ansporn. Also könnten auch Palästina und Israel und ihre jeweiligen Minderheiten ökonomisch zusammenarbeiten und andere arabische Länder zu einer Nahost-Gemeinschaft, einer Nahost-Union, einladen – mit dem Ziel Frieden und Wohlstand zu schaffen. Dabei könnte nach dem Vorbild der EU und in Kooperation mit der EU ein neues Wirtschaftswunder entstehen. Willy Brandt und Egon Bahr haben vorgemacht wie so etwas geht.
Am Anfang müssten natürlich pragmatische vertrauensbildende Schritte stehen ähnlich wie beim Überwinden des Kalten Krieges vor einigen Jahrzehnten in Europa. Israel könnte in der problematischen Wasserfrage durch ihre Meerwasserentsalzungsanlagen den Palästinensern genau so viel Wasser zugestehen wie einer jüdischen Person. Oder eine gesicherte Stromversorgung aus Israel und Ägypten für den Gazastreifen garantieren. Das wäre ein Anfang.
Das Ziel muss Aussöhnung und Frieden sein, vielleicht eine Zeit lang von UN-Blauhelmen überwacht. Dabei könnten die drei abrahamischen Religionen eine zentrale Rolle spielen. Alle drei Religionen basieren doch auf den Werten Liebe, Frieden und Barmherzigkeit. Eine starke politische und spirituelle Persönlichkeit müsste diese Vision, nach der sich Millionen Menschen aller Religionen im gesamten Nahen Osten sehnen, nachhaltig, glaubwürdig und öffentlichkeitswirksam vertreten. Vielleicht eine Frau wie Angela Merkel, die vom Frieden her denkt und nicht vom Kriegt her und die ab September 2021 dafür Zeit hat. Oder ein Mann wie Michail Gorbatschow, der vor über 30 Jahren den Mut zum ersten Abrüstungsschritt hatte.
Die Visionen von heute sind die Realitäten von morgen
Auch kluge Politiker und religiöse Führer in Saudi-Arabien und Iran hoffen auf diese Vision – wie Gottfried Hutter, der seit Jahren Kontakt zu allen Seiten pflegt, in seinem Buch aufzeigt. So könnte ein wachsender Nahostfrieden der Schlüssel für einen Weltfrieden werden.
Die bisherige Nahostpolitik war und ist zu visionslos. Vor allem die Bedeutung der Religionen in dieser Region für den Frieden wurde von den USA in allen Verhandlungen übersehen. Die Geschichte nach 1945 lehrt aber, dass selbst der Punkt des tiefsten Konflikts der Beginn zur Versöhnung in einer neuen Zeit sein kann. Frieden ist immer und grundsätzlich möglich. Das Gegenteil zu behaupten, ist Ideologie, unhistorisch und menschenfeindlich.
Ein anderer Trauma-Therapeut, der Deutsch-Iraner Nossrat Peseschkian, Begründer der Positiven Psychotherapie, hat mal gesagt: „Wer etwas haben möchte, das er noch nie hatte, muss etwas tun, das er noch nie getan hat“. Nur so wird Frieden zwischen Palästina und Israel möglich.
Die Visionen von heute sind die Realitäten von morgen. Das Geheimnis des Erfolgs heißt: Vergebung statt Vergeltung.