Lena Uphoff
15.11.2010

Die Massenmord-Anschläge von Manhattan und Washington haben mehr als fünftausend Menschenleben gefordert. Die grausame Präzision der terroristischen Attentäter schockte die meisten Menschen auf dieser Erde, die das Geschehen live am Fernseher miterlebten. Aber schon bald mischte sich in die Trauer, in die Mitleidsbekundungen und Solidaritätsadressen an die Amerikaner vielerorts ein anderer Ton: Amerika sei ein Stück weit selbst schuld an der Aggression, unter der seine Bevölkerung zu leiden habe. Mit dem Pentagon und den Türmen des Welthandelszentrums seien die Symbole dessen getroffen worden, was die westliche Supermacht in vielen Weltgegenden verhasst mache: militärische und wirtschaftliche Dominanz über die Grenze des Erträglichen hinaus. Bei aller Bestürzung über die Opfer des Anschlags also auch klammheimliche Sympathie für die Ziele der Täter?

Nicht nur für viele Islamisten sind die USA dank ihrer kraftstrotzenden Präsenz an vielen Punkten unseres Planeten der große Satan. Auch andere Anhänger geschlossener moralischer Ordnungen, gerade in Deutschland, betrachten den American Way of Life nicht als die Lebensart der Freiheit, sondern als Ausdruck des Bösen: als Verfall von Sitte und Anstand, grenzenlosen Egoismus, bedenkenlose Kommerzialisierung von Gefühl und Kultur. Und das Schlimmste an Amerika ist in den Augen solcher Kritiker der globale Erfolg seiner massenkulturellen Exporte: Film, TV-Seifenopern, Hamburger und Coca-Cola. Gegen Stalinismus und Staatsterror von rechts, so sagen sie, kann man sich wehren. Deren hässliche Fratzen verlocken nur wenige. Das schöne Gesicht Hollywoods und der Popkultur hingegen locke die Menschen vom schmalen Weg der Rechtgläubigkeit in den Abgrund.

Amerikas größte Schwäche ist seine Unwiderstehlichkeit. Nicht die Potenz seiner Streitkräfte, nicht die Macht der Wallstreet-Banken, nicht die umweltpolitische Ignoranz seiner Regierenden begründen Antiamerikanismus, auch wenn sie stets an erster Stelle genannt werden. Was die selbst ernannten Volkserzieher in Rage bringt, ist das Konzept des Individualismus, das in der Verfassung verbriefte Recht, dass jeder selbst entscheidet, worauf es ihm im Leben ankommt. Genau das aber ist der wichtigste Exportschlager des American Way of Life. Überall dort, wo sich die Menschen in seinem Sinne verhalten, verlieren Ideologen die Kontrolle über Herzen und Hirne ihrer Staatsbürger. Und das ist es, was die Gegner Amerikas im Iran und anderswo bestenfalls nervös und wütend, schlimmstenfalls brutal und herzlos macht.

Die selbstbewussten Paraden der Schwulen von San Francisco und New York, die Filme Woody Allens und Steven Spielbergs, die Musik von Bob Dylan und Miles Davis sind Resultate dieser offenen, schrillen und manchmal schrecklich ungerechten Gesellschaft der Freiheit ­ mit all ihren Freuden und Fehlern, vor allem aber mit der Fähigkeit zur Selbstkritik. Die hat Amerika nach dem Vietnamkrieg oder in der Verarbeitung des Watergate-Skandals hinlänglich bewiesen. Zur Selbstkritik wird Amerika auch diesmal fähig sein.

Jene, die gegenwärtig moralisch hoch fliegen, indem sie von Eigenschuld und apokalyptischer Bestrafung reden, sollten sich lieber wieder auf die Suche nach dem Balken im eigenen Auge machen. Ansonsten bleibt nur zu hoffen, dass sie nicht wissen, was sie reden.

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