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An dieser Stelle habe ich vor einem Jahr den Zauber der Anonymität beschworen, der uns Massenmenschen in den großen Städten davor schützt, verrückt zu werden. Würden wir uns in Bussen, Bahnen und Einkaufszentren ständig als Einzelne wahrnehmen und begrüßen müssen, wir wären längst des Wahnsinns verwirrte Beute. Dabei bleibe ich.
Man kann nicht laut "Guten Tag zusammen!" rufen, wenn man sich abgehetzt in den völlig überfüllten Bus quetscht. Aber es gibt Orte, an denen ärgert es mich, wenn jemand reinkommt, die Anwesenden wie Luft behandelt und sie nicht der geringsten Aufmerksamkeit für würdig erachtet.
Ich sitze mit einer Hand voll anderer Schwitzender in einer öffentlichen Sauna. Da tritt ein neuer Nackter durch die Tür, blickt stumm in der Kabine herum, findet die Lücke, setzt sich, schwitzt und schweigt. Im Wartezimmer meiner Ärztin zwängt sich eine junge Frau auf den letzten freien Stuhl. Kein Gruß, kein Blick, der Griff nach einer Illustrierten, Sendepause. Im Theater besetzt das adrette Paar die Plätze neben uns. Warum teilen sie uns nicht wenigstens mit einem Kopfnicken mit, dass sie uns als Nachbarn für die nächsten zweieinhalb Stunden registriert haben? Und in der Kirche wird es peinlich, als die Pastorin nach einer Dreiviertelstunde bittet: Geben Sie doch Ihrem Nebensitzer ein Zeichen des Friedens und begrüßen Sie ihn. Nachdem wir fünfundvierzig Minuten Seit' an Seit' im Gesangbuch geblättert, nach vorne geschaut und einander ignoriert haben.
Jürgen Fliege hat mal gesagt, er halte es für unehrlich, wenn Menschen in einer solchen Atmosphäre "Vater unser" beten; sie sollten das Gebet der Gebete lieber mit "Mein Vater" beginnen. Ich befürchte, dass viele diese Aufforderung nicht mal mehr als Provokation verstehen können, sondern nur noch stumm mit den Achseln zucken. So ist es halt. Grüßmuffel sehen das Problem nicht.
Eigentlich wäre es aber auch umgekehrt kein Problem, oder? Auch wer in der Sauna, in der Kirche, im Wartezimmer oder im Parkett für sich sein will, könnte doch wenigstens "Tach" murmeln oder "Hallo", von dem im Süden Deutschlands üblichen "Grüß Gott" oder "Salü" ganz zu schweigen. Vielleicht müssten wir weniger über die Folgen der Individualisierung, über Vereinsamung und fehlende Mitmenschlichkeit klagen, wenn wir uns häufiger mit dieser knappsten Geste des gegenseitigen Respektes begegnen könnten.
"Fehlende Kinderstube" hat meine Tante kurz und knochentrocken festgestellt, als ich sie um ihre Erklärung der allgemeinen Grußlosigkeit gebeten habe. Das klingt sehr altmodisch. Wahrscheinlich ist es nicht ganz falsch. Aufmerksamkeit will gelernt und geübt sein. Wenn ich morgens meinen Sohn auf den Schulhof bringe und seine Klassenkameraden begrüße, blickt mich mehr als die Hälfte der Kinder stumm, starr und erschrocken an: Was will der denn von mir? Freundlich sein ist überhaupt nicht cool. Schweig, Bub! Bleibe für dich, halte dich raus! Stoffel werden nicht geboren, sie werden erzogen.
"Vielleicht ist das alles nur Unsicherheit oder die Angst, aufdringlich zu sein", mutmaßt eine Kollegin. Sie trennt gar nicht viel von meiner Tante. Die Unsicherheit ist nichts anderes als das Ergebnis von zu wenig Übung, von Nichtwissen, wie man sich verhalten soll: Wenn ich nichts tue, tue ich auch nichts Falsches. Und doch brauchen wir alle Wärme, Nähe und ein Stückchen Aufmerksamkeit.
Möglicherweise denken Sie jetzt gerade: Der Mann hat Sorgen, gibt es denn nichts Wichtigeres mitzuteilen? Natürlich gibt es Wichtigeres, zum Beispiel den Kampf gegen Gewalt. Nur: Wie soll ich es schaffen, in der Straßenbahn Partei für einen angepöbelten Fremden zu ergreifen, wenn ich es als die natürlichste Haltung begreife, meine Mitmenschen zu ignorieren?
Guten Tag, allerseits!