Lena Uphoff
15.11.2010

Du sollst nicht lügen! Lügen haben kurze Beine. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er gleich die Wahrheit spricht. Inge B., die Mutter meines Freundes Frank, nahm die moralische Erziehung des Sohnes ernst. Mit Nachdruck und immer wieder hat sie den Jungen daran erinnert, wie gut man durchs Leben komme, wenn man sich an den Zehn Geboten aus der Bibel orientiere, unter anderem eben auch an der darin enthaltenen Aufforderung, stets die Wahrheit zu sagen.

Jahre später konfrontierte der erwachsene Frank seine Mutter mit einer Wahrheit, "die sie mir hatte ersparen wollen, wie sie sagte". Sie hatte Robert, ihren zweiten Mann, nicht erst nach der Scheidung von Franks Vater kennen und lieben gelernt, wie sie stets behauptet hatte. "Er war keineswegs ­ als neuer Papa und treu sorgender Ehemann ­ unser Retter, wie es Mama immer verkaufte. Er war der Scheidungsgrund, ihr langjähriger, heimlicher Geliebter. Die beiden waren nur clever genug, bis zur Scheidung und noch ein paar Monate darüber hinaus den Schein zu wahren und meinen armen Vater auflaufen zu lassen."

Frank gerät noch heute außer sich, als er mir die Geschichte erzählt. Du sollst nicht lügen! Aus ihrem Mund! Ein Witz! Dass sie sich dabei die Zunge nicht abgebrochen hat! Unglaublich!

Hat sich seine Mutter bei ihm entschuldigt? "Nicht so richtig. Es tue ihr Leid, sagte sie. Ich werde sie wohl nicht verstehen können, aber sie habe keine andere Wahl gehabt. Ich habe sie angebrüllt: Dann hättest du dir wenigstens dein moralisches Gelaber, dein Gesülze, deine weisen Lehren sparen sollen!"

Ich kenne Franks Mutter nicht. Auf ein paar Bildern, die er mir von ihr gezeigt hat, ist eine attraktive ältere Frau zu sehen. Fast auf jedem Foto lacht sie. Ihre Augen aber wirken traurig. Und je länger ich über die Geschichte nachdenke, desto deutlicher empfinde ich Sympathie für diese Fremde. Ja, Inge hat Unrecht getan, sie hat Menschen getäuscht und verletzt. Ja, Frank muss es zynisch und doppelzüngig vorkommen, dass sie ihn zur Wahrhaftigkeit angehalten hat, während sie ihn und sich selbst zwang, in einer Lüge zu leben. Ja, sie hat dadurch bei ihrem Sohn allen Kredit verloren, was auf Deutsch Glaubwürdigkeit heißt. Sie hat gesündigt und versagt.

Aber hat Frank Recht, wenn er sagt, sie hätte sich ihr moralisches Gelaber sparen sollen? Waren die wohlmeinenden Appelle an den Sohn wirklich scheinheilig und deshalb besonders abgefeimt? Hätte sie ihm sagen sollen: Nimm es mit der Wahrheit nicht so genau, mein Junge. Ich tu's auch nicht. Lüge ruhig, wenn es dir in den Kram passt?

Inge hat stattdessen Maßstäbe hochgehalten, die auch dann gelten, wenn jene an ihnen scheitern, die sie vermitteln. Inge hat Frank überzeugt: Du sollst nicht lügen. Und nur weil er es richtig findet, bei der Wahrheit zu bleiben, ist er so wütend auf seine Mutter. Sein gerechter Zorn ist der Erfolg ihrer Erziehung.

Und noch eines: Wer lügt und andere gleichzeitig vor der Lüge warnt, glaubt selbst noch an die Maßstäbe und weiß, dass er gegen wichtige Regeln verstößt. Es klafft ein Graben zwischen Sein und Bewusstsein. So zu leben belastet. Nicht dauernd, aber immer wieder. "Ja", meinte Frank, dem ich meine Gedanken vor ein paar Tagen anvertraut habe, "ich glaube, meine Mutter befiel ab und an die Angst, dass die Wahrheit rauskommen könnte. Aber noch größer als die Angst vor der Entdeckung war ihre Angst, als entlarvte Lügnerin und Ehebrecherin weiterleben zu müssen. Deshalb hat sie alle Anstrengungen in Kauf genommen, die Lüge am Leben zu halten."

Ich weiß nicht, ob Franks Mutter ihn inzwischen um Verzeihung gebeten und ob er ihr verziehen hat. Seit er ihre Angst wahrnimmt, ist er jedenfalls merklich milder gestimmt, verwandelt seinen Zorn nach und nach in Traurigkeit. Meine eingestandene Sympathie für die Lügnerin hat er mir jedenfalls nicht übel genommen.

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