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Bedauernd schüttelt der Beamte den Kopf: "Tut mir leid, Hermann ist aus." Ich stehe an einem Schalter der Deutschen Post und möchte die Sonderbriefmarke "2000 Jahre Varusschlacht" erwerben, die in trauter Dreisamkeit das abbildet, was vom Drama des Jahres 9 nach Christus geblieben ist: das Hermannsdenkmal, eine Porträtbüste des Kaisers Augustus und die eiserne Reitermaske von Kalkriese, dem mutmaßlichen Ort der Schlacht.
Offenbar ist das Interesse groß, schlägt sich nieder in mehr als dreißig Buchveröffentlichungen, die zum Jubiläum erschienen sind. Doku-Fictions über Römer und Germanen, ausgestrahlt zur besten Sendezeit, erreichten nie gekannte Einschaltquoten, und an den Ufern deutscher Flüsse drängten sich Zehntausende, um in der "Victoria" mitzurudern, einem bis zum letzten Holznagel originalgetreu nachgebauten römischen Patrouillenboot.
Alles nur ein punktuelles Aufflackern historischen Bewusstseins, angestoßen durch einen mächtigen Medienhype, dem sich niemand entziehen konnte? Mitnichten, Geschichte ist in. Ob Gründung der Bundesrepublik, Wiedervereinigung, Beginn des Zweiten Weltkriegs, Versailler Vertrag, Krönungsjubiläum Ottos IV. (wer war das noch mal?), Händel oder Schiller, voll sind Feuilleton und Fernsehen, und längst ist das "runde" Jubiläum, 25, 50 oder 100 Jahre nicht mehr zwingend. 20, 40 oder 70 Jahre tun es auch.
Es muss einen Grund haben, dass Geschichte zunehmend attraktiv ist. Dass historische Themen Titelgeschichten für die großen Magazine abgeben. Gerade was die Geschichte vor der "Urkatastrophe" des Ersten Weltkriegs angeht, sprechen die Einschaltquoten der von Guido Knopp verantworteten zehnteiligen Fernsehserie "Die Deutschen" eine deutliche Sprache. Mit bis zu sechseinhalb Millionen Zuschauern, einem Marktanteil von rund 17 Prozent, darunter mehr als eine Million Zuschauer von 14 bis 19 Jahren, ist sie eine der erfolgreichsten Sendungen überhaupt.
Sind die Deutschen auf dem Wege, sich den großen Fragen zu stellen: Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir?, wie sie von der ZDF-Serie plakativ formuliert wurden. Zeugt das Interesse an der Geschichte "von einer gewachsenen Sehnsucht nach historischer Verortung", wie die Bundeskanzlerin vermutet? Sind wir - nachdem wir Hermann den Cherusker, Kaiser Barbarossa und den "Alten Fritz" als untaugliche Vorbilder entsorgt haben - dabei, uns die deutsche Geschichte aufs Neue und unter anderen Vorzeichen wiederanzueignen? Suchen wir nach der "neuen Großerzählung, die uns politische Perspektiven bietet", wie sie der Politologe Herfried Münkler in seinem Buch über "Die Deutschen und ihre Mythen" für notwendig hält?
Tatsächlich gibt es einen Trend hin zur deutschen Geschichte. Wobei gerade die Epochen, die im Schulunterricht kaum mehr abgehandelt werden, beispielsweise das Mittelalter, wiederentdeckt werden: Phänomene wie die Hanse oder die Reichsbildung der Deutschen. Ob dahinter wirklich ein neuer Patriotismus steht, wie oft behauptet wird, wage ich zu bezweifeln. Eher breitet sich eine Normalität aus, die unsere Geschichte nicht nur allein vom Nationalsozialismus her denkt.
Mehr als nach ihrer Identität scheinen die Deutschen auch nach gut erzählten Geschichten zu suchen. Es gilt der Satz "Schön ist es auch anderswo - und hier bin ich sowieso" des Dichterhumoristen Wilhelm Busch. Geschichte bietet einen ungeheuren Fundus exotischer Andersartigkeit in Mentalitäten, Denkweisen, Alltag. Sie schlüsselt Landschaften und Regionen auf, bringt die stummen Zeugen der Vergangenheit zum Sprechen. Sie erklärt das Heute aus dem Gestern und schafft damit Sinn in der Abfolge der Generationen. Doch egal, ob Gold der Skythen oder neueste Ausgrabungen in Martin Luthers Latrine in Wittenberg - Voraussetzung für die öffentliche Wirkung ist vor allem, dass sich die trockenen Fakten zu einprägsamen Bildern formen.
Kein Problem haben damit die zahllosen historischen Romane. Theoretisch. In der Praxis ist freilich ihre dichterische Fantasie beschränkt. Zwar will der Leser durch eine spannende Handlung unterhalten werden, fordert aber gerade im Detail absolute Genauigkeit und einen Ablauf der Ereignisse, der nicht der geschichtlichen Logik widerspricht. Wer römische Legionäre Tomaten essen lässt oder bei germanischen Stämmen die Wehrpflicht einführt, wirkt unglaubwürdig. Kein Zufall, dass bei solchen Anforderungen sich viele der Autoren auf ein historisches oder archäologisches Studium stützen. Tatsächlich ist der Erfolg der historischen Romane, die mittlerweile praktisch jede Epoche der Menschheitsgeschichte abdecken, auch darauf zurückzuführen, dass die in ihnen enthaltenen Informationen immer zuverlässiger, immer ausführlicher geworden sind, bis hin zu beigegebenen Glossaren und Quellenangaben.
Sowieso aufs Bild setzt das Fernsehen. Dabei präsentiert sich das Genre zweigeteilt. Wer sich auf eine reine Dokumentation ohne Spielhandlungen beschränkt, muss mit besonders schönen Bildern an exotischen Orten aufwarten, dazu noch mit neuen Erkenntnissen. Dass freilich permanent die Geschichte umgeschrieben werden müsse, bleibt der immer wieder vorgetragene fromme Wunsch der Produzenten. Im Gegensatz dazu arbeiten Doku-Fictions mit Schauspielern, die historische Szenen nachspielen. Solche Personalisierung fasziniert die Zuschauer, aber sie erzeugt ein Problem: Der Zwang zur dramatischen Handlung steht öfter der historischen Erkenntnis im Wege.
So bediente die ZDF-Produktion über die Varusschlacht das alte Klischee einer Schlacht inmitten von Sümpfen und Wäldern, und in der Deutschen-Serie über Canossa wird Papst Gregor von dem frierenden, im Büßerhemd vor dem Burgtor auftauchenden König Heinrich plötzlich überrascht. Da nützt es nichts, dass im anschließenden Interview der Historiker Stefan Weinfurter von einem geschickten Schachzug spricht, von einem Ritual, das vorher abgesprochen wurde. Wie sich bei Zuschauertests herausstellte, gewinnt in der Konfrontation Bild gegen Text immer das Bild und stempelt Heinrich damit, gegen die historische Realität, zum Verlierer.
Mehr Bilder, mehr Fiktion, reichlich Klischees: Mit korrekter Darstellung des Gewesenen hat das nicht immer zu tun. Nichtsdestotrotz hat sich diese Art der Geschichtsdarstellung etabliert. Ihren Nutzen, gerade auch durch intensive Nachbereitung im Unterricht, rühmen die Lehrer. Die starke Fokussierung auf Persönlichkeiten - "Männer machen Geschichte" - gibt Anlass zum Streit. Warum scheitert Strukturgeschichte eigentlich im Fernsehen? Zum Ausgleich werden umfängliche Module mit Materialien auf den Internetseiten des Senders angeboten. Fast schon symbiotisch eingebunden ist die Wissenschaft. Keine Dokumentation, die ohne die Statements und die Beratung ausgewiesener Experten auskäme.
Deutschland auf Identitätssuche? Wohl nicht. Eher kann man von einer wachsenden Lust an der Deutung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sprechen. Ihr geben sich inzwischen auch Museumspädagogen und die Betreiber der überall entstehenden archäologischen Parks hin. Die "Kniearchitektur" der Antike - von deren Bauten meist nur die Fundamente original erhalten sind - ergänzen sie durch möglichst authentische Rekonstruktionen. Geboten wird "Geschichte zum Anfassen". Man streift sich eine Tunika über, probiert Helm und Brustpanzer aus oder speist auf römische Art. Das Leben von damals nachzuempfinden, sich - nächste Stufe der "Einfühlung" - am Wochenende in Römer, Wikinger oder Kelten zu verwandeln, ist für viele spannender als der Alltag, von dem ein Privatsender behauptet, er sei ein Abenteuer, und in dessen Werbeblöcken der Biss in einen Schokoriegel als ultimativer Kick gefeiert wird. Wer Geschichte erzählt, braucht Mut zur Deutung, muss aus der Vielzahl der Möglichkeiten bewusst eine einzige auswählen. Die Kunst, dennoch ein differenziertes Bild der Vergangenheit zu entwerfen, besteht darin, nicht zu vereinfachen, sondern Leser, Zuschauer oder Besucher in den Erkenntnisprozess einzubeziehen. Wenn Erzählung und Wissen sich in der Balance befinden, stellt sich das ein, was aus oberflächlicher Spannung Neugier und aus einer Abfolge von Fakten ein historisches Puzzle macht. Im besten Falle passen die Teile so gut zusammen, dass es der Betrachter selbst zusammensetzen kann.