Chrismon: Herr Bundespräsident, wir stehen am Anfang des Jahres 2004 und die Deutschen hoffen auf einen Aufschwung. Die Politik kennt die Herausforderung durch die nötigen Reformen unseres Sozialsystems. Aber sind auch die Bürger bereit, die nötigen Veränderungen mitzutragen? Anders gefragt: Sind die Deutschen reformfähig?
Johannes Rau: Ich glaube schon. Wir haben ja auch in der Vergangenheit große Herausforderungen bewältigt. Aber im Moment beobachten wir eine große Verunsicherung bei vielen Menschen. Das liegt auch daran, dass sehr viele Reformschritte gleichzeitig unternommen werden und viele nicht mehr überblicken, was konkret auf sie zukommt. Die komplizierten politischen Entscheidungsprozesse haben die Transparenz des Verfahrens ja auch nicht gerade erhöht.
Es geht also darum, den Veränderungsprozess richtig wahrzunehmen...
Rau: Ich kann's an einem Beispiel erklären. Wir diskutieren einerseits die Frage, mit welchen für manche schmerzhaften Maßnahmen die Rentenbeiträge kurzfristig stabilisiert werden können. Gleichzeitig gibt es eine Debatte darüber, ob Menschen bis zum Alter von 67 Jahren arbeiten sollen, während mehr als die Hälfte aller Unternehmen in Deutschland schon heute niemanden mehr beschäftigt, der älter als 50 ist. Und in den Talkshows oder Interviews erörtern Experten, ob und wie das System ganz grundlegend verändert werden kann. Es ist schwer, da noch den Überblick zu behalten. Man muss den Menschen auseinander halten, was jetzt aktuell getan werden muss und was an langfristigen Reformen geplant ist, die sich erst für die nächste Generation auswirken werden. Das muss besser erklärt werden. Aber klar ist auch: Wir brauchen einen langen Atem für die Reformprozesse. Das heißt nicht, dass wir einfach abwarten sollen. Es gibt eine Geduld, die aus Beharrlichkeit besteht die brauchen wir jetzt. Denn es wird auch immer wieder Rückschläge geben, die uns nicht in Resignation stürzen dürfen. Wir stehen vor schwierigen Jahren.
Sie sprachen mal im Zusammenhang mit der Integration von ausländischen Mitbürgern davon, dass wir eine Politik ohne Angst und Träumerei bräuchten. Sind wir Deutschen heute und auch die nachwachsende Generation zu wenig zuversichtlich und zu wenig realistisch?
Rau: Von beidem fehlt uns etwas. Am deutlichsten wird das an der Neigung der Deutschen zur Selbstbeschäftigung. Ich kenne kein Volk, das sich so sehr mit sich selber beschäftigt, wie wir das tun. Die Anforderungen an die Deutschen, an die deutsche Wirtschaft, an die deutsche Kultur, an das deutsche Sozialsystem sind Gegenstand endloser Reflexionen. Wenn Sie die Probleme und Sorgen in Afrika, Asien oder Lateinamerika wahrnehmen und dann die hiesige Diskussion verfolgen, dann wirken wir gelegentlich sehr kleinkariert. Und das dürfen wir nicht sein.
Wie lässt sich dieses Klima ändern?
Rau: Unter anderem durch einen stärkeren Blick nach draußen. Warum werden in Deutschland viel weniger Kinder geboren als in Frankreich und das bei ähnlichen Rahmenbedingungen? Es fehlt uns an Zuversicht.
Bezieht sich dieser Eindruck auch auf die junge Generation, auf diejenigen, die jetzt in Ausbildungen stehen, zur Schule gehen oder studieren?
Rau: Ja. Aber immer nur auf einen Teil. Es gibt immer auch das andere. Es gibt eine große Bereitschaft, mitzumachen, sich zu engagieren, gerade bei jungen Menschen. Die Leute machen das nicht nur, weil sie Gutes tun wollen, sondern für viele ist das ein Schritt zur Selbstverwirklichung. Es macht auch Freude, für andere da zu sein. Immerhin engagieren sich von den 82 Millionen Deutschen etwa 24 Millionen über einen längeren Zeitraum hinweg ehrenamtlich. Das ist viel. Was uns noch fehlt, sind Strukturen, die jungen Menschen ein zeitlich begrenztes und thematisch überschaubares Engagement ermöglichen.
Das, was man gemeinhin "projektorientiert" nennt.
Rau: Ja. Die Deutschen neigten früher zur lebenslangen Mitgliedschaft, in Parteien, Kirchen, Verbänden oder Gewerkschaften. Darunter leidet die Fähigkeit, Menschen neu für eine Sache zu gewinnen. Aber genau das wollen junge Menschen die wollen sich für eine Sache eine bestimmte Zeit lang einsetzen. Die wollen in einen Kibbuz gehen für ein halbes Jahr, aber die leiten aus einem solchen zeitlich befristeten Engagement nicht automatisch die Verpflichtung ab, sich ein Leben lang für die deutsch-israelische Verständigung einzusetzen.
Ist das eine Reaktion auf eine allgemeine Unübersichtlichkeit?
Rau: Ganz gewiss auch. Ich will jetzt niemandem zu nahe treten, aber wer kann denn die ganzen Reformprojekte Riester, Rürup, Hartz und so weiter , wer kann die denn so erklären, dass man sie wirklich versteht?
Ein Jugendlicher hat neulich in einem Gespräch zum Thema Ehrenamt gesagt: Ich möchte was machen, bei dem ich mich spüren kann. Daraufhin hat ihm ein gebildeter Mensch widersprochen: Sich zu spüren dürfe nicht die zentrale Antriebsfeder für Aktivitäten sein, das sei ja eine rein ichbezogene Haltung.
Rau: Wer sich nicht selbst liebt, kann andere auch nicht lieben. Ich bin gegen diese pauschale Kritik an der so genannten Ichbezogenheit. Man muss die Dinge richtig einordnen. Wer Politik nur aus Ehrgeiz macht, ist da falsch. Wer Politik ohne Ehrgeiz macht, ist wahrscheinlich nicht sehr erfolgreich.
Was können wir denn eigentlich tun, wir Eltern?
Rau: Das hat abschließend schon der große Pädagoge Friedrich Fröbel vor mehr als 150 Jahren gesagt: Erziehung ist Beispiel und Liebe, sonst nichts.
Die zentrale Aufgabe lautet, die Startchancen für die nächste Generation zu verbessern.
Rau: Ja. Bildung darf in unserer Gesellschaft nicht vom sozialen Milieu des Elternhauses abhängen. Da haben wir noch sehr viel zu tun. Das eigentliche Ergebnis der Pisa-Studie ist diese Erkenntnis.
Sie waren in Ihrem langen Politiker-Dasein auch Bildungsminister. Kann man sagen, dass mehrere Generationen von Bildungspolitikern da irgendetwas Wichtiges übersehen haben?
Rau: Sie haben vielleicht übersehen, dass jedes einzelne Kind kostbar ist. Sie haben mehr auf Klassenstrukturen geachtet als auf Einzelförderung. Und sie haben nicht genügend berücksichtigt, dass die Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Schule grundlegend ist für alles, was in der Bildung geschieht. Wer die Eltern seiner Schüler nicht kennt, kennt seine Schüler nicht.
Die Atmosphäre zwischen den Beteiligten an Bildung und Erziehung ist nicht offen genug?
Rau: Sie ist überverwaltet. Ich plädiere deshalb für eine größere Autonomie der Schule. Ich bin auch nicht für das Zentralabitur. Besonders wichtig ist mir aber die Ermutigung der Lehrer. Die Lehrer sollen wissen: Die Gesellschaft trägt sie. Ich habe jetzt in einer meiner Lieblingssendungen dieser Ratesendung mit Günter Jauch einen Mann gesehen, pensioniert, 54 Jahre alt, Hauptschullehrer. Der wirkte kerngesund. Dass er aufgehört hat zu unterrichten, liegt wohl am so genannten Burn-out-Syndrom. Hauptschullehrer haben einen der schwersten Berufe, die es im Augenblick gibt. Weil sie häufig mit Kindern zu tun haben, die sich als zu kurz gekommen wahrnehmen. Und wir haben immer noch eine Lehrerbildung und Lehrerbesoldung, die sich nicht an den Schwierigkeiten und Herausforderungen orientiert, sondern vor allem am öffentlichen Dienstrecht.
Wenn wir uns die Schulen angucken und anschauen, welche Mittel wir für welche Schulart und Schulform aufwenden, so liegen wir, was die Gymnasien angeht über dem Schnitt im Pisa- Vergleich, was Grund- und Hauptschulen angeht, und noch schlimmer bei Kindergärten und Vorschulen, weit unter dem Durchschnitt. Was sich sicherlich auch in den Personalkosten niederschlägt und im öffentlichen Ansehen. Wie kommt es, dass jemand, der Kinder erzieht, in der Gesellschaft geringeres Ansehen genießt als jemand, der mit Technik umzugehen hat?
Rau: Ich bin da vorsichtig. Weil ich nicht möchte, dass wir diese Pyramide jetzt umkippen, nur noch akademische, promovierte Kindergärtnerinnen haben, die uns die Kindergärten entbasteln und verschulen. Das darf nicht passieren. Ich glaube, dass die Politik manchmal übersieht, dass der Mensch ein ganzheitliches Wesen ist und nicht nur intellektuell gefördert werden will. Wir müssen auch singen und spielen und tanzen und Sport treiben. Wir müssen das zusammenbringen. Die Pisa-Studie ist mir zu sehr auf Verwertbarkeit hin orientiert und zu wenig auf Bildung.
Die einen sagen: Man darf Kinder nicht zu früh fordern. Man muss sie möglichst lange spielen lassen. Und die anderen fordern: Leistung, Leistung, Leistung. Ist es so, dass in Deutschland Spaß, Spiel und Wettbewerb offenbar nicht zusammen mit Lernen funktionieren?
Rau: Spaß und Spiel gelten bei uns als leistungsfremd und leistungsfeindlich. Ich halte das für falsch. Eine deutsche Schule wird gegründet mit dem Grundriss von Schulgebäuden, eine englische Schule mit dem Rasen. Das ist ein Unterschied. Nun will ich nicht alle Schulen mit englischem Rasen versehen, aber ich wünsche mir mehr Möglichkeit zur Lebensfreude an der Schule. Auch beim Lernen.
Sie machen keinen Hehl aus Ihrem persönlichen Bezug zum Glauben. Welche Bedeutung haben Glauben und Religion heute und künftig für eine zunehmend säkulare Gesellschaft? Müssen die Kirchen lernen und akzeptieren, dass ihre öffentliche Bedeutung abnehmen wird, dass Religion, dass Glauben künftig in dieser Gesellschaft Privatsache sein werden?
Rau: Das hätten sie schon sehr früh lernen können. Das Wort "Fürchte dich nicht, du kleine Herde" ist ja nicht im 21. Jahrhundert gesprochen worden. Also dieses Mehrheitsgefühl, dieses Volkskirchengefühl ist in den Großstädten längst weg. Und trotzdem glaube ich: Die meisten Menschen spüren, dass es Bedürfnisse gibt, die über schlafen, arbeiten und Ferien machen hinausgehen. Das kann man wahrnehmen, das sollten auch die Kirchen wahrnehmen.
Sie haben einmal darauf hingewiesen, wie viel sich in Deutschland schon geändert hat zwischen den beiden großen Konfessionen. Ist das ein ermutigendes Beispiel für den Umgang der Religionen in Deutschland miteinander, der Christen und der Muslime oder Juden?
Rau: Die Annäherung der christlichen Konfessionen, der Katholiken und Protestanten ist erfreulich. Bei den Religionsgemeinschaften bin ich zögerlicher. Denn bis wir einen Muslim verstanden haben in seinem Glaubensleben oder einen Juden in seinem religiösen Verständnis, haben wir noch eine lange Wegstrecke vor uns. Aber ich bin da zuversichtlich.
Sie haben in der Wertediskussion des Öfteren darauf hingewiesen, dass der Staat Werte nicht bestimmen kann, dass er vielmehr auf Voraussetzungen beruht, die zu schaffen er selbst nicht in der Lage ist. Welche Beiträge zur Wertediskussion erwarten Sie denn von den Religions- und Glaubensgemeinschaften, von Christen, Muslimen und Juden in Deutschland? Sollen sie sich konkret äußern, wie zum Beispiel in der Debatte um die Bioethik?
Rau: Ja, aber es muss dabei deutlich werden, dass es sich jeweils um eine bestimmte Stimme handelt, die nicht absolut und für alle spricht.
Wertefindung ist also Diskurs?
Rau: Richtig, Wertefindung ist öffentlicher, gesellschaftlicher Diskurs.
Sie haben beschlossen, es bei einer Amtszeit zu lassen. Das Amt hat unter Ihnen und unter Ihren Vorgängern politisches Profil gewonnen. Wenn man einen Ausblick wagt: Wird es dieses Profil zum Beispiel auf dem Hintergrund des europäischen Integrationsprozesses behalten können?
Rau: Es wird politisches Profil behalten und zusätzliches gewinnen. Ich bin auch in dieser Hinsicht optimistisch. Wir haben mit den Bundespräsidenten in Deutschland ich bin der achte ausgesprochenes Glück gehabt, mindestens was die ersten sieben angeht. Ich hoffe das auch für die Zukunft und gebe das Amt deshalb gern in andere Hände. Man kann in diesem Amt nur sein, wenn man bereit ist, bei sich selber zu bleiben und sich nicht verbiegen zu lassen durch alle möglichen Anforderungen. Ich hoffe, der Nachfolger oder die Nachfolgerin tut das auch.
Eines der großen Themen, die sich quer durch Ihre Biographie ziehen, ist Ihr besonderes Verhältnis zu Israel. Welche Rolle können gerade die Deutschen auf dem Hintergrund ihrer Geschichte in einem Friedensprozess im Nahen Osten spielen?
Rau: Es gibt nur einen friedlichen Weg. Wir müssen die Kräfte unterstützen, die auf beiden Seiten dem Frieden nicht nur das Wort reden, sondern den Weg bereiten. Und wir müssen denen widersprechen, die das nicht tun.
Was macht Ihnen, wenn Sie Europa anschauen, derzeit am meisten Sorge?
Rau: Wir erkennen zu wenig, dass nationale Politik und nationale Ökonomie die großen Herausforderungen nicht mehr allein meistern können. Luft kennt keine Grenzen, Wasser kennt keine Grenzen, Kapital kennt keine Grenzen. Deshalb brauchen wir eine abgestimmte Europapolitik, damit Europa neben dem amerikanischen Kontinent und Asien eine selbstbewusste, mit europäischen Traditionen verbundene Politik betreiben kann. Das geht nur, wenn wir Konflikte zu lösen versuchen, bevor sie sich militärisch verselbständigen.
Ich frage das Oberhaupt der größten Einzelnation in diesem zusammenwachsenden Europa: Wo bleibt der Bezugspunkt für nationale Identität? Die DM war's über viele Jahrzehnte, die haben wir eingebracht in den Euro.
Rau: Das ist die gemeinsame Kultur. Es ist die Sprache, es ist die Musik, es ist die Literatur. Es ist das Heimatbewusstsein. Es ist das Selbstverständnis eines Staates, der sich bewusst in Regionen gliedert. Sachsen werden nie Holsteiner, Rheinländer werden nie Mecklenburger.
Das föderale Element als etwas typisch Deutsches...
Rau: Ja. Das föderale, aber nicht nur als staatliche Ordnung, sondern als Ausdruck kultureller Identität.
Dann kann man sich gleichzeitig aber auch als Rheinländer dem Flamen nahe fühlen und als Badener dem Elsässer.
Rau: Richtig. Selbst der Badener dem Balten. Wir leben ja auf einem Kontinent, der von Wanderung bestimmt ist. Das gilt zum Glück seit der Vereinigung auch in Deutschland: Sie sind in Sachsen nicht mehr nur unter Sachsen, es hat sich gemischt. Ich halte das für eine sehr gute Entwicklung. Die Zeit ist vorbei, in der man in Nordrhein-Westfalen wegen allzu sächsischen Akzentes nicht Minister werden konnte. Sie merken das, wenn Sie einen überregionalen Rundfunksender hören, wie ich das tue. Sie hören auf einmal eine Vielfalt der Dialekte, die ich als bereichernd empfinde.
Die Deutschen haben sich daran gewöhnt, dass östlich von ihnen zwar auch noch Europa ist, aber nicht mehr EU-Europa. Wird sich das Europabewusstsein der Deutschen durch die EU-Osterweiterung verändern?
Rau: Sicher, aber ganz langsam. Aber es gibt Anzeichen, wenn Sie etwa bedenken, dass ein Heidelberger Theologensohn der in Polen bekannteste Kabarettist geworden ist, der in Fernsehrollen auftritt und den ganz Polen kennt. Wenn Sie andererseits wissen, dass im Ruhrgebiet noch an hundert Stellen jede Woche die Messe in Polnisch gelesen wird. Mein Amtsvorgänger in Düsseldorf, Heinz Kühn, sagte immer: Wenn Schalke gegen Kattowitz spielt, brauchen sie kein Hotel, die können alle bei Verwandten wohnen. Das stimmte auch. Wir entdecken solche alten Verbindungen jetzt gerade wieder neu.
Das wäre dann eine Rückkehr zur europäischen Normalität vor der Naziherrschaft, dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg?
Rau: So kann man das sehen. Ich wünsche es mir und ich glaube daran.