Fast jeder Mensch hat Schmerzen: 80 Prozent aller Deutschen leiden zumindest zeitweilig darunter, am häufigsten im Kopf oder am Rücken. Erstaunlich, dass es dennoch so viele Irrtümer und Mythen über Schmerzen gibt. Dr. Paul Nilges hat über 30 Jahre den Arbeitsbereich Psychologie im interdisziplinären Schmerzzentrum des Deutschen Roten Kreuzes in Mainz geleitet. Er ist vielen Mythen begegnet – hier stellt er einiges klar.
Paul Nilges
Mythos 1: Wenn man nichts findet, wird es wohl psychisch sein
Paul Nilges: Nein. In unseren Köpfen ist immer noch ein Modell, das letztlich auf Descartes zurückgeht, der zwischen dem Körper und der Seele klar unterschied: Der Körper ist eine Art Maschine, die über die Zirbeldrüse mit der Seele verbunden ist. Schmerz ist dann die Meldung an die Seele: "Es stimmt was nicht mit uns beiden." Das war für seine Zeit ein Fortschritt, weil er Schmerz damit als "weltliches" Problem definiert hat und dadurch den Weg für die wissenschaftliche Erforschung eröffnet hat. Dieser Dualismus ist aber inzwischen überholt!
Wir wissen heute: Psychische, soziale und körperliche Dinge sind nur als Begriffe getrennt, greifen aber unmittelbar ineinander.
"Das ist psychisch" ist oft das, was wir eine "Abfalldiagnose" nennen, eine Restkategorie: Man hat einfach keine andere Idee. Es gab mal die sieben heiligen Kühe der Psychosomatik: Von Polyarthritis über Morbus Crohn bis zum Magengeschwür. Alle diese "klassischen psychosomatischen Krankheiten" haben sich letztlich als ursächlich körperliche Erkrankungen entpuppt, die natürlich auch durch psychische Faktoren beeinflusst werden. In Wahrheit ist es halt oft komplizierter. Die Arbeit ist belastend, die Partnerschaft – diese sozialen Ursachen sind komplex.
Und klar, die sozialen Umstände schlagen auch auf die Psyche. Aber einfach zu sagen: "psycho" – das ist stigmatisierend. Außerdem wird dadurch dieser wichtige Faktor in der Schmerztherapie "degradiert", sozusagen zur zweiten Wahl, wenn die "richtige" Medizin nicht hilft. Gerade bei chronischen Schmerzen werden psychologische Faktoren im Verlauf zunehmend wichtiger und können wirksam behandelt werden.
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Mythos 2: Mit dem Alter kommt der Verschleiß
Jein. Ich mag den Begriff "altersgemäßen Verschleiß" nicht. Die Leute hören nur "Verschleiß" und überhören das "altersgemäß". Wir können mit Sprache viel verändern. Wenn ein Arzt dem Patienten statt "Das ist Verschleiß" sagt: "Sie haben eine knöcherne Veränderung aufgrund von Gebrauch" – dann ist das genauso richtig und bereits eine Deeskalation! Es klingt, wie es ist, normal, und nicht krank! Verschleiß, Knochenschmerzen – das sind viel zu dramatische Begriffe, das führt nur zum Katastrophisieren! Außerdem wird bei Verschleiß automatisch an Schmerz gedacht. Auch das ist falsch. "Degenerative Veränderungen" der Wirbelsäule sind für den Orthopäden Gordon Waddell so normal wie graue Haare – die ja in der Regel auch keine Kopfschmerzen machen.
Mythos 3: Das ist jetzt die Strafe!
Nein. Das englische Wort "pain" kommt von lateinisch poena, die Strafe. Im katholischen Rheinland sagt man "Ping", im Westerwald "Pien" zum Schmerz. Ist es nicht verrückt, wie viele Leute, die längst nicht mehr religiös gebunden sind, an so was wie göttliche Strafe glauben? Ich stamme aus dem katholischen Westerwald, bei uns war immer klar: Wenn dir was wehtut, hast du was verbrochen. Das ist wissenschaftlich betrachtet völliger Unfug.
Dazu kommt: Wir alle haben den Wunsch nach Ordnung in einer komplexen Wirklichkeit. Es erleichtert, zu sagen: Gestern habe ich gesündigt, vielleicht zu viel getrunken, heute tut mein Kopf weh. Ich hatte eine Patientin, die war sehr diszipliniert und war sich ganz sicher, dass sie nach Zigaretten und Rotwein Migräne bekommt, wenn sie über die Stränge geschlagen hat, sich "was gönnt". Dann kam sie eines Tages, sie hatte sich von ihrem Freund getrennt und die ganze Nacht durch geraucht und Wein getrunken. Keine Migräne. Da war offenbar nicht die Sünde Alkohol das Problem. Sondern der Freund!
Mythos 4: Chronischer Schmerz nimmt im Alter zu
Nein. Alter an sich ist keine Ursache für Schmerz! Tatsächlich nehmen die "wichtigsten" chronischen Schmerzen - Kopf-, Rücken- und Gesichtsschmerzen - im Alter ab. Es gibt eine Studie, die ergab, dass die über 80-Jährigen im Schnitt weniger Rückenschmerzen haben als 50-Jährige.
Es gibt zwar Schmerzarten, die häufiger vorkommen im Alter: Schmerzen in Gelenken wie Hüfte, Füßen, Schultern und Knien nehmen zu. Aber auch hier sind die Zusammenhänge mit "Verschleiß" unklar: Osteoporose und sogar Frakturen der Wirbelsäule sind erstaunlich häufig und nicht automatisch schmerzhaft.
Mythos 5: Medikamente helfen immer gegen Schmerzen – und besonders starke helfen besonders gut
Nein. Die Pharmaindustrie würde ja gern Opioide freigeben. Wir sehen in den USA, wo das hinführen kann, Millionen Menschen sind von Opioiden abhängig, besonders oft von Oxycontin. Das ist in Deutschland nur unter strengen Auflagen erhältlich, zum Beispiel nach einer Operation. Aber nur die Hälfte aller Patienten reagiert überhaupt auf diese Medikamentengruppe. Nach einem Jahr haben auch von dieser Gruppe nur noch 30 Prozent einen Effekt. Dafür steigt das Risiko, abhängig zu werden, dramatisch.
Wir haben in unserer Klinik viele Patienten von Opioiden entzogen, vor allem Rückenschmerzpatienten. Sie hatten nach dem Entzug oft gar keine Schmerzen mehr. Das heißt: Bei vielen wurde der Schmerz überhaupt erst durch die starken Medikamente aufrechterhalten, sprich: chronisch. Das heißt dann "opioidinduzierte Hyperalgesie"! Ganz aktuell ist Tramadol, eines der Standardmedikamente in der Schmerztherapie, unter Verdacht, schnell und stark abhängig zu machen.
Mythos 6: Wer Kopfschmerzen hat, will sich nur vor der Arbeit drücken
Nein. Ich bin keinem Simulanten begegnet, und ich habe über 30 Jahre lang mit sehr vielen Patientinnen und Patienten gearbeitet. Was man aber zur Arbeitsfähigkeit sagen kann: Mit Schmerzen ist man schneller erschöpft und vielleicht eine weniger belastbare Arbeitskraft. Darüber sollte man mit dem Arbeitgeber, den Kolleginnen, der Ärztin, der Schwerbehindertenbeauftragten offen sprechen. Meine Patientinnen und Patienten, vor allem, wenn sie unter wenig vorhersehbaren anfallartigen Kopfschmerzen litten, hatten eher "zu viel" schlechtes Gewissen und Schuldgefühl, wenn sie kurzfristig am Arbeitsplatz ausfielen oder Verabredungen absagen mussten. Selbstwertzweifel waren auch typische Themen in der Psychotherapie bei Schmerz: "Ich bin nicht so gut wie die anderen, nicht so leistungsfähig."
Mythos 7: Chronische Schmerzen gehen nie wieder weg
Nein. Die meisten Schmerzen gehen von selbst wieder weg. Ich laufe seit vielen Jahren, früher Marathon, heute Halbmarathon. Immer mal wieder hatte ich unterschiedliche Schmerzen, durchaus auch über zwei Jahre. Die gingen alle irgendwann wieder weg. Es gibt Studien über Gesichtsschmerzen – auch die gehen nach sechs bis sieben Jahren überwiegend von selbst wieder weg. Wenn Sie im Internet "Gesichtsschmerz" googeln, sind Sie schnell beim Begriff "Trigeminusneuralgie". Das ist eine sehr starke, sehr spezielle Schmerzform, die gleichzeitig eher sehr selten ist. In aller Regel sind es Verspannungen der Kaumuskulatur, da kann man viel machen mit Selbstbeobachtung, Muskeltraining, Entspannungsverfahren und (zumindest zeitweise sinnvoll) einer Aufbissschiene. Und dann gehen sie eben doch wieder weg.
Mythos 8: Wenn ich eine Verletzung habe, wird der Schmerz ans Hirn geschickt
Nein. Wir alle denken so, übrigens auch ganz viele Ärztinnen und Ärzte. Ganz falsch! Es gibt keine Schmerzrezeptoren. Es sind Nozizeptoren, die in der Peripherie und im Körperinneren auf mögliche schädliche Einflüsse reagieren. Sie schicken keinen Schmerz. Sie schicken elektrische Signale an das Rückenmark und in Richtung Gehirn, sonst nichts. Augen schicken ja auch keine Bilder und Ohren keine Musik. Erst durch die Verarbeitung im Gehirn werden diese Signale sozusagen "decodiert" und mit Sinn versehen. Das geschieht rasend schnell und dabei spielen unsere bisherigen Erfahrungen eine entscheidende Rolle.
Nozizeptoren werden aktiv zum Beispiel bei Hitze oder bei Druck. Sie geben also ihre Meldung ab, und im Normalfall reagiert der Organismus, bevor es zu Schmerz kommt. Wenn wir zum Beispiel nachts zu lange auf einer Stelle liegen, gibt’s den Anstoß: "bewegen"! Das passiert im Schlaf, ohne bewusstes Zutun. Auch im Alltag gibt es ständig Situationen, in denen wir unbemerkt unsere Körperhaltung korrigieren, uns bewegen. Schmerz entsteht dann, wenn die automatischen Prozesse nicht ausreichen und unser Gehirn entscheidet, dass wir jetzt bewusst auf diese reagieren müssen, um einer drohenden Gefahr begegnen zu können.
Je nachdem, womit das Hirn gerade beschäftigt ist, sagt es: O. k., ich gebe jetzt mal Bescheid, Schmerz betritt die Bühne und wird zum "Hauptdarsteller". Oder das Hirn entscheidet, salopp gesagt, dass Schmerzen in diesem Moment gerade uninteressant sind. Wie es entscheidet, hängt von vielem ab: Vorgeschichte, Lernerfahrung, Mindset. Tatsächlich ist Schmerz nicht "ab Werk eingebaut", sondern wird im Laufe des Lebens durch Erfahrung gelernt.
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Mythos 9: Ab in die Röhre – dann sieht man schon, warum es wehtut
Nein. Die Fortschritte in der Bildgebung sind riesig, Röntgen, CT und MRT sind enorm wichtig für die Diagnostik ernsthafter Erkrankungen und schwerwiegender Veränderung der Wirbelsäule. Sie liefern zwar fantastische Einblicke, ihre Bedeutung für die Ursachenklärung "normaler" Rückenschmerzen wird aber grotesk überschätzt.
Für eine Studie in Mecklenburg-Vorpommern hat man 3000 Patienten in ein Ganzkörper-MRT geschoben. Der Traum aller Patienten! Ergebnis: Es gibt gar keinen bedeutsamen Zusammenhang zwischen Wirbelsäulen-"Schäden" und Schmerz. Auch bei einer Nachbefragung nach sechs Jahren hat sich daran nichts verändert, weiterhin bestand bei den Befragten kein Zusammenhang zwischen dem Befund der Wirbelsäule vor sechs Jahren und aktuellen Schmerzen.
Bei einer anderen Studie wurden die Röntgenaufnahmen von über 10.000 schmerzfreien jungen Männern zwischen 18 und 21 ausgewertet, die sich zur Musterung für die Bundeswehr gemeldet hatten. Fast alle hatten auch sichtbare Schäden. Nur 2,6 Prozent dieser jungen Menschen waren auf dem Röntgenbild ohne Befund.
Mythos 10: Wenn nichts mehr hilft, muss halt operiert werden
Nein. Nur für wenige Menschen mit chronischen Rückenschmerzen ist eine Operation hilfreich, auch dann, wenn man an der Wirbelsäule "was sieht". Entscheidend ist nicht das CT, MRT oder Röntgenbild, sondern der klinische Befund, also die Untersuchung. Beides muss passen. Es heißt ja aus gutem Grund: "Wir operieren keine Bilder, sondern Patienten."
Man weiß aus vielen Studien, dass es bei Operationen einen gehörigen Placeboeffekt gibt. Viele Operationen, die früher alltäglich waren, haben sich mittlerweile als überschätzt oder als nicht sinnvoll herausgestellt. Wirbelsäulenoperationen haben zwischen 2007 und 2015 um 70 Prozent zugenommen. Dafür gibt es keine medizinische Erklärung, nur eine wirtschaftliche. Bei Knie und Schultern hieß es oft: "Wir schauen da mal rein." Arthroskopisch wurden "Gelenke geglättet" und beim schmerzhaften "Impingement-Syndrom" der Schulter "Engpässe erweitert".
Es klingt zwar etwas gruselig, aber es gibt inzwischen einige Studien, in denen "echte" mit Scheinoperationen verglichen wurden. Da wurde bei Knie- und Schulterpatienten eine Operation vorgetäuscht: Der schmerzende Bereich wurde betäubt und ein Hautschnitt durchgeführt. Bei der Scheinoperation wurden dann lediglich typische Geräusche einer Operation vom Band abgespielt. Der Erfolg, also die Schmerzlinderung, war genauso hoch wie bei einer echten Operation, auch bei Nachuntersuchungen ein Jahr später.
Für Wirbelsäulenoperationen ist inzwischen die "Zweitmeinung" eine Regelleistung der gesetzlichen Krankenkasse geworden. Neutrale Expertinnen und Experten beraten: Muss wirklich operiert werden? In der Mehrzahl der Fälle raten sie ab!
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Viele reden mittlerweile offen über ihre seelischen und körperlichen Erkrankungen. Das ist gut. Schön wäre, wenn wir vor lauter Achtsamkeit für uns auch den Nächsten nicht vergessen