chrismon: Herr Bollmann, was ist für Sie ein göttlicher Moment?
Jörg Bollmann: Ein außergewöhnlicher, für den ich keine Worte finde. Es gibt ja das Modewort "unfassbar". Ein Tor aus 20 Metern, da fällt in Sportreportagen schnell "unfassbar"! Das finde ich inflationär. Göttlich – dazu gehört mehr. Für mich war so ein Moment, als Yemisi Ogunleye bei Olympia die Goldmedaille im Kugelstoßen gewonnen hat.
Was war daran göttlich?
Die Umstände. Eine Sportlerin, die noch nicht auf höchster Ebene gewonnen hatte. Olympia, 70 000 Zuschauer, Flutlicht. Beim letzten Versuch muss sie alles riskieren – und was macht sie? Guckt nach oben und lächelt! Und stößt die 20 Meter . . .
Unfassbar! Und das Göttliche?
Was danach geschah. Wir kennen die atemlosen Interviews von Sportlern nach einem Sieg. Ogunleye aber spricht von der Liebe Gottes. Und singt! Für mich ist das beispielhaft. Auch wenn Fußballer sich nach einem Tor bekreuzigen, berührt mich das. Und ich meine nicht die direkte Ableitung – ich bete jetzt, und dann schieß ich das Tor. Sondern: Ja, ich habe den Ball richtig getroffen, aber ich kann es nicht aus eigener Kraft. Mich fasziniert diese Demut.
Fehlt uns in der Gesellschaft diese Demut?
Ja! Gerade jetzt im Wahlkampf – da gibt es wenig Demut. Ich hätte Respekt vor Politikern, die sagen: Ich kämpfe für den Sieg. Aber ich bin nicht derjenige, der alles alleine schaffen kann. Ich glaube, das würde der Demokratie nutzen.
Wie meinen Sie das?
Nicht im Sinne von Bekehrung, das ist mir zu platt. Ogunleye hat ja deutlich gesagt: Gott ist kein Kaugummiautomat, ich werfe nicht oben mein Gebet rein und unten kommt die Medaille raus. Sie sagt, dass sie in einer liebenden Gemeinschaft aufgehoben ist, auch zu ihrer Trainerin. Und dass diese Resonanz sie zu bestimmten Dingen befähigt. Das weitet unsere Perspektive.
Was meinen Sie mit Resonanz?
Ich lehne mich an die Definition des Soziologen Hartmut Rosa an. Er sagt, Demokratie braucht Religion. Demokratie braucht die Möglichkeit, zu sprechen – aber auch zu hören. Wenn Teile der Gesellschaft nur noch in ihren Filterblasen sitzen bleiben, fehlt die Verständigung untereinander und schlimmstenfalls entsteht Gewalt.
Aber zuhören kann auch die Therapeutin . . .
Klar. Ich sage ja auch nicht, dass nur Religion unsere Ohren und Herzen öffnet. Aber wir brauchen alle Institutionen, Medien, Menschen, die sich dafür einsetzen. Es ist ja sehr, sehr schwer, sich mit Andersdenkenden in einen Raum zu setzen . . .
. . . das macht auch das Fernsehen, aktuell der Hessische Rundfunk . . .
. . . ja und das ist gut so. Wir brauchen sie alle: den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die Qualitätspresse, die sozialen Medien mit vernünftigem Zugang. Und auch die Kirche und die christliche Publizistik. Das Einüben von liebevollem Umgang – das kann Religion. Dass wir Begriffe wie Liebe und Vergebung nicht nur hören, sondern auch fühlen können – dafür benötigen wir Erfolgsgeschichten. Und dafür braucht es Bühnen! Olympia ist alle vier Jahre so eine Bühne. Auch die christliche Publizistik bietet Bühnen.
Der Journalist Arnd Henze sagt: Hermetische protestantische Milieus haben entscheidend dazu beigetragen, dass Trump die Wahl gewann.
Wenn wir Andersdenkenden zuhören, müssen wir auch demokratische Mehrheiten Andersgesinnter ertragen, mit liebendem Herzen. Sehr schwer, aber das gehört dazu. Und wäre Trump denn wirklich nicht gewählt worden ohne dieses protestantische Milieu? Dafür kann ich den empirischen Nachweis nicht erkennen.
Wie ist das in Deutschland?
Auch hier gibt es ganz und gar verengte Milieus, religiöse ebenso wie säkulare. Ingroups, die eng im Herzen sind, manche gar voller Hass. Ich sage nicht: Wenn wir alle Christen sind, dann haben wir das Paradies auf Erden. Sondern: Demokratische Gesellschaften benötigen Diskursfähigkeit auf der Grundlage von Nächstenliebe, weltlich gesprochen Zugewandtheit, sowie der Bereitschaft zur Akzeptanz und Versöhnung. Wenn wir die nicht haben in dieser Gesellschaft, wird die für Demokratien unerlässliche Diskussion um den richtigen Weg schwierig. Ich gebe zu: Es ist sehr schwer, allen Menschen zugewandt zuzuhören, vielleicht sogar ihre Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren. Aber das muss können, wer sich in aller Konsequenz für die Demokratie einsetzt.
Von Jörg Bollmann erschien soeben "20 Meter für die Ewigkeit. Warum wir himmlische Geschichten brauchen" (edition chrismon 184 Seiten, 14 Euro)