Portrait Franz Kafka
Franz Kafka (1883 bis 1924) entstammte einer jüdischen Familie und wuchs in Prag auf. Er gilt als der wichtigste Autor deutscher Sprache des 20. Jahrhunderts
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Kafka und die Religion
Kafka und kein Ende
Das Jahr 2024 ist Kafka-Jahr. Der meistgelesene Autor deutscher Sprache starb vor einhundert Jahren. Seine Texte sind geheimnisvoll. Warum er heute noch so aktuell ist
Tim Wegner
Aktualisiert am 03.06.2024
6Min

Weggesperrt vom System der Macht: für wahre Worte. Der russische Menschenrechtler Oleg Orlow wurde im Februar 2024 zu zweieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt. Er hatte sich kurz nach Beginn des Angriffs Russlands auf die Ukraine kritisch geäußert. Der ­Prozess wurde ihm wegen "Verunglimpfung der ­Armee" gemacht. Vor Gericht hatte Orlow ein dickes Buch dabei, in dem er demonstrativ las. Es war eine russische Ausgabe von Franz ­Kafkas "Der Prozess".

"Jemand musste Josef K. verleumdet ­haben, denn, ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet." So beginnt der berühmteste Roman Kafkas. ­ Bis zum Ende des Fragment gebliebenen Textes weiß K. nicht, was ihm vorgeworfen wird. Aber schon bald ist klar, dass das Gericht ihn am Ende verurteilen wird, egal was er tut – Schuld hin oder her. Kafkas Roman ist undurchsichtig, geheimnisvoll und zuweilen komisch. Er ist das Original dessen, was heute kafkaesk heißt: bedrückend, undurchsichtig und bedrohlich.

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Kafka starb am 3. Juni 1924 und war damals nur einem kleinen Kreis von Kennern bekannt. Zum weltweit wohl am meisten gelesenen Autor deutscher Sprache wurde er erst nach seinem Tod. Er hat drei Romanfragmente geschrieben und viele Erzählungen, seine Tagebuchaufzeichnungen sind bekannt, aber insgesamt passt sein literarisches Werk in ein sehr dickes Buch. Das liegt auch daran, dass er erst 40 Jahre alt war, als er an Tuberkulose starb. Sein Werk ist vom Umfang her eher klein, aber seine Wirkung ist bis heute gigantisch.

Dass Oleg Orlow während seines eigenen Prozesses in Kafkas "Prozess" las, zeigt, wie zeitlos der Prager Schriftsteller die ­Mechanismen von Macht und Ohnmacht ­beschrieben hat. Der Literaturnobelpreisträger ­Elias ­Canetti hat einmal geschrieben: "Franz ­Kafka ist der Dichter, der unser Jahrhundert am reinsten ausdrückt." Damit meinte er das 20. Jahrhundert, das Jahrhundert der zwei Weltkriege und des Totalitarismus. Doch Orlow hat 2024 zu Kafka gegriffen: Wir sind heute nicht weiter.

Kafka selbst wurde noch ins österreich-ungarische Kaiserreich hinein­geboren, und es waren zuerst die Strukturen der habsburgischen Bürokratie, die ihm vor Augen standen, als er die Geschichte des Bankangestellten K. aufschrieb. Doch das Dunkle, Undurchsichtige und Übermächtige eines solchen Systems, in dem ein einfacher Mensch nichts machen kann, als sich vergeblich zu wehren, sind bis heute identifikationsstiftend für Menschen in totalitären Staaten. Als Liu Xia, die Ehefrau des chinesischen Schriftstellers und ­Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, im Jahr 2012 von Reportern in ihrer als Gefängnis dienenden Wohnung ­besucht wurde, sagte sie, sie lebe an einem absurden Ort und: "Ich glaube, auch Kafka hätte nichts Absurderes und Unfassbareres schreiben können."

Die Systeme, die die chinesischen und russischen Aktivsten unterdrücken und verhaften, sind rein menschlicher Natur. Und auch in Kafkas Roman wird das Gericht, das K. angeklagt hat und letztlich verurteilt, als menschliche Instanz beschrieben. Doch sind seine Werke vielfach wie Gleichnisse gelesen worden. Gerade diese Stimmung des undurchsichtigen, bedrohlichen, die eigene Schuld nachweisen wollenden Gerichts wurde schon früh mit Gott in Verbindung gebracht. Es war sein bester Freund Max Brod, der Kafkas Werke vor dem Hintergrund seiner jüdischen Herkunft interpretierte. Und diese Inter­pretation hielt sich lange – schon allein deswegen, weil sie von Brod kam. Er hatte das Werk seines Freundes gleich mehrfach ­gerettet und zur Veröffentlichung gebracht, war also der erste Interpret und Nachlassverwalter des Autors.

Eigenhändige Skizzen aus Kafkas Mitschriften aus Vorlesungen, um 1905

Für Brod war Kafka "ein Erneuerer der altjüdischen Religiosität". Die Helden Kafkas stehen in dieser Lesart für die Juden selbst, die mit Gottes undurchsichtiger Gerechtigkeit konfrontiert sind. Ihre Aufgabe ist es, zu versuchen, Gott gerecht zu werden, das Gute zu tun. Sie werden es nicht schaffen, zumindest schaffen es die Helden bei Kafka nie, aber dennoch: Aufgeben dürfen sie auch nicht.

Der Held aus Kafkas Romanfragment "Der Verschollene" (auch bekannt als "Amerika"), Karl Roßmann, ist ein junger Mann, fast noch ein Kind. Er erreicht New York mit einem Schiff. Ganz auf sich allein gestellt, versucht er dort, seinen Weg zu gehen. Auf einen glücklichen Zufall – er trifft seinen Onkel, der ein reicher Mann ist, folgt ein unglücklicher – der Onkel verstößt ihn wegen einer Kleinigkeit. Den kleinen Erfolgen – er bekommt eine Anstellung, folgt die große Niederlage – er wird unehrenhaft entlassen, beinahe verhaftet. Aber niemals scheint Karl ganz verzweifelt zu sein. Immer wieder sieht er neue Perspek­tiven, nimmt einen neuen Anlauf, aus diesem bedrohlichen Schicksal, etwas Gutes für sich zu machen. Die Welt hat nichts für ihn übrig, sie ist ein undurchsichtiges System, wie die riesige Firma des Onkels oder das "Hotel Occidental", in dem er für kurze Zeit Arbeit findet. Immer will er es gut machen, immer scheitert er an einer geradezu naiven Gutgläubigkeit, dass dieses Leben ­einen Sinn haben muss.

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Josef K., der Angeklagte und die Hauptperson in Kafkas "Prozess", erfährt bis zum Schluss nicht, worum es in diesem Prozess eigentlich geht. K. beteuert seine Unschuld. Am Ende muss er sterben. Ist der Roman eine ­Allegorie auf das Leben? Ist K. des Lebens selbst schuldig? Dem Leser wird klar: Die Gerichte und diejenigen, die dort ­arbeiten, sind die eigentlich Schuldigen. Sie sorgen für die Be­drohung, sie könnten den Prozess beenden, doch sie tun es nicht – ­warum? Das weiß niemand.

Dem Landvermesser K., der ­Hauptperson in Kafkas drittem Romanfragment "Das Schloss", ergeht es nicht besser. Er sucht ­Unterschlupf in einem Wirtshaus. Des Nachts wird er geweckt. Das Wirtshaus gehört, wie das Dorf, in dem es steht, zu einem Schloss. Nur wer die Erlaubnis von dort hat, darf hier übernachten. K. erhält die Erlaubnis, wird plötzlich aufgenommen in die Belegschaft des Schlosses, aber das Schloss selbst erreicht er nie.

Kafkas Geschichten sind einfach geschrieben. Die Sprache ist klar und gut verständlich. Und trotzdem bleiben sie ein Rätsel, eher noch ein Geheimnis, denn das kann anders als das Rätsel nicht gelöst, höchstens gelüftet werden.
Der jüdische Religionswissenschaftler Gershom Scholem empfahl seinem Brieffreund Walter Benjamin, Kafka ganz von der biblischen Figur des Hiob her zu ­lesen. Und wer in diesen biblischen Traditionen denkt, wird ­diese Empfehlung leicht ver­stehen: Wie Hiob unerklärlicherweise und ­ohne erkennbare Schuld, nur aus einer Laune Gottes heraus, all diese Leiden erfährt, so geht es auch den ­Figuren in Kafkas Werk – das ist hier die Idee. Es ist das vielfach aufgeladene Motiv der rätselhaften Schuld, das hier die Brücke schlägt zwischen Roman und Religion.

Doch vielleicht sind die Gemeinsamkeiten gar nicht an einzelnen Motiven und Strukturen auszumachen, sondern einfach am Gegenstand selbst: Kafka ist ein Mensch, der schreibt, um zu leben. Sein literarischer Gegenstand ist er selbst und das, was er sieht, wenn er durch die Welt geht. Warum stirbt ­jener früh an einer tödlichen Krankheit, ­dieser aber nicht? Warum begeht ein Mensch Sui­zid? Diese Fragen kann man sich ­stellen, aber eine Antwort wird niemand erhalten – sollen wir daran verzweifeln? In vielen ­bi­blischen Überlieferungen und religiösen Traditionen geht es auch um dieses staunende Sinn­suchen, zwar mit Hoffnung, aber ohne Erfolg – wie bei Kafka.

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Der deutsch-österreichische Schrift­steller Daniel Kehlmann wurde im ZDF gefragt, was man von Kafka ­lernen kann: Er sagte, dass man immer scheitern wird. Während er diese bittere Wahrheit aussprach, lachte Kehlmann. Es ist genau dieser Blick auf die Welt, den Kafka bereithält: radikale Erkenntnis der Sinnlosigkeit und gleichzeitig ein lachendes, wenn auch verzweifeltes Wehren dagegen.

Oleg Orlow, der tapfere Mann mit dem ­Kafka-Buch in der Hand, ist seit Februar in Haft. Seine Frau und seine Unterstützer ­können nur hoffen, ihn lebend wiederzu­sehen. Wer sich Bilder von der Verurteilung ansieht, kann Orlow und die Zuschauer ­sehen, Diplomaten aus dem Westen, Presse und ­mutige Unterstützer. Das System, das ihn hinter Gitter bringt, bleibt gesichtslos. Die Gerichtsdiener sind vermummt, die Richterin darf nicht gefilmt werden: wahrlich kafkaesk.

Kafka-Jahr

Franz Kafka (1883 bis 1924) entstammte einer jüdischen Familie und wuchs in Prag auf. Er gilt als der wichtigste Autor deutscher Sprache des 20. Jahrhunderts

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Dazu  kafkaeste Fragen. Wo bleibt der Glaube, bleiben alle Religionen und Götter der Welt, wenn es vor der ersten Eins nichts gegeben haben soll? Man aber an jede Eins mit unzähligen Nullen immer noch eine Eins dranhängen kann? Was war vor der NULL? Wenn es kein materialistisches Ende gibt, stirbt dann mit dem Leben Gott oder ist er auch noch für die letzte überlebende Amöbe da? Wer hat, und in wessen Auftrag, die erste Eins gesetzt? Oder kann es weder einen Anfang noch ein Ende geben, weil das NICHTS undenkbar ist?

Antwort auf von Ockenga (nicht registriert)

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Ist es des Rätsels Lösung, dass es, wie in einem Kreis weder Anfang und Ende, wohl aber einen Mittelpunkt gibt, um den sich alles und Alle drehen? Wäre sehr abstrakt dann Gott der Glaube um den sich alles dreht? Diese Unbegreiflichkeit lehrt uns die Demut, als eines der höchsten Werte der Menschlichkeit.