Laienforscher
Das Wissen der vielen
Sie untersuchen Wasserproben, zählen Schmetterlinge, beobachten den Nachtimmel: Warum Laienforschende so wichtig sind für Wissenschaft und Gesellschaft
Gewässermonitoring
Diese vier machen mit bei einem Gewässer­monitoring – und ­helfen, Rückschlüsse auf die Pestizid­belastung zu ziehen
Jörg Farys
Thomas Di Paolo
24.05.2024
11Min

Sollten Sie nach Lektüre dieses Textes ­eine Unterhose in Ihrem Garten ­vergraben ­wollen, dann verwenden Sie unbedingt eine aus Biobaumwolle. Denn nur so hat das ­Experiment Aussagekraft, das tausend Schweizer Hobbygärtnerinnen und Landwirte im Dienste der Wissenschaft anstellten: Unter Anleitung von Forschern der Uni Zürich und des Agroscope-Instituts (das zum Schweizerischen Bundesamt für Landwirtschaft gehört) vergruben sie je zwei Bio­baumwollschlüpfer in der Erde und buddelten sie nach ein paar Wochen wieder aus; mit der mehr oder ­weniger zerfressenen Unterwäsche schickten sie auch Bodenproben an die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die daraus mehrere Erkenntnisse destillierten.

Thomas Di Paolo

Stefan Scheytt

Stefan Scheytt ist auf das Thema aufmerksam ­geworden durch Menschen, die ihre Vierbeiner zu Artenspürhunden ausbildeten. Sein eigener Hund ist dafür allerdings zu alt.

Die Veröffentlichung steht noch aus, so viel lässt sich aber schon sagen: Je zerfressener die Bioschlüpfer, desto ­aktiver die Bodenlebewesen, desto gesünder der Boden; in ­privaten Gärten war der Humusanteil deutlich höher als auf landwirtschaftlichen Flächen; und: Biobaumwoll­wäsche ist als Indikator für die Lebendigkeit des Bodens so valide wie die wissenschaftlich etablierten Teebeutel, aber "einfacher und visuell ansprechender", wie Franz Bender erklärt, Boden­ökologe bei Agroscope. ­Bahnbrechend seien die Ergebnisse zwar nicht, aber nie und nimmer hätte die Forschung ohne externe Hilfe so viele Daten sammeln können. Nicht zu reden vom medialen Echo: "Wir ­konnten weltweit viel Aufmerksamkeit dafür erzeugen, wie ­lebenswichtig und bedroht die Böden sind. Viele ­Menschen ­lernen auf diese Weise dazu."

Lesen Sie hier: Warum glauben Menschen nur, was ihrem Weltbild entspricht?

"Beweisstück Unterhose" ist nur eines von unzähligen Beispielen weltweit und vor allem im deutschsprachigen Raum, bei denen professionelle und Laienforscherinnen und -forscher zusammenarbeiten. Besonders stark im Kommen sind die Bürgerwissenschaften – oder Citizen Science – in Deutschland. Hierzulande haben sie es nicht nur in den Koalitionsvertrag geschafft, es gibt sogar eine eigene Citizen-­Science-Strategie 2030, ausgearbeitet von Wissenschaftlern unter anderem der Helmholtz- und der Leibniz-Gemeinschaft, der Fraunhofer-Gesellschaft, von Universitäten, Museen und Forschungszentren.

Sie alle versprechen sich frische Impulse für die etablierte Forschung, neue "Brücken zwischen Gesellschaft, ­Politik und Wissenschaft", Beiträge zur Innovationskultur in ­einer Wissensgesellschaft, gar eine Demokratisierung der Wissenschaft. Die Professorin für Wissenschafts- und ­Innovationsforschung an der Uni Hamburg Sabine ­Maasen spricht von einer "third ­mission" für die Hochschulen: Zu Forschung und Lehre trete heute die ­Aufgabe hinzu, wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden in die Gesellschaft zu tragen, unter anderem durch ­"co-kreative" Forschung mit Bürgerinnen und Bürger. Für die wirbt auch Johannes Vogel, Generaldirektor des ­Museums für Naturkunde Berlin: "Wir Menschen sind alle als Wissenschaftler geboren – weil wir neugierig sind, weil wir beobachten. Wissenschaft ist nichts für Männer in weißen Kitteln. Wissenschaft ist etwas, an dem alle teilhaben können und sollen."

Ganz schön zerfressen, dieser Baumwollschlüpfer. Ein gutes Zeichen für die Bodengesundheit. Marcel van der Heijden (links) und Alain Valzano-Held vom Schweizer Agroscope-Institut hatten tausend Helferinnen und Helfer

Dabei sind die Beteiligungsformen sehr unterschiedlich, sie reichen vom jahrelangen Engagement bis zum ­sporadischen Mitmachen, erfordern mal Fachkenntnisse, mal nur ein wenig Neugier und Aufmerksamkeit, sie verbinden Profis und Laien mal sehr persönlich, mal ­quasi ­anonym durch zwei E-Mail-Adressen. Einen riesigen Schub hat der Citizen Science das Smartphone verschafft, indem es seine Besitzer zu Augen und Ohren macht – auch an den entferntesten Plätzen und zu den unmöglichsten Zeiten – und auf diese Weise Datenmengen generiert ­werden, die früher undenkbar waren. Was wissenschaftlich interessierte Bürgerinnen als Datensammler und -jäger leisten, übersteigt jeden Ehrgeiz und jedes Budget wissenschaftlicher Einrichtungen.
Das Wissen der vielen entsteht, weil Menschen aus aller Welt Küstenbilder an die Uni Kiel schicken; dort speist jedes hochgeladene Foto eine globale Datenbank über Küstentypen und schafft so die Grundlage für ­Anpassungsstrategien an den steigenden Meeresspiegel.

Im Hamburger Arbeiterstadtteil Veddel werten Mitarbeiter einer Poliklinik und der Hochschule für Angewandte Wissenschaften mit ehrenamtlichen "Stadtteilforschern" rund 600 Selbstauskunftsbögen von Bewohnerinnen und Bewohnern aus. So wollen sie die sozialen Ursachen für Gesundheit und Krankheit besser verstehen und daraus Schlüsse für Präventionsprogramme ziehen.

In mehreren Bundesländern erschnüffeln eigens ausgebildete Artenspürhunde invasive Pflanzen wie den Japanischen Staudenknöterich oder das Drüsige Springkraut. Das Projekt ist das Werk von privaten Hundebesitzern und Wissenschaftlerinnen des Unabhängigen Instituts für Umweltfragen in Halle und des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung in Leipzig. Werden die Hunde fündig, füttern ihre Besitzerinnen eine Kartierungsapp und unterstützen so Behörden, die die Ausbreitung fremder Arten dokumentieren und verhindern sollen.

Mit einem Citizen-Science-Preis ausgezeichnet wurde jüngst ein Forscher am Deutschen ­Geoforschungszentrum in Potsdam und am Geographischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Mit Hilfe der Beobachtungen Zehntausender Laienforscher in aller Welt dokumentiert Christopher Kyba seit Jahren die schnell wachsende Lichtverschmutzung durch künstliche Lichtquellen, die die Sichtbarkeit der Sterne für Mensch und Tier beeinträchtigt. Die Arbeit wurde 2023 im Fachmagazin "Science" veröffentlicht und basiert auf unter freiem Nachthimmel erhobenen Daten, die über eine App ("Globe at Night") gesammelt werden. Ergänzt um Messungen von Satelliten ermöglichen die Beobachtungen neue Erkenntnisse.

PIK-Studie: Hitze fördert Hassbotschaften auf Twitter

Bürgerforscherinnen und -forscher ­kartographieren Waldameisenhügel, sie werten Bilder von Galaxien aus und melden Hagelfälle; sie beteiligen sich an der ­Erforschung der Geschichte ihrer Stadt – wie in ­Hamburg oder Witten – und suchen nach den Orten des Gestapo-­Terrors in ihrer Region wie in Niedersachsen; sie ­tragen mit ­Lebensmittelwissenschaftlern das ­Wissen über Sauerteigkulturen zusammen und werten mit ­Sprachwissenschaftlern Tausende analoger und elektronischer Botschaften fürs "Liebesbriefarchiv" in Koblenz und Darmstadt aus; sie bestücken Fähren und Frachtschiffe mit Messsystemen zur Analyse der Wasserqualität und übermitteln per App ihre Beobachtungen von Eichhörnchen im heimischen Garten oder Park.

Antje Trapp-Frank bestimmt und zählt Schmetterlinge auf einer Streuobstwiese. Ihr Beitrag, etwas gegen das ­Artensterben zu tun. Die großen Flecken des Tagpfauenauges sind sein Schutz: Der Fressfeind denkt, ein großes Tier schaue ihn an

Die Eichhörnchen von Antje Trapp-Frank sind Schmetterlinge, seit bald zwanzig Jahren ist sie ihnen systematisch hinterher. In der Nähe ihrer Wohnung in ­Tübingen geht die Pädagogin im Ruhestand regelmäßig die immer gleichen Strecken am Waldrand und auf Streuobstwiesen ab und notiert in ihr Büchlein: Datum und Uhrzeit, Bewölkung, Temperatur, Windgeschwindigkeit und – vor allem – das, was in höchstens zweieinhalb Metern Entfernung rechts und links der Strecken fliegt. Tagpfauenauge, Kleiner und Großer Fuchs, Perlmuttfalter, Landkärtchen, Waldbrettspiel, Bläulingsarten . . . "Leider werden es über die Jahre immer weniger Arten und Individuen", bedauert Antje Trapp-Frank. Damit bestätigt sie den traurigen Trend des bundesweiten "Tagfalter-Monitorings", bei dem seit 2005 mehrere Hundert freiwillige Bürgerforscherinnen wie Trapp-Frank regelmäßig ausschwärmen und Falter bestimmen und zählen.

Diese beiden Brüder beobachten für den Deutschen Wetterdienst die Natur

Das Interesse für Schmetterlinge, sagt Trapp-Frank, sei eine "Erbanlage", weitergereicht vom Großvater, einem Tierarzt, an ihren Vater und dann an sie, als sie Kind war; nach Jahrzehnten, in denen in ihrem Leben wenig Platz für die Falter war, habe es sie wieder "gepackt": Sie ließ sich zur Zählerin fürs bundesweite Monitoring schulen und zusätzlich zum Schmetterlingsguide ausbilden, sie hält Vorträge, macht Führungen in der Natur, fotografiert die farbenfrohen Geschöpfe für Kalender. Bürgerforscherin? Mit dem Begriff könne sie sich durchaus identifizieren: "Ich forsche nicht in dem Sinn, dass ich komplett neues Wissen hervorbringe – ich zähle ja nur", sagt Antje Trapp-Frank. "Aber wir Zähler sammeln Daten, die sonst keiner sammeln würde. Und diese Daten können die Grund­lage für politische oder behördliche Entscheidungen sein, zum Beispiel wenn wir Rote-Liste-Arten nachweisen. Als ­Einzelperson kann ich die Lebensräume der Schmetterlinge nicht umgestalten oder neu schaffen, als Zählerin kann ich aber immerhin dazu beitragen. Und ich kann das Wissen, das ich mir über die Jahre angeeignet habe, weitergeben. Das ist mein Beitrag, etwas gegen das ­Artensterben zu tun."

An einem Samstagmorgen im Januar kommen Wolfgang Borchert und Peter Baruschke zu einem Workshop ins "Hauptcwartier", ein Co-Working-Haus in Düren. Auch die anderen 15 Teilnehmer sind technikaffine Männer – fast alle in ihrer zweiten Lebenshälfte – und haben eine sogenannte Steckersolaranlage auf ihrem Balkon oder ­ihrer Garage installiert. Die bestimmende Person ­während des ganztägigen Treffens ist jedoch die junge Wissenschaftlerin Katharina Rzepucha-Hlubek vom Institut für Verbraucherwissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität. Die Düsseldorfer Hochschule versteht sich als "dialogorientierte Bürgeruniversität", die "aktiv den Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft sucht".

Deshalb hat ihr Verbraucherwissenschaftliches Institut mit der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen drei Citizen-Science-Projekte aufgesetzt, das erste davon heißt "Solar – na klar!" und findet an jenem Samstag in ­Düren seinen Abschluss. Hinter den Teilnehmern liegen drei Online- und zwei Präsenz-Workshops, bei denen sie nicht nur über ihre Solaranlagen fachsimpelten, sondern sich der Forschungsfrage widmeten, "welche Rolle Peer-Effekte bei der Verbreitung von Steckersolargeräten spielen". Laien­haft gesprochen sollte herausgefunden werden, ob und wie stark sich Menschen bei der Kaufentscheidung für die Balkonkraftwerke von ihrem Umfeld beeinflussen lassen.

Dafür haben Wolfgang Borchert, Peter Baruschke und die anderen Teilnehmer eine Einführung in ­Statistik gehört, mit der Wissenschaftlerin einen Fragebogen er­arbeitet und den dann im Freundes- und Bekanntenkreis ­herumgereicht; diesen "Pretest", wie er in der Wissenschaft üblich ist, verfeinerten die Bürgerforscher dann für eine weitere Erhebung mit rund 330 Befragten, ­während pa­rallel ein Marktforschungsinstitut mit einem ähnlichen Fragenkatalog eine repräsentative Erhebung durchführte. Tatsächlich, so das vorläufige Ergebnis, spielten die Peers zwar eine Rolle als Informationsquelle, wenn sich ­Menschen überlegen, eine Balkon-Solaranlage ­anzuschaffen, sagt Wissenschaftlerin Rzepucha-Hlubek. Aber ein klarer Kaufgrund seien sie nicht, andere Motiva­tionen seien wichtiger, etwa der Wunsch, einen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten oder starkes ­Technikinteresse. "Das konnte man vorher schon vermuten", meint Rzepucha- Hlubek, "aber wir können nun anhand einer großen Zahl von Befragten wissenschaftlich zeigen, welche Informationsquellen genutzt werden und was Menschen anreizt oder hindert, solche Anlagen zu kaufen."

Forscher bestätigen: Die Seele existiert! ­ Warum auch nicht?

Wolfgang Borchert und Peter Baruschke fanden auf verschiedenen Wegen zum Thema. Während Ingenieur Borchert Solarmodule vor allem unter dem Aspekt des persönlichen Nutzens betrachtet – seine Anlage liefert ein Drittel seines Stroms, "das rechnet sich nach wenigen Jahren" –, ist Testredakteur Baruschke eher politisch motiviert: In seinem Dorf im Rheinischen Revier sei die klimazerstörende Braunkohleverstromung unübersehbar. Das bürgerwissenschaftliche Projekt hat beide Motivationen zusammengeführt – das Eigeninteresse und die große gesellschaftspolitische Frage. Und beide Männer versichern, sie hätten viel Interessantes erfahren über Statistik und Befragungsmethodik. "Die Wissenschaftler haben uns immer wieder eingefangen, wenn wir uns in technischen Detailproblemen verloren", sagt Baruschke. Er wolle ­weiter werben für die Steckergeräte, vielleicht sogar eine ­"Solarparty" schmeißen, wie sie im Workshop besprochen ­wurde. Auch Borchert bilanziert zufrieden: "Ich bin bestätigt worden, dass ich was Richtiges gemacht habe und kann das nur empfehlen: Das ist eine prima Sache, fast alle profitieren davon – außer vielleicht die Stromkonzerne."

Christopher Kyba vom Potsdamer Geoforschungszentrum sammelt mit Hilfe von Laienforschern Daten zur Licht­verschmutzung in aller Welt

Auch wenn die Citizen Science jung erscheint, hat sie tatsächlich eine lange Geschichte. Es gab sie quasi schon immer. Denn so ist Wissenschaft entstanden: indem ­interessierte Laien begannen, privat zu forschen, zu ­experimentieren, Kataloge und Typologien zu erstellen, Sammlungen allerlei Art anzulegen – wie die Naturforscherin Maria Sibylla Merian und der Verleger, Staatsmann und Erfinder des Blitzableiters Benjamin Franklin; auch Charles Darwin stützte sein Wissen auf umfangreiche Korrespondenz mit Laien. In vielen Ländern ­schlossen sich Amateurforscher in naturwissenschaftlichen Gesell­schaften zusammen, um populäres Wissen zu ­generieren – wie etwa die Senckenberg-Gesellschaft für Naturforschung, die 1817 von Frankfurter Bürgern gegründet wurde und mit ihren Museen und Sammlungen heute zu den großen Wissensvermittlern gehört. Verdienste um die Bürgerwissenschaften, die seit den 90er Jahren so heißen, hat sich auch der Entomologische Verein Krefeld er­worben: Während fast dreier Jahrzehnte sammelten ­dessen Mitglieder, ehrenamtliche Insektenkundler, Insekten und stellten einen drastischen Schwund ihrer ­Biomasse fest. Als "Krefelder Studie" erregte die Arbeit 2017 weltweit Aufmerksamkeit für den Verlust der Artenvielfalt.

Naturschutz funktioniert nicht ohne Gesellschaft

Bedenken und Kritik gibt es auch, natürlich: Es könnten sich Menschen mit einer Agenda in Citizen-Science-Projekte einschleichen und sie missbrauchen, manche Projekte seien kaum mehr als Mitmachaktionen, die akademische Kultur würde leiden, die erhobenen Daten genügten nicht wissenschaftlichen Ansprüchen. Die Biologin Annegret Grimm-Seyfarth vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig, die mit Spürhunden invasiven Pflanzen entgegentritt, sagt, sie sei der Idee der Bürgerwissenschaften zunächst ­kritisch gegenübergestanden; inzwischen habe sie große Wertschätzung für den Ansatz – mit Bedingungen: "Es braucht ein gutes Studiendesign, es braucht Schulungen für die Methodenkompetenz der Teilnehmer, es braucht Qualitätskontrolle, Standardisierung und vieles mehr. Und für all das braucht es Personal und Geld." Unter ­diesen Voraussetzungen sei Citizen Science ein großer Schatz, weil sie Bewusstsein schaffe: "Naturschutz funktioniert nicht ohne Gesellschaft, da sind Bürgerwissenschaften unschlagbar toll."

Ein Artenspürhund schnüffelt: Ist das eine ­invasive Pflanze? Ja, hier wächst das drüsige Springkraut

Noch grundsätzlicher argumentiert Johannes Vogel, der als Jugendlicher in die botanische Abteilung des Natur- wissenschaftlichen Vereins Bielefeld eintrat und heute Generaldirektor des Museums für Naturkunde Berlin ist, das zuletzt 900 000 Besucherinnen und Besucher im Jahr zählte. Vogel ist überzeugt, dass die Wissenschaft Citizen Science brauche, um eine gute Zukunft zu haben. Er sagt: "Die Wissenschaft kann noch so viele Heureka-Momente produzieren, noch so viele Nobelpreise holen, aber wenn dieses Wissen bei den Experten bleibt, ist es verpufftes Wissen. Es mangelt nicht an wissenschaftlichen Erkenntnissen, siehe Klimawandel. Was fehlt, ist die Akzeptanz, und die erzielt man durch Teilhabe und Coproduktion." Vogel erwartet zunehmende Angriffe auf die Wissenschaft, wenn weiterhin versäumt werde, eine "scientific literacy" in die Bevölkerung zu tragen: "Es ist fünf vor zwölf für die Wissenschaft. Das glaubt keiner, weil die Gelder ja noch fließen und im Grundgesetz steht, dass die Wissenschaft frei ist. Aber es steht nicht drin, dass ein AfD-Finanzminister Wissenschaft finanzieren muss."

Schon dreimal hat die Biologin Beate Rutkowski eine 9. beziehungsweise 10. Klasse ihres Gymnasiums an einen der Bäche rund ums bayerische Traunstein geführt. Jeweils einen ganzen Tag verbringen die Schülerinnen und Schüler dort, um das Wasser chemisch zu analysieren und Kleinstlebewesen – sogenannte Makrozoobenthos – zu finden und zu identifizieren. Stundenlang stehen sie am und im Wasser, hantieren mit Keschern, Analysekoffern, Binokularen, Lupen, Bestimmungsbüchern, Gefäßen zum Sortieren, assistiert von zwei Lehrern und einer Mit­arbeiterin des Wasserwirtschaftsamts. Wie die Traun­steiner Gymnasiasten untersuchten in den vergangenen drei Jahren bundesweit fast hundert Freiwilligengruppen mit fast tausend Teilnehmern – Schülerinnen, Mitglieder von Angler- oder Naturschutzvereinen – die Bäche in ihrer Region, um Rückschlüsse auf die Pestizidbelastung ­ziehen zu können. Das Citizen-­Science-Projekt heißt FLOW und dient ausdrücklich dazu, das von professionellen Wissen­schaftlern begonnene ­Gewässermonitoring mit noch mehr Daten aus noch mehr Gewässern zu versorgen.

Astrophysiker Heino Falcke: Was ist hinter dem Universum?

Damit sie das können, würden die Schüle­rinnen und Schüler im Unterricht ausführlich in die wissenschaftlichen ­Methodenstandards eingeführt, betont Biologielehrerin ­Rutkowski. Und bei manchen wecke das Projekt regel­recht den Forschergeist, abzulesen daran, dass sie dann Biologie als Abiturfach wählen und später sogar studieren. "Und wir brauchen händeringend Biologen – auf allen Ebenen." Wenn die Jugendlichen zum ersten Mal in ihren Wat­hosen im Bach stünden, erzählt Beate Rutkowksi, würden sie oft rufen: "Was soll da drin sein? Ich sehe nichts." Und dann fingen sie an, genauer hinzuschauen, Steine umzudrehen, entdeckten Köcherfliegenlarven, Libellen­larven, Würmer, Egel, winzige Schnecken, Bachflohkrebse, so dass am Ende in den Gefäßen auf den Biertischen 30, 40, 50 Arten versammelt sind. Lorenz und Jonas, beide 17, beide Schüler von Beate Rutkowski, beide Angler und ­Jäger, sagen unisono: "Uns war davor nicht bewusst, wie viele verschiedene Lebe­wesen in so einem Bach sein ­können, welche Vielfalt es da gibt, auch wenn es zunächst gar nicht nach viel ausschaut."

Mehr Infos:www.mitforschen.org, www.citizen-science.at, www.schweizforscht.ch