Am Abend, noch ehe die Sonne hinterm Horizont verschwunden ist, lasse ich mich erschöpft aufs Bett fallen. Zugegeben, die Sonne scheint lang im schwedischen Hochsommer – doch so zeitig würde ich in einem anderen Urlaub garantiert nicht schlafen gehen. Dieser Urlaub aber ist nicht wie andere. Er besteht im Wesentlichen aus Arbeit. Unkraut jäten, Tiere tränken, Pflanzen pflanzen. Ich schufte auf einem Biobauernhof. Geld gibt’s dafür nicht, nur Kost und Logis.
Markus Wanzek
Das Angenehme mit dem Hilfreichen verbinden, so lautet, kurz gefasst, die Idee des Voluntourismus. Er möchte zwei Welten zusammenbringen, die auf den ersten Blick wenig gemein haben: ausspannen und arbeiten. Kraft schöpfen und nach Kräften helfen, ehrenamtlich.
Zu den Organisationen, die diese Idee im Natur- und Umweltbereich seit Jahrzehnten vorantreiben, zählt das Netzwerk Wwoof (Worldwide Opportunities on Organic Farms), das hilft, Biobauernhöfe und ehrenamtlich Helfende miteinander in Kontakt zu bringen: Was 1971 als Eine-Frau-Initiative in London begann, nutzen heute Hunderttausende "Wwoofer" in mehr als 130 Ländern.
Der Voluntourismus ist "ein kleines Segment der Reisebranche, das aber seit Jahren wächst", so Antje Monshausen, langjährige Leiterin von Tourism Watch, einer Fachstelle für nachhaltigen Tourismus. Wenn man Touristenfallen vermeide, von denen auch diese Nische nicht verschont bleibt, bedeute er eine große Chance: "Darin steckt das Potenzial, Erfahrungen zu sammeln, die die eigene Perspektive auf die Welt infrage stellen."
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Solch eine Erfahrung kann lebensverändernd sein. Ein gutes Beispiel dafür ist Jandi Hallin, der Koordinator von Wwoof Sweden. 2004 bereiste er Italien, arbeitete erstmals als Wwoofer auf einem Bauernhof – und initiierte noch im selben Jahr eine Wwoof-Dependance in seinem Heimatland: "Das war einfach zu toll, um es nicht auch in Schweden zu haben." Seine Pionierarbeit, viele Jahre völlig ehrenamtlich, trug Früchte: Heute sind in Schweden 150 Höfe als Wwoof-Gastgeber gelistet, im vergangenen Jahr beherbergten sie rund 1000 Helferinnen und Helfer.
Für die Höfe sei das eine gute Gelegenheit, mit der Welt da draußen in Kontakt zu kommen, so Hallin: "Leuten, die auf einem Bauernhof leben, fehlt oft die Zeit, um die Welt zu bereisen, andere Kulturen kennenzulernen. Durch Wwoof kommen Menschen von überall her zu ihnen."
Warum aber wird man Ökovoluntourist? Was gibt einem das Geben als Gastarbeiter? Um das herauszufinden, bin ich im Sommer 2023 per Zug und Überlandbus nach Südschweden gereist.
Auf dem Biobauernhof von Angelika Jakimowicz, ein paar Kilometer von der Ostküste in der Provinz Skåne gelegen, leben auf 50 Hektar 120 Schafe, drei Schweine, zwei Pferde und um die 60 Hühner sowie, neben Angelika und ihrer Partnerin Kamilla, eine wechselnde Zahl von Helferinnen und Helfern.
Leute wie ich, die als Wwoofer auf den Gemüse- und Blumenfeldern, im Hofladen oder beim Füttern der Tiere zur Hand gehen, sind hier höchst willkommen. Das merke ich schon, als Angelika mich am Busbahnhof von Brösarp abholt. Auf dem Beifahrersitz springt mir Valle auf den Schoß, einer der drei Hofhunde, und nimmt routiniert Streicheleinheiten in Empfang.
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Tags darauf beginnt um acht Uhr meine erste Morgenrunde. Wir sitzen an einem Holztisch im Innenhof, Kaffee und Sonnenschein küssen uns wach. Angelika, eine fröhliche Mittdreißigerin mit Dreadlocks, Ballonmütze und tätowiertem Arm, verteilt die anfallenden Aufgaben.
"Julika trägt heute die Verantwortung für den Hofladen", sagt Angelika mit Blick auf ihren Notizblock. "Heute ist der letzte Spargeltag." Julika nickt. Im Sommer zuvor war sie während der großen Ferien für drei Wochen als Wwooferin auf den Hof gekommen. Es gefiel ihr so gut, dass sie, mit Anfang dreißig, ihren Job als Sozialpädagogin an einer Schule in Worms kündigte, ebenso ihre Wohnung, und im Mai wiederkam, auf unbestimmte Zeit.
"In zwei Wochen wird das Café eröffnet", fährt Angelika fort. "Das ist Ivys und Severins Job." Auch das Schweizer Pärchen ist zum zweiten Mal hier. Im Sommer davor waren sie von einem anderen Hof in Schweden, wo sie als freiwillige Helfer waren, geflüchtet: viel Arbeit, kein freier Tag, am Essen wurde geknausert. Durch Zufall fanden sie Angelikas Gård, sprachen sie an – und konnten direkt für den Rest der Saison im Café anheuern. Jetzt kehrten sie für ihre erste komplette Saison zurück.
"Iris, du bist heute die Tomatenmama!", sagt Angelika zu einer 25-jährigen Dänin, die fünf Jahre als Künstlerin in Kopenhagen gelebt hat und nun eine Ausbildung zur Biolandwirtin macht; bei Angelika absolviert sie ihr Praktikum. Als Tomatenmama ist sie fürs Jäten und Gießen der kleinen roten Racker im großen Gewächshaus zuständig.
Ich werde fürs Unkrautjäten eingeteilt, zusammen mit Jon, einem drahtigen, vollbärtigen Schweden, der seit drei Wochen auf dem Hof mithilft. Er träumt davon, einmal selbst einen gemeinschaftlich geführten Hof zu gründen.
"Easy-peasy!", ruft Angelika zum Abschluss der Morgenrunde. Beim Schwung, mit dem sie uns in den Tag entlässt, fühlt es sich an, als wäre tatsächlich jede Aufgabe, die er bringen mag, superleicht.
Ein tückisch kühler Wind weht übers Feld, das Jon und ich mit unseren Unkrautharken bestellen. Denn die Sonne küsst nicht mehr. Die Sonne sengt. Hockend, jätend, zupfend machen wir Meter um Meter.
"Du bist also einer der wenigen Schweden auf dem Hof?", frage ich Jon.
"Ja", entgegnet er. "Das ist das Coole hier: Man lernt nicht nur über Biolandwirtschaft. Es ist auch eine Sprachschule." "Und ein Sprachchaos!", sagt Julika, die uns gerade einen Morgensnack vorbeibringt: grüne Spargelstauden, frisch vom Feld. "Manchmal mischen wir Englisch, Schwedisch und Deutsch."
Nachdem unsere Felder bestellt sind, revanchieren Jon und ich uns bei Julika, indem wir ihr beim Waschen von Spargel und Lauchzwiebeln für den Hofladen helfen. Anschließend gehen wir zu dritt zurück in die Felder, Zucchinisetzlinge pflanzen. "Die hab ich vor drei Wochen gesät", sagt Julika. "Schön, wenn man sieht, was daraus wird." Die Erfolge des eigenen Einsatzes sind die emotionalen Früchte, die Voluntouristen die Tage versüßen.
Abends machen Iris, Julika und Jon mit mir einen Abstecher zum Strand. Ein Sprung in die frischen Ostseewellen ersetzt meine Feierabenddusche.
Julika schläft im einstigen Hühnerstall, den ein Wwoofer mit Schreinertalent in ein Tiny House verwandelt hat. Bevor sie zu Bett geht, wartet eine letzte Pflichtaufgabe: die Plagegeisterjagd. Julikas Waffe liegt auf dem Schränkchen neben der Eingangstür – eine Fliegenklatsche. "Ich mag keine Tiere töten", sagt sie. "Aber sonst kannst du hier einfach nicht schlafen."
Meine zweite Morgenrunde. Heute winkt eine Mammutaufgabe. Neben dem großen Gewächshaus mit den Tomaten soll noch ein kleines emporwachsen, für Gurken. Irgendwo im Internet hat Angelika eine alte, günstige Stahlkonstruktion aufgetan. Nun liegen die Teile auf der Wiese beim Hühnerstall, ein rostiger, rätselhafter Haufen. Ein Gewächshaus bauen also – wie denn das?!
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Von Angelika lernen heißt Lernen lernen. Als sie den Hof 2017 kaufte, war sie selbst blutige Bauernhofanfängerin, eine Ex-Managerin, von einem Burn-out aus der glitzernden Modewelt aufs Land katapultiert. Sie war entschlossen, erzählt sie, jetzt etwas Sinnvolles zu machen – und komplett ahnungslos. "Ich hatte nie zuvor Gemüse angebaut." Dann fing sie einfach an, allein.
Der Freund eines Freundes fragte, ob er auf Angelikas Hof mithelfen könne, gegen Kost und Logis. Er kannte Wwoof. Und so kamen bald weitere Wwoofer. Mit ihnen wurde Expertise von anderen Höfen hierher verpflanzt. "Ich habe so viel gelernt!", sagt Angelika, die heute Bäuerin ist und Klempnerin und Traktormechanikerin und vieles mehr. "Wenn meine Helferinnen und Helfer sagen, dies oder jenes habe ich noch nie gemacht, dann sage ich: Perfekt! Das ist genau der richtige Zeitpunkt, es zu lernen!"
Früher, erzählt Angelika, habe sie sich allein am stärksten gefühlt. Doch an der gemeinschaftlichen Arbeit mit den Freiwilligen sei sie gewachsen: "Du musst offen sein, um zu lernen. Offen sein für die Hilfe anderer – so wie die Wwoofer. Ich bewundere ihre Aufgeschlossenheit und ihren Mut. Sie kommen hierher, ohne zu wissen, was sie erwartet."
Was ist schon das Aufbauen eines kleinen Gewächshauses gegen das Aufbauen eines ganzen Bauernhofs trotz abgrundtiefer Ahnungslosigkeit? Na, eben. Und so stürzen Kamilla und Julika, Jon und ich uns auf das rostige Rätsel . . .
Nach nicht einmal eineinhalb Tagen ist das Rätsel gelöst. Jons Bewertung des Bauwerks, vielleicht acht Meter lang und zwei Mann hoch, klingt wenig euphorisch: "This is an old, rusty piece of shit!"
"Je mehr Freiheit und Vertrauen man bekommt, desto mehr Energie hat man"
Ivy Céline
Da mag was dran sein. Und easy-peasy war der Aufbau auch nicht, wir kamen ganz schön ins Schwitzen. Doch das Wichtigste ist: Das Gewächshausgerüst steht, sogar stabil. Wir ziehen die schwere Plastikplane drüber. Sofort staut sich darin die Hitze. Die Gurken können kommen.
Erstaunlich, wie viel Enthusiasmus so ein Haufen Helferlein freisetzen kann. Wie sehr Engagement für eine gute Sache zu einer Leistung anspornt, die sich wie Energie anfühlt. Auch Ivy Céline und Severin, die beiden Schweizer, kennen diese Energie der Ehrenamtlichkeit gut. Sie sind routinierte Voluntouristen, die schon auf mehr als zehn Höfen gastiert haben. Mal sprechen sie Deutsch mit mir, mal Englisch. "Eigentlich ist es paradox", sagt Ivy Céline. "Je mehr Freiheit und Vertrauen man bekommt, desto mehr Energie hat man." Und die Freiwilligenarbeit gebe von beidem eine Menge.
Ganz ohne Lohn auf dem Hof zu helfen, das sei gerade das Schöne, ergänzt Severin. Denn: "Man bekommt im Prinzip mehr als Geld: Wissen. Erfahrungen. Sozialen Austausch. Und man wird wieder geerdet."
Ivy nickt. Was einem dieses Geben gibt, das findet sie, sprachchaotisch gesprochen, "just amazing".