Heute hätte die palästinensische Autorin Adania Shibli auf der Frankfurter Buchmesse für ihren ersten ins Deutsche übersetzten Roman "Eine Nebensache" ausgezeichnet werden sollen. Im Juni hatte der Verein Litprom verkündet, dass Shibli den Liberaturpreis 2023 erhält. Der Preis wird seit 1988 an Autorinnen des globalen Südens vergeben. Er ist mit 3000 Euro dotiert und wird durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst sowie den Kulturfonds Frankfurt RheinMain gefördert. Aufgrund der Angriffe der Hamas auf Israel wurde die Preisverleihung auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Man wolle die Autorin vor der "Hetzmasse" schützen, sagte Buchmessendirektor Juergen Boos als Begründung. Er ist auch Vorstandsvorsitzender von Litprom.
Adania Shibli
Katharina Müller-Güldemeister
Wann genau die Preisverleihung nachgeholt werden soll, ist noch nicht klar. Der Verein will für die Preisverleihung einen geeigneten Rahmen nach der Buchmesse finden, gab Juergen Boos bekannt. "Der Terror auf Israel widerspricht allen Werten der Frankfurter Buchmesse", sagte Boos. Die Messe stehe "mit voller Solidarität an der Seite Israels" und wolle daher "jüdische und israelische Stimmen auf der Buchmesse nun besonders sichtbar machen".
Der Terror widerspricht natürlich auch meinen Werten und auch ich stehe mit voller Solidarität an der Seite Israels. Trotzdem halte ich die Verschiebung der Preisverleihung für keine gute Entscheidung. Denn wird die Autorin jetzt nicht in eine Art Sippenhaft mit einer terroristischen Gruppe genommen, die zu brutalsten Massenmorden bereit ist? Warum nutzt man die Preisverleihung nicht, um ein öffentliches Gespräch mit ihr zu führen? Nichts brauchen wir jetzt so sehr wie Dialog, auch das hat Buchmessendirektor Boos selbst betont.
Aber worum geht es genau? Der Roman "Eine Nebensache" handelt von einer historisch belegten mehrfachen Vergewaltigung und Ermordung eines Beduinenmädchens in der Wüste Negev durch israelische Soldaten 1949. Der erste Teil ist aus der Sicht des kommandierenden Offiziers geschrieben, der die Grenze des damals erst ein Jahr bestehenden Staates Israel absichern soll. Der zweite Teil ist aus der Ich-Perspektive einer jungen palästinensischen Wissenschaftlerin geschrieben, die nach Spuren des Verbrechens sucht. Dazu leiht ihr eine israelische Kollegin ihren Pass, damit sie Archive aufsuchen und am Tatort, direkt an der Grenze zum Gazastreifen, recherchieren kann. Sie erzählt alltägliche Schikanen durch die israelische Armee im Westjordanland. Am Ende fährt sie trotz Warnschildern in militärisches Sperrgebiet und wird ebenfalls von Soldaten erschossen.
Der Roman ist 2017 auf Arabisch in einem Beiruter Verlag erschienen und wurde ins Spanische, Englische, Französische und Deutsche übersetzt. In den USA und England wurde er für den National Book Award und den International Booker Prize nominiert – mehr Renommee geht kaum. Auch hierzulande begeisterten sich die Feuilletons für das Debüt der Autorin, die in Berlin und Ramallah lebt. Lobende Kritiken sind etwa in der FAZ, der Süddeutschen und im Tagesspiegel erschienen.
Der Roman wurde aber auch scharf kritisiert. WDR-Journalist Ulrich Noller warf der Autorin vor, dass sie "antiisraelische und möglicherweise auch (strukturell) antisemitische Muster nutzt, um die Dynamik, die das Buch hat, zu erzielen". Noller war Mitglied der Weltempfänger-Jury von Litprom, die den Roman auf eine Empfehlungsliste setzte, die auch eine Art Vorauswahl für den Preis darstellt. Aus Protest verließ er die Jury dann auch.
Ich selbst halte den Roman nicht für antisemitisch, sondern für gute Literatur.
Im Juni begründete die vom Litprom-Verein unabhängige Liberaturpreis-Jury die Auszeichnung für den Roman so: "Gleichsam präzise und behutsam entwirft die palästinensische Autorin Adania Shibli mit 'Eine Nebensache' ein formal wie sprachlich streng durchkomponiertes Kunstwerk, das von der Wirkmacht von Grenzen erzählt und davon, was gewalttätige Konflikte mit und aus Menschen machen. Mit großer Wachsamkeit richtet sie ihren Blick dabei auf die kleinen Details, die Nebensächlichkeiten, die es uns erlauben, die alten Wunden und Narben zu erblicken, die hinter der Oberfläche liegen."
Den Dialog hätte es gebraucht
Am 7. Oktober griff Hamas brutal Israel an, tötete mindestens 1400 Menschen und katapultierte den Roman und die Frankfurter Buchmesse mittenrein ins Chaos der Kriegsgeschehnisse. Kurz darauf teilte der Verein mit, dass die Preisverleihung doch nicht auf der Buchmesse stattfinde, die Preisvergabe selbst jedoch nicht infrage steh. Zoë Beck, Vorstandsmitglied des Litprom-Vereins, sagte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, dass "niemandem wirklich nach Feiern zumute" sei, die Entscheidung sei mit der Autorin und dem Verlag abgesprochen.
Seitdem werden viele Pressemitteilungen geschrieben, zum Beispiel von PEN Berlin, der Schriftstellervereinigung auf Deutsch schreibender oder im deutschsprachigen Raum lebender Autoren, Übersetzer und Verleger. PEN-Sprecherin Eva Menasse schreibt: "Kein Buch wird anders, besser, schlechter oder gefährlicher, weil sich die Nachrichtenlage ändert. Entweder ist ein Buch preiswürdig oder nicht." Die schon vor Wochen getroffene Entscheidung der Jury für Shibli sei ihrer Meinung nach eine sehr gute.
Außerdem fehle seit dem Massenmord der Hamas an Hunderten Zivilisten es auffällig und schmerzlich an palästinensischen und arabischen Stimmen, die diese Verbrechen mit unmissverständlichen Worten verurteilen. "Aber damit kritische Intellektuelle dies tun können, darf man sie nicht von vornherein verdächtigen und ausschließen. Ihre eigenen Erfahrungen mit der israelischen Besatzungspolitik müssen sie beschreiben dürfen, unter der die Palästinenser so leiden, wie Shibli es in ihrem herausragenden Roman schildert."
Und was sagt die Autorin selbst?
Adania Shibli steht für Statements nicht zur Verfügung, schreibt der Berenberg-Verlag, der ihr Buch auf Deutsch veröffentlicht hat, auf Anfrage. Der Verlag weist aber darauf hin, dass die Entscheidung, die Preisverleihung zu verschieben, weder gemeinsam mit der Autorin noch mit dem Verlag getroffen worden sei. Der Verlag bedauere die Entscheidung und könne sie nicht nachvollziehen.
Eine Preisverleihung, wie sie ursprünglich geplant war, wäre zweifellos nicht das richtige Format gewesen, schreibt der Verlag. "Niemandem wäre angesichts der grauenvollen Angriffe der Hamas in Israel, des unermesslichen Leids unter der Zivilbevölkerung auf beiden Seiten, die niemanden ohne Erschütterung lassen können, zum Feiern zumute." Stattdessen hätte Adania Shibli, die jede Form von Terror und Gewalt vehement ablehne, die Gelegenheit nutzen wollen, um über Literatur in diesen entsetzlichen und schmerzhaften Zeiten zu sprechen.
Es wäre gut gewesen, hätte die palästinensische Autorin dies tun können! Und es ist eigentlich auch das, was man von Litprom hätte erwarten können, einem Verein, der von sich selbst auf der Website sagt, Dialog durch Literatur zu schaffen: "Literarische Texte ermöglichen uns, weniger bekannte Kulturen und Gesellschaften kennenzulernen. Denn neben den ästhetischen Aspekten gewährt die Literatur mit ihren vielfältigen Formen und Themen auch Einblicke in die Gedankenwelt und den Alltag der Menschen."
Den Dialog abzuwürgen ist das, was wir in dieser Situation am wenigsten brauchen. Hier wurde eine Chance auf Verständigung vertan. Schade.
Eine gute Buchempfehlung, ich
Eine gute Buchempfehlung, ich werde das Buch gerne lesen.
Aber ich finde auch, dass die Entscheidung, die Verleihung zu verschieben, zu respektieren sei, denn angesichts der aktuellen Auseinandersetzungen, sowohl von Seiten der palästinensischen Sympathisanten als auch des Ärgers, den diese aufgeschobene Preisverleihung nun auch unter allen Interessierten ausgelöst hat, wären ärgerliche bis aggressive Reaktionen zumindest nicht auszuschliessen.
" Ein abgewürgter Dialog "
Da gab es doch keinen Dialog.
Außerdem deutet schon diese Ausdrucksweise auf mögliche heftige Reaktionen.
Die Autorin war einverstanden, und wollte vielleicht auch nicht als Stein des Anstoßes gelten, also wie jemand, der ausschliesslich politisch verstanden werden will.
Als sie ihr Buch schrieb, wusste sie noch nicht, was am 7. Okt. 23 geschehen wird !
All diese Aufregung klingt daher recht selbstsüchtig und rücksichtslos .
" Hier wurde eine Chance auf Verständigung vertan. Schade. "
Ganz sicher nicht, denn, meiner Meinung nach, kann ein positiver Dialog erst dann gelingen, wenn eine reflektierte Debatte möglich wird, eben eine in der auch der Person der Autorin gebührende Achtung zukommt.
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