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Der Bursche rechts oben im Bild gibt die Richtung vor. Er verrät, worum es geht in dem Schreiben, in das die "Briefleserin am offenen Fenster" von Jan Vermeer hier versinkt. Der barocke Cupido, Lustbengel mit Pfeil und Bogen, hat seine drolligen Finger im Spiel.
Für lange Zeit war das nicht so klar, der Cupido nicht sichtbar. Jahre nach Vermeers Tod war der Liebesgott übermalt worden. Er schien dem Besitzer des Bildes vielleicht zu platt. Das Bild wechselte in der Folge als vermeintliches Werk von Rembrandt den Besitzer, Vermeer war zu der Zeit fast vergessen; Rembrandt allerdings hätte sich so einen plumpen Bild-im-Bild-Hinweis mit Cupido eher nicht geleistet.
Erst in den 1970er Jahren hatte ein Röntgengerät den als graue Wand übermalten Liebesgott offenbart und erst 2017 war klar: Vermeer wars nicht gewesen. Fast ein bisschen schade. Die Bildbotschaft wird damit doch sehr eindeutig auf die Liebesbrieflektüre reduziert.
Vermeers Werk ist sonst nämlich immer gut fürs fröhliche Requisitenraten; viele Details, die Kleidung, ein Globus im Hintergrund, eine Spiegelung, geben Hinweise, die aber meist mehr- statt eindeutig ausfallen. Bis heute beschäftigen seine zahlreichen Anspielungen die Kunstforschung. Weil der Künstler es gleichzeitig schafft, mit seinen Bildern praktisch umgehend eine intime Atmosphäre herzustellen, lockt er auch Jahrhunderte nach seinem Tod ein großes Publikum in die Museen.
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Für Vermeer darf man sich ruhig Zeit nehmen. Auch bei der Briefleserin lohnt es sich, den Blick wandern zu lassen. Die Masken, auf die der Liebesgott tritt, deuten eine im Mindesten wechselhafte Liebschaft an, mögliche Täuschungen und Enttäuschungen nicht ausgeschlossen. Dazu kommt das Gesicht der Lesenden, man will beim Betrachten selbst sehnsuchtsvoll aufseufzen. Von großer Leidenschaft zeugen außerdem der aufgewühlte Teppich und – Wink mit dem Zaunpfahl – die Obstschale mit den beinahe genitalisch eingedellten Früchten.
Apropos: Sind der feine Teppich und die edle blaue Porzellanschale Geschenke des Geliebten – womöglich ein weit reisender Händler? Wer durch die verwinkelten Gässchen von Delft, Vermeers Heimatstadt, läuft, bekommt eine gute Ahnung vom verschnörkelten Reichtum der Niederlande während ihres "Goldenen Zeitalters" im 17. Jahrhundert. Eine Zeit, die für die kolonisierten Länder, aus denen das Gold in Form von feinen Stoffen, Porzellan oder Gewürzen kam, eher dunkel war.
Die Briefleserin bekommt durch die Spiegelung ihres Gesichts im Fenster eine tiefere Persönlichkeit
Während die Delfter Herren auf prächtigen Segelbooten über die Weltmeere schipperten und das edle Zeug im Delfter Hafen entluden, blieben die Frauen zu Hause, wie es sich für Gattinnen erfolgreicher Seefahrer geziemte. Sie durften allenfalls auf ein paar nette Zeilen hoffen.
Vermeer ist heute vielleicht auch deshalb so populär, weil er einzelne Frauen verschiedenster sozialer Schichten vermeintlich unbeobachtet im Alltag zeigt: beim Briefelesen, beim Hausputz, beim Perlenwiegen oder Musizieren. Einzige Ausnahme: das berühmte Mädchen mit dem Perlenohrring. Es blickt einen unverwandt an. Aber auch für dieses Bild, wie für die anderen Vermeers, gilt: So konzentriert auf die Damenwelt und ehrlich interessiert an ihr war die Kunst des 17. Jahrhunderts eher selten.
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Auch die Briefleserin bekommt durch die Spiegelung ihres Gesichts im Fenster eine tiefere Persönlichkeit, so als ließe sich im selben Moment noch eine weitere Gemütsfacette erahnen – gesellt sich zur Sehnsucht beim Lesen etwas schattige Trauer? Vermeer-Fans interessiert außerdem: Hat der Künstler hier seine eigene Frau gemalt? Ein barocker Liebesgott hing wohl bei seiner Schwiegermutter im Haus.
Vom Werk ihres Mannes haben Vermeers Witwe und die elf gemeinsamen Kinder nicht profitiert, als der Maler hoch verschuldet mit gerade einmal 43 Jahren starb. Der frühe Tod erklärt zum Teil auch das überschaubare Œuvre Jan Vermeers – nur etwas mehr als dreißig Werke lassen sich heute eindeutig ihm zuordnen.
Erstmals hängen fast alle in diesem Frühjahr in einer großen Vermeer-Schau des Amsterdamer Rijksmuseums. Eine ziemliche Sensation und eine kuratorisch- logistische Meisterleistung – allein die Versicherungspolicen der Kunstwerke lassen einen schwindlig werden. Aber der Aufwand lohnt sich, das Publikumsinteresse ist groß.
Vor den Bildern dürfte es im Rijksmuseum daher ziemlich trubelig zugehen. Ein scharfer Kontrast zur ruhigen Stimmung der Bilder – stören tuts trotzdem kaum. Denn Vermeer schafft, was große Künstler eben schaffen: die Welt drumherum vergessen zu lassen. Und sei es nur für eine Brieflänge.
Eine erste Version des Textes erschien am 22. März 2023.
Guten Tag,
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Guten Tag,
liebe Redaktion!
Da unser Haus in diesen Tagen einen eigenen Kälte abwehrenden Vorhang erhalten hat, erlaube ich mir, die Bildbetrachtung von Lukas Meyer-Blankenburg zu ergänzen. Mir fällt auf, dass der Rezensent die beiden Vorhänge nicht erwähnt. Rechts halbiert ein grüner Schal das Gemälde
und gibt den als Bild im Bild aufgehängten Amor nur zur Hälfte frei. Über dem offenen Fenster hängt ein rotes Tuch, das das Gesicht der wohlhabenden Leserin spiegeln lässt. Rot und Grün: die Farben der Liebe und der Zukunft, ein gelungener Blick in eine Delfter Wohnstube.
Es grüßt
DIRK Römer, LORSCH