In der ersten Klasse in Stettin lernten Gesine (links) und Helga sich kennen. Die Freundschaft hält bis heute
In der ersten Klasse in Stettin lernten Gesine (links) und Helga sich kennen
Katrin Binner
Über 80 Jahre Freundschaft
Gut, dass wir uns haben!
Durch dick und dünn, durch Krieg und Frieden: Gesine und Helga sind beste Freundinnen seit über 80 Jahren
15.11.2022
10Min

Stellt euch vor, man hätte euch im Alter von sechs Jahren gesagt, dass ihr 83 Jahre später immer noch befreundet sein werdet.

Gesine S.: Hätte ich mir niemals vorstellen können. Jetzt sind wir zwei so alte Schachteln und viel älter, als unsere Großmütter damals waren.

Helga W.: Mir wäre das wie eine Unendlichkeit vorgekommen. So wie man als Kind in den Himmel sieht und sich wundert, dass es nicht irgendwo ein Ende gibt.

Überrascht es euch heute, dass eure Freundschaft so lange gehalten hat?

Helga: Manchmal schon. Ich bin dankbar und empfinde es als Reichtum, dass wir uns haben . . .

Gesine: . . . und uns noch nicht betrauern müssen. Viele meiner Freundinnen sind gestorben, umso mehr hänge ich an denen, die noch da sind. Ich hätte auch nie gedacht, dass ich so alt werde, ich hatte mehrere größere Herz-OPs, das war immer wieder knapp. Deshalb habe ich auch ­meinen 89. Geburtstag groß gefeiert, wer weiß, ob ich überhaupt die 90 schaffe.

Helga: Ich hätte auch nie gedacht, dass ich so alt werde. Als junge Frau hatte ich mehrere Nierenoperationen. Die Ärzte prophezeiten mir, dass ich nicht alt werden würde.

Herzensnähe

1939, im Jahr des Kriegsbeginns, saßt ihr in Stettin als Erstklässlerinnen gemeinsam auf einer Schulbank. Könnt ihr euch an eure erste Begegnung erinnern?

Helga: Ja! Ich mochte Sinis offenes, fröhliches Lachen. Als du dich neben mich gesetzt hast, hat mich das gleich für dich eingenommen.

Gesine: Ich war fasziniert, wie du aussahst: braune, ­lange Zöpfe und braune Augen, ganz anders als ich, ich war strohblond. Meine Mutter sagte später häufig zu uns: das weiße und das schwarze Schaf.

Helga: Da war eine große gegenseitige Sympathie . . .

Gesine: . . . eine Herzensnähe, die man vielleicht gar nicht rational erklären kann.

Helga: Jedenfalls hat uns das sehr geholfen, wir waren beide neu in der Schule und suchten Anschluss. Die ­Lehrer waren sehr streng, man hatte zu gehorchen. Da war es schön, eine gute Freundin zu haben.

Wie wart ihr damals? Schüchtern oder selbstbewusst?

Gesine: Ich war ein schüchternes Kind und fühlte mich bei dir gut aufgehoben, Helga, du warst selbstbewusster.

Helga: Das lag wohl auch daran, dass ich drei jüngere Geschwister hatte, ich musste Verantwortung übernehmen. Dafür hattet ihr ein Haus mit großem Garten, wir hatten nur eine Stadtwohnung und einen kleinen Garten, ich war oft bei dir, wir haben Verstecken gespielt oder mit unseren Puppen. Leider hatten wir nur ein Jahr zusammen, weil ihr dann nach Berlin gezogen seid, aber ich konnte dich dort besuchen.

Gesine: Ich erinnere mich noch genau, wie wir uns ver­abschiedet haben: Wir haben uns ganz fest umarmt und waren beide sehr traurig. Im Krieg verloren wir uns dann aus den Augen, ich wusste nicht, wo du warst, das hat mich sehr bekümmert. Telefon hatten wir damals nicht.

Heute im Handyzeitalter ist es kaum vorstellbar, dass jemand nicht erreichbar ist.

Gesine: Das stimmt. Ich war eine Zeit lang bei der Kinderlandverschickung in Hinterpommern, wo wir vor Bomben- angriffen sicher waren. Nach dem Krieg ist unsere ­Familie geflüchtet, am Ende sind wir in Coppenbrügge bei Hameln gelandet. Wir wohnten sehr primitiv, die ganze Familie in einem Zimmer.

70 Kilometer mit dem Fahrrad

Helga: Wir lebten eine Zeit lang in einem Dorf in der Nähe von Stettin, um den Bombenangriffen zu entgehen. 1945 sind wir mit einem großen Treck geflüchtet, ich erinnere mich noch gut an die Tieffliegerangriffe der Engländer, ich hatte oft Angst. Schließlich sind wir in Bad Pyrmont gelandet und wurden bei einer Familie einquartiert.

"Freundschaft heißt: liebevoll nachhorchen, wie es der anderen geht"

Wie habt ihr euch nach dem Krieg wiedergefunden?

Gesine: Mit Hilfe des Suchdienstes vom Roten Kreuz. Erst 1947 habe ich Helgas Adresse bekommen und sie dann in Bad Pyrmont besucht, mit dem Fahrrad waren das 70 Kilometer hin und zurück. Wir haben uns unglaublich gefreut und in die Arme geschlossen. Danach haben wir uns regelmäßig getroffen, mindestens alle zwei Wochen.

Ihr habt Hunger und Bombenangriffe erlebt, seid beide aus dem Osten geflüchtet . . .

Gesine: Das hat uns sehr verbunden. Für meine Familie war es schlimm, dass mein älterer Bruder im Krieg gefallen ist. Umso mehr war ich froh, dass du wieder da warst.

Helga: Das ging mir genauso. Auch nach dem Krieg war es schwer, unsere Familie war ständig damit beschäftigt, Lebensmittel zu bekommen. Wir waren viel auf den ­Fel­dern, haben die liegen gebliebenen Kartoffeln und ­Ähren aufgesammelt. Die Freundschaft zu dir war in dieser Zeit eine Konstante, ich wollte dich nicht wieder verlieren.

Gesine: Ich glaube, wir haben uns damals beide nicht so wichtig genommen, hatten keine überzogenen ­Vorstellungen, dass eine Freundin einem jeden Moment ins Herz schaut und alles versteht oder so, wir haben ­einfach die Nähe genossen. Das Bedürfnis nach ­Individualität und Selbstverwirklichung, das heute eine große Rolle spielt, gab es damals nicht.

Zimmergenossinnen für zwei Jahre

Nach der Schule habt ihr zwei Jahre gemeinsam in Celle eine Ausbildung zur landwirtschaftlich-technischen Assistentin gemacht. Was hieß das für eure Freundschaft?

Helga: Wir wohnten zwei Jahre in einem Mädchenheim in einem Zimmer zusammen, das hat uns noch mal ­zusammengeschmiedet. Für die anderen waren wir ein Paar, unzertrennlich, wir haben uns bei den Hausauf­gaben geholfen, über die Lehrer gelästert.

Gab es auch mal Zoff?

Gesine: Das weniger, aber durchaus Rivalität, was die Männer anging. Wir hatten damals beide einen Freund. Wenn eine von uns einen Brief bekam, setzte sie sich gespannt aufs Bett und las. Ich erinnere mich, dass ich einmal einen Brief von Klaus bekam, und Helga hat die Stühle in unserem Zimmer hochgestellt und angefangen zu saugen. Da warst du ziemlich rabiat.

Helga: Tatsächlich? Kann ich gar nicht mehr erinnern.

Gesine: Ich schon. Mich hat das total gestört. (lacht)

Helga hat dann 1957 ihren Freund Ernst Heinz geheiratet. Warst du darauf eifersüchtig, Gesine?

Gesine: Gar nicht. Ich habe mich für dich gefreut, auch als du deine beiden Kinder bekommen hast. Ich habe ­­später geheiratet. Leider sind mein Mann und ich aus ­biologischen Gründen kinderlos geblieben. Dafür bin ich dann mehrfach Patentante geworden, auch bei deinem ­ersten Sohn, das war schön für mich.

Wie findet man neue Freunde und Freundinnen in der Großstadt? Mehr dazu im Text von Christine Holch

Habt Ihr offen über das Problem mit dem Kinderkriegen gesprochen?

Helga: Ja. Mir tat es sehr leid, dass du keine Kinder be­kommen konntest, du mochtest sie immer sehr gern.

Gesine: Mein Leben hat dann eine ganz andere Richtung genommen. Ich bin Erzieherin geworden, habe dafür noch eine Montessori-Ausbildung gemacht. Du warst dagegen Hausfrau und Mutter und damit zufrieden. Wir haben uns nicht so oft gesehen, weil wir in unterschiedlichen Städten lebten. Ich habe dein Modell natürlich akzeptiert, Helga, hatte aber das Gefühl, dass ich nicht so leben möchte wie du. Du hast fast alles mit deinem Mann zusammen gemacht, hast immer viel Wert auf gesellschaftliche Normen und Etikette gelegt. Wenn man bei dir eingeladen war, musste man sich hinterher schriftlich bedanken . . .

Helga: Schriftlich nicht! Es geht mir nicht um die Etikette, ich freue mich einfach über eine schöne Rückmeldung.

Gesine: Na gut, aber zumindest am Telefon. Ich bin dagegen stets ein Freigeist gewesen, bin mit meinem Mann viel gereist, oft ins Theater oder ins Konzert gegangen.

Helga: Ich fühlte mich dir manchmal unterlegen, weil ich dachte, du hältst uns für Kulturbanausen, dabei waren wir auch regelmäßig im Theater und im Konzert.

Gesine: Mag sein, dass ich das nicht so wahrgenommen habe. Ich dachte immer, du hast andere Interessen, hast viel gekocht, warst eine großartige Gastgeberin, ich fühlte mich bei dir immer sehr verwöhnt. Ich war nie die klassische Hausfrau und konnte dir in der Küche sowieso nicht das Wasser reichen. Meine Arbeit hat mich immer mehr interessiert, als klassische Rouladen zu braten.

Helga: Ich finde, es gibt auch so etwas wie Esskultur, auch das gehört für mich zur Kultur. Ich habe nie verstanden, dass du im Supermarkt Fertiggerichte gekauft hast oder fertige Tortenböden.

Gesine: Fertiggerichte habe ich nie gekauft! Aber ich ­koche einfache Gerichte, improvisiere gern. Am liebsten essen wir Pellkartoffeln mit Quark. Das wäre für euch eine totale Banausigkeit.

Viele Briefe

Wie kommt es, dass die Freundschaft so eng geblieben bist, obwohl ihr euch unterschiedlich entwickelt, lange an verschiedenen Orten gelebt habt?

Gesine: Die gegenseitige Sympathie, das Wohlwollen hat trotz der Unterschiede nicht gelitten. Selbst wenn wir uns länger nicht gesehen haben, konnten wir sofort ­anknüpfen. Das lag sicher auch daran, dass wir uns immer lange Briefe geschrieben haben, Briefe waren in unserer Freundschaft überhaupt sehr wichtig, gerade als wir noch kein Telefon hatten. Wenn wir uns gesehen haben, ­haben wir uns intensiv ausgetauscht, über unsere Familien, Freundinnen – und über unsere Gärten. Ich habe immer noch den Ableger von einer Wachsblume, den du mir vor 50 Jahren geschenkt hast.

Eine Freundschaftsblume.

Helga: Genau. Entscheidend ist auch, dass wir uns aufeinander verlassen können. Kurz nach der Geburt meines ersten Sohnes musste ich an den Nieren operiert werden. Du hast dir eine Woche Urlaub genommen, bist aus Berlin zu uns in die Nähe von Hannover gekommen und hast dich um das Baby gekümmert. Ich war so dankbar!

Gesine: Für mich war das selbstverständlich. Umgekehrt hast du mich genauso unterstützt. Vor meiner ersten Herz­operation, 1988, hatten alle Angst um mich. Du bist eine Woche zu mir gekommen, da war ich sehr glücklich. Es hätte unsere letzte Woche sein können.

Helga: Ich denke, Freundschaft heißt, füreinander da zu sein, auch über Distanzen hinweg.

Gesine: Und es heißt, sich die Treue zu halten, zu zeigen, dass man am anderen hängt. Ich finde, Treue ist nicht nur in der Partnerschaft wichtig.

"Mit einer Freundin gibt es nicht die alten Rivalitäten und Rollen wie unter Geschwistern"

Heißt Freundschaft auch, zu respektieren, dass die Freundin ein anderes Leben führt als man selbst?

Helga: Ja, auch das. Vielleicht musste ich das erst lernen.

Ist Freundschaft ein bisschen wie eine Pflanze, die man hegen und päppeln muss?

Gesine: Ganz sicher. Das heißt nicht nur Anrufe, Briefe, ­kleine Geschenke, sondern vor allem: liebevoll ­nachhorchen, wie es der anderen geht, sich wirklich für sie interessieren, sich nicht um die eigene Achse drehen.

Helga: Für mich ist ganz wichtig, dass man einander ­zuhören kann. Sini war immer eine gute Zuhörerin.

Gesine: Das kann ich auch über dich sagen, Helga, wir waren in der Hinsicht immer auf Augenhöhe.

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Ihr seid mit Schwestern aufgewachsen. Was kann einem die Freundin geben, das einem die Schwester nicht gibt?

Helga: Mit einer Freundin ist es unbelasteter. Da gibt es nicht die alten Rivalitäten aus der Kindheit, die Rollen, die man hatte. Ich musste als Älteste immer die Vernünftige sein.

Gesine: Genau, man schleppt nicht so viel mit sich rum. Zum Beispiel war meine jüngere Schwester immer ­neidisch auf mich, das hat sie mich von klein auf spüren lassen. In unserer Kindheit hieß es immer: Lass mal Sini machen, die kann das schneller. Das hat die Beziehung zu meinen beiden Schwestern belastet. Ich denke, eine Freundin wählt man sich, eine Schwester kann man sich nicht aussuchen.

Ehrlich sein

Es gibt eine Reihe von Mythen über die Freundschaft. ­Einer davon lautet: Freundinnen sollen keine Geheimnisse voreinander haben.

Gesine: Ich glaube, man muss sich nicht alles sagen. Es gibt Dinge, die die Freundin verletzen könnten.

Helga: Das denke ich auch. Aber wenn man konkret gefragt wird, sollte man möglichst ehrlich sein.

Ein Beispiel?

Helga: Wenn du mich auf deinen Mann angesprochen ­hast, war ich ehrlich und habe dir gesagt, dass ich mich etwas unwohl mit Uli fühle, ich fand ihn oft sehr ironisch.

Gesine: Das fand ich natürlich schade. Er hat eine ­besondere Art, aber meint es nicht böse. Ich weiß ihn zu nehmen, wir haben ein sehr enges Verhältnis. Deinen Mann mochte ich immer gern.

Hat es eure Freundschaft belastet, dass Helga mit ­deinem Mann nicht warm wurde?

Gesine: Ich denke schon. Wir haben wenig zu viert gemacht.

Helga: Ich finde das auch schade, noch dazu, da wir vor ein paar Jahren von Hamburg nach Neustadt an der Wein­straße gezogen sind, ganz in eure Nähe. Leider sind wir nicht mehr so beweglich, seit Ernst Heinz an Demenz erkrankt ist.

Gesine: Wir sprechen häufig darüber, und ich versuche, dich ein bisschen aufzubauen.

Helga: Ich weiß. Du hast mir viele Ratschläge gegeben und es sicher gut gemeint. Ich liebe meinen Mann und möchte ihm beistehen. Aber keiner kann nachvollziehen, wie es wirklich ist, Tag und Nacht mit jemandem zusammen zu sein, der an Demenz leidet, der deprimiert ist und immer dieselben Fragen stellt. Am Anfang fühlte ich mich ein bisschen unverstanden von dir, Sini, und das hat mich traurig gemacht. Mittlerweile habe ich aber das Gefühl, dass du genauer nachfragst und meine Situation besser nachvollziehen kannst – das tut mir gut.

Gesine: Ich bin froh, dass du das jetzt so offen sagen kannst.

Schafft Offenheit Nähe?

Gesine: Auf jeden Fall.

Schmerzen - aber überwiegend Schönes

Viele Menschen haben eine Art Lebensmotto, das ihnen durch schwierige Zeiten hilft. Habt ihr so etwas?

Gesine: Mir hat früher jemand ein Gedicht von Goethe ins Poesiealbum geschrieben: "Alles geben die Götter, die unendlichen, / Ihren Lieblingen ganz, / Alle Freuden, die unendlichen, / Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz." Ich hatte einige Schmerzen in meinem Leben, aber doch überwiegend Schönes. Dazu gehört auch unsere Freundschaft.

Helga: Mein Wahlspruch ist ein Satz von Konfuzius: "Leuchtende Tage, nicht weinen, dass sie vorüber, lächeln, dass sie gewesen." Der Satz hilft mir gerade jetzt, im Alter, wo ich mit meinem Mann nicht mehr reisen kann und mir überhaupt ständig Sorgen um ihn mache.

Sprecht ihr miteinander auch über das Lebensende, den Tod?

Gesine: Über den Tod weniger, aber über das Alter. Meine Beine wollen nicht mehr so richtig, aber der Kopf funk­tioniert, das ist das Wichtigste.

Helga: Da sind wir uns sehr ähnlich, das Gehen fällt mir ebenfalls schwer, aber der Kopf ist noch einigermaßen in Schuss. Sonst könnten wir unsere Freundschaft wohl auch nicht mehr so gut pflegen. Wir telefonieren regelmäßig und schreiben uns Briefe, keine Mails. Es bringt doch mehr Spaß, einen Brief zu öffnen als eine Computer­nachricht.

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