Tränen gehören dazu. Und zwar nicht mal so eben eine weggedrückt. Sie müssen kreuz und quer übers Gesicht fließen, der Rotz sollte aus der Nase rinnen. Einen Gefühlsausbruch im koreanischen Seriendrama kann man nicht simulieren. Er muss so echt sein, dass auch draußen, in den Wohnzimmern, kein Auge trocken bleibt. Eine, die diese hohe Kunst beherrscht, ist Song-yi (Jun Ji-hyun). Sie ist die Heldin der Serie "My Love from the Star": eine hochprofessionelle und sehr egozentrische Schauspielerin, die vom Balkon ihres Luxusapartments in Seoul gern sich selbst auf dem riesigen Werbeplakat gegenüber betrachtet – das "Gesicht Asiens".
"My Love from the Star" ist schon ein bisschen älter, von 2013, gilt aber mit einem Mix aus hoher Romanze, Humor und Spannung heute noch als eine der gelungensten Serien aus der Republik Korea. In der Figur der Schauspielerin porträtiert sich die Kulturindustrie des Landes selbst. Song-yi ist mit ihrem schönen Gesicht, den coolen Luxuskleidern und der jungen Fangefolgschaft der Inbegriff von "Hallyu". So nennt man die Welle koreanischer Kultur- und Lifestyle-Exporte, die Ende der Neunziger zunächst über Ostasien und dann via Internet in den Westen schwappte. Hallyu – das sind Autos, Handys, Mode- und Kosmetikartikel, Videospiele, Popstars wie Psy ("Gangnam Style") oder die Boygroup BTS, derzeit eine der erfolgreichsten Bands des Planeten. Und natürlich Fernsehserien – sie haben dem Phänomen die Initialzündung geliefert.
Erotik der Nahaufnahme
Die frühen Erfolgsproduktionen waren Melodramen, Liebes- und Familiengeschichten, durcherzählte Miniserien von 16 bis 20 Episoden. Sie fanden bei den asiatischen Nachbarn nicht nur deshalb Absatz, weil sie zunächst vergleichsweise kostengünstig waren, sondern auch, weil sie sich innerhalb eines ähnlichen Werthorizonts bewegten. In vielen Ländern, auch in den arabischen Staaten, schreibt der Medienwissenschaftler Dal Yong Jin, finden die Zuschauer die amerikanische und die japanische Kultur "irrelevant für ihre Lebenswirklichkeit, sie fühlen sich unwohl mit der Betonung von Gewalt und Sex".
Fürs K-Drama charakteristisch sind dagegen schlichte Liebesszenen mit langen Spaziergängen, Treffen in kleinen Lokalen und einer traumhaft-entrückten Stimmung. Das K-Drama wird als besonders emotional empfunden. Auch wenn die Serien über die Jahre Action-, Fantasy- oder Science-Fiction-Elemente aufgenommen haben, ist das in der Tendenz noch richtig.
Typischerweise sieht K-Drama "edel" aus – das westliche Publikum könnte es als gelackt empfinden. Mit der Liebe zur glanzvollen Oberfläche korrespondierte lange eine gemessene Inszenierung, die Ausstattung und Darsteller zur Geltung bringt – Schärfenverlagerungen, milde Schwenks, symmetrische Kompositionen und Close-ups, Close-ups, Close-ups. Die lange, ununterbrochene Nahaufnahme ist geradezu ein Fetisch des K-Dramas: Man soll sehen, wie sich die Gefühle auf einem Gesicht entwickeln, wie jede Regung im Augenblick entsteht. Das kann in der Wirkung aufdringlich süß sein, es kann aber auch ans Erhabene rühren – die Erotik der Nahaufnahme, das Gesicht eines Menschen, das uns so nahekommt, als würden wir mit ihm im Bett liegen, ist schließlich das stärkste visuelle Mittel des Films.
Die Südkoreaner sind selbst stolz auf die "sanfte Macht", die ihre Kultur entfaltet. Nicht nur über Länder-, sondern auch über Systemgrenzen hinweg. Also im staatskapitalistischen China. Oder im autokratischen Nordkorea. Wie eine Politik der Annäherung via Dramaserie aussehen könnte, sieht man im Netflix-Hit "Crash Landing on You" (2019/20). Da wird eine Kaufhauskettenbesitzerin und Erbin eines umkämpften Familienkonzerns beim Paragliding in die demilitarisierte Zone zwischen den koreanischen Staaten geweht und von einem Offizier der Volksarmee aufgegriffen.
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Der attraktive, aber wortkarge Ri Jeong-hyeok (Hyun Bin) und seine kleine Truppe machen es sich zur Aufgabe, die konsumverwöhnte Yoon Se-ri (Son Ye-jin) nach Hause zu expedieren, im Verborgenen. In handlungsreichen, von Geheimdienstpolitik, Unternehmerkriminalität und Liebe getriebenen 16 Episoden, die ziemlich symmetrisch auf die Schauplätze Nord- und Südkorea verteilt sind, kommt es zu einem lebhaften Kulturaustausch. Nicht unwesentlich für die Verständigung ist die Tatsache, dass einer der jungen Soldaten ein glühender Fan illegal empfangener Fernsehprogramme aus dem nichtsozialistischen Bruderland ist: K-Drama als Länderkunde.
Schöne, nette Männer
"Am Ende verlieben sich Frauen immer in die Typen, die nett zu ihnen sind", heißt es in "Winter Sonata" von 2002, einer der populärsten K-Serien aller Zeiten. Der sehr nette, sehr normale Oberschüler, der das sagt, hat zwar bei seiner Kindergartenfreundin keine Chance mehr, als ein introvertierter, geheimnisvoller Konkurrent auftaucht. Aber an dem Satz ist etwas dran. Auffallend viele der erfolgreichen koreanischen Serien sind von Frauen für Frauen geschrieben – es sind Wunscherfüllungsfantasien. Die Protagonistinnen dürfen neurotisch, erfolglos, arm und sozial unbeholfen sein; in vielen Szenen fallen sie haltlos betrunken aus der Rolle.
An ihre potenziellen Lebenspartner werden dagegen strengste Maßstäbe angelegt. Anfangs können die sich schroff geben – das befeuert die Leidenschaft. Irgendwann aber entpuppen sie sich als in höchstem Maße fürsorglich und verschwenderisch im Ausdruck ihrer Gefühle. Der smarte, von sich eingenommene Jungunternehmer in "Strong Woman Do Bong Soon" (2017) verwandelt sich beim Anblick der Titelheldin, die puppenhaft niedlich ist, aber Captain America aus dem Ring prügeln könnte, regelmäßig in eine Pfütze der Rührung. Und in der Historienserie "Empress Ki" (2013) löst die Protagonistin bei zwei Monarchen Reaktionen zwischen höchstem innerem Tumult und kompletter Paralyse aus, dabei hätten die Männer gerade wirklich viel zu tun, Schlachten gewinnen zum Beispiel.
Was die äußeren Werte angeht, so braucht der Typ "charmant, aber unrasiert" gar nicht erst anzutreten. Liebhaber im K-Drama empfehlen sich mit Porzellanteint, gepflegtem Haar, Designerausstattung und einer scharfen, schmalen Silhouette: Es gibt kein Film- oder Seriengenre im Westen, in dem Männer so fabulös und offensiv als Objekt des weiblichen Blicks in Szene gesetzt werden. Wobei dieser Blick nie wirklich unter die Gürtellinie geht.
Das sanfte, "feminisierte" Männerideal der Serien – und übrigens auch der Popszene mit ihren hübschen, gendermäßig nicht so leicht einzuordnenden Boy-Stars – spricht vermutlich viele Mädchen und Frauen in der Post-MeToo-Ära an. Eher irritierend wirkt dagegen die koreanische Spielart des "Cinderella-Komplexes". Da sind auch viele gesellschaftlich überlegene ältere Männer unterwegs, die junge Frauen vom Druck der Unabhängigkeit "befreien". Sehr auffällig etwa in "Guardian – The Lonely and Great God (Goblin)" von 2016, einer in allen K-Drama-Hitlisten geführten Serie, die mit eleganter Fotografie und exzentrischen Figuren aufwartet: Der Titelheld, ein recht spezieller koreanischer Kobold, und Gevatter Tod teilen sich eine schicke Villa. Das Gefälle zwischen dem uralten, steinreichen, umfassend gebildeten Kobold und einer Oberschülerin, die ihn vom Fluch der Unsterblichkeit erlösen soll, ist so groß, dass es der Zuschauerin leise Schauer über den Rücken treibt.
Viel Haut ist nicht zu sehen; es scheint, als würden Koreaner:innen in Straßenkleidung ins Bett fallen
Alles in allem aber eröffnen koreanische Serien den Frauen durchaus ein Experimentierfeld. In historischen Geschichten tauschen Männer und Frauen Kleider und Körper. "Empress Ki" entwirft eine Frauenfigur von wahrhaft heroischem Format. Die Protagonistin arbeitet sich von einem Job als Bogenschütze bei den koreanischen Truppen – ja, als Mann – über das Konkubinat des mongolisch-chinesischen Kaiserhofs zur Alleinherrscherin hoch und reformiert das Reich. Kis programmatischer Satz fällt inmitten einer mörderischen Palastintrige: "Ich regle das."
Realistischer ist "Something in the Rain" (2018), eins der neuen zeitgenössischen Liebesdramen. Erzählt wird von einer Mittdreißigerin, die sich in den vier Jahre jüngeren Bruder ihrer Freundin verliebt – ein Tabu. Verschärft wird das Problem durch die Tatsache, dass Yoon Jin-ah, wie es für unverheiratete Frauen üblich ist, bei ihren Eltern lebt. Ihr Job als Filialmanagerin einer Coffeeshop-Kette gibt ihr keine Sicherheit; der alltägliche Sexismus – vor allem die Unsitte der verschwitzten, übergriffigen Arbeitsessen – setzt die weiblichen Angestellten unter Dauerstress. Dass die Protagonistin und ihr jüngerer Liebhaber Sex haben, ist klar. Viel Haut ist aber nicht zu sehen; es scheint, als würden Koreaner:innen in Straßenkleidung ins Bett fallen.
Überhaupt sind die Menschen im K-Drama sehr angezogen. Sie tragen gern fluffige Pullover mit Kragen bis zu den Ohren. Wollmäntel in allen Farben und Formen, aber immer so falten- und fusselfrei wie frisch von der Stange, sind geradezu ein visuelles Leitmotiv der modernen koreanischen Serie. Die Zugeknöpftheit hat Tradition und erstreckt sich nicht nur über die Wintersaison, die in Korea mit Winden aus Sibirien daherkommt.
An technischen Effekten sind die Macher:innen klassischer Dramen nicht sonderlich interessiert, auch nicht an spektakulärem Kampfgeschehen. Ins schier Unendliche zerdehnt erscheinen dagegen die Interaktionen der Figuren, die durch überraschende Handlungswendungen immer neu akzentuiert sind; es geht um die permanente Steigerung von Gefühlen, Erfüllung ist zweitrangig. Kurz gesagt: Der Weg ist hier das Ziel. Wie in der konfuzianischen Lehre, mit deren Einfluss Medienforscher die Popularität der koreanischen Serien in Ostasien erklären: Wertschätzung der Familie, Streben nach Menschlichkeit, das geordnete Kollektiv als Voraussetzung für die Freiheit des Einzelnen. Und so etwas wie eine pragmatische Gelassenheit angesichts der Wechselfälle des Lebens.
Korea hat eine turbokapitalistische Wirtschaft und ist kulturell stark US-amerikanisch geprägt
Wie weit das geht, ist aus der begrenzten westlichen Perspektive schwer zu sagen; manche Kritiker führen die Familienfreundlichkeit der K-Dramen schlicht auf den Einfluss der Firma Disney zurück. Klar ist aber: Es gibt hier noch die Guten und die Bösen, das moralische Zwielicht der amerikanischen Premiumserien ist ihnen fremd. Auf fernöstliche Philosophie und Spiritualität wird etwa in "Prison Playbook" immer wieder angespielt. Hier landet ein Baseball-Star auf dem Höhepunkt seiner Karriere wegen schwerer Körperverletzung im Gefängnis, wo er lernen muss, sich zu kontrollieren. "Hast du heute schon etwas Gutes getan?", tönt es aus dem Radio. Den Häftlingen wird allenthalben auf Plakaten versichert, dass man sich um ihre Familien kümmern werde, und dass es sich bei der Haft um eine Maßnahme handle, die der Gesellschaft nütze: "Glückliche Reform. Glückliche Bürger." Und als der Held beginnt, sich in sein Schicksal zu fügen, sagt einer: "Er ist wie Buddha." Eine Einstellung, die angesichts der Verteilungskämpfe im Knast-Mikrokosmos nicht leicht durchzuhalten ist.
Korea hat eine turbokapitalistische Wirtschaft und ist kulturell, nicht anders als Japan, stark US-amerikanisch geprägt. Ähnlich wie die Anime-Serien des Nachbarn sind K-Dramen von Motiven und Schauwerten durchdrungen, an die Zuschauer:innen aus dem Westen leicht anschließen können, vom Konsumverhalten bis zum Ideal der blassen Haut und extremen Schlankheit. Das macht koreanische Produktionen attraktiv für die neuen "transnationalen" Medienkonglomerate. Und es ist erstaunlich, dass das K-Drama jenseits der asiatischen Einflusszone so lange nur auf spezialisierten oder fanbetriebenen Internetportalen, im Verbund mit Manhwas – koreanischen Comics –, wahrgenommen wurde.
Inzwischen hat sich Netflix in großem Stil eingekauft, koreanische Produktionen boomen dort und haben andere ostasiatische Titel mitgezogen. Action- und Horrorelemente, Spezialeffekte und dynamische Kameramanöver lassen die schon lange nicht mehr kleinen Budgets explodieren. Der Sog des Westmarkts verändert auch die Inhalte und Atmosphäre der Serien: Nicht nur eine offensivere Erotik, auch extreme Horror- und Gewaltdarstellungen sickern ein – wie in der Comicadaption "Sweet Home" um eine Monsterpandemie oder dem neuen Super-Hit "Squid Game", in dem sozial Abgehängte in einem brutalen Gewinnspiel miteinander konkurrieren. Da stellen sich Fragen: Wirkt K-Drama als Frischzellenkur im Streamingprogramm – oder ist eine schleichende Assimilation im Gang? Sind die Systeme überhaupt kompatibel?
Das amerikanische Serienwunder, den Trend zum Episch-Komplizierten, hat der Kulturtheoretiker Fredric Jameson vor Jahren schon auf die wachsende Permissivität der westlichen Gesellschaften zurückgeführt: "Was einmal als pathologisch galt, als abweichende Geisteshaltung und unakzeptable Handlung – all das ist nun menschlich, allzu menschlich, und zwar in einer Weise, dass die Kategorie des Bösen oder des vollkommen Anderen nahezu geschwunden ist." Normative Gegensätze, von denen die Kunst Jahrhunderte lebte, haben sich aufgelöst, Tabuthemen gibt es nicht mehr. Damit scheinen auch die alten Serienstrukturen, Konfliktmuster und melodramatischen Formeln überflüssig geworden.
Sabine Horst
Womöglich macht vor diesem Hintergrund, im Reich der vollkommenen erzählerischen Freiheit, gerade die moralische Grundierung K-Serien heute für westliches Publikum verführerisch: ihr auf den ersten Blick gefälliges, aber irgendwie auch heilsames Beharren darauf, dass es Grenzen gibt, die überschritten, Werte, die verletzt werden können. Der Erfolg der Serien über die Fankreise hinaus legt jedenfalls nahe, dass es an der Zeit ist, das als "weiblich" und ein bisschen altmodisch geltende Melodrama zu rehabilitieren: von der Formel zur Form, die Konflikte in Emotion übersetzt, Handlungen unter dem Aspekt ihrer Wirkung betrachtet.
Im K-Drama schluchzen die Männer so überzeugend wie die Frauen. Und falls man einschlägigen Filmszenen trauen darf, dann kleben in Korea alle Geschlechter einträchtig vor dem Fernseher, wenn eine dieser glorreichen Liebesschmonzetten läuft. Auch die Serienproduzent:innen scheinen noch nicht vor dem Westzynismus kapituliert zu haben, sondern reichern geliehene Genremuster mit ihrem besonderen Stoff an. In der Horrorserie "Sweet Home" etwa besteht kein Zweifel daran, dass es selbst in der Apokalypse löblicher – übrigens auch klüger – ist, auf Mitgefühl und Solidarität zu setzen als auf die freie Konkurrenz: Niemand ist sicher, bevor alle sicher sind. Inmitten grässlicher Metzeleien kommt hier die Action abrupt zum Stillstand. Dann wird geweint, Rotz und Wasser, in Nahaufnahme, begleitet von Seufzern und Wimmern. Und das kann richtig schockierend sein.
Streaming/DVD
Die meisten erwähnten Serien laufen auf Netflix. "Strong Woman Do Bong Soon" und "Guardian/Goblin" gibt es bei Rakuten Viki – das Spezialportal für asiatische Serien ist eine gute Alternative für OmU-Fans. "Winter Sonata" ist nur als Import-DVD erhältlich.