"Äußerlich afrikanisch, innerlich deutsch"
Florence Brokowski-Shekete, Respektsperson im Schulamt Mannheim und doch nahbar
Matthias Purkart
Schulamtsdirektorin Florence Brokowski-Shekete
"Äußerlich afrikanisch, innerlich deutsch"
Wie aus einem nigerianischen Kleinkind eine deutsche Schulamtsdirektorin wurde
Tim Wegner
09.12.2020
14Min

Wollte sie wirklich dieses kleine schwarze Mädchen zur Pflege bei sich aufnehmen, so wie es ihr der evangelische Pfarrer vorschlug, damals im Februar 1969? Irmgard Brokowski hatte selbst keine Kinder, sie war 45, ledig, selbstständige Schneiderin und auch so schon gut ausgelas­tet – sie kümmerte sich um ihre Eltern und war engagiert in der Kirchengemeinde mit Kindergottesdienst und Kinderstunden. Außerdem: Was würden die ­Leute ­sagen? Wie sollte sie klarmachen, dass das nicht ihr "un­eheliches" Kind war?

Aber der Pfarrer wusste, und sie wusste es auch: Sie mochte Kinder, sie war gern mit Kindern zusammen. Und sie wusste, wie es war, ein sicheres Zuhause zu brauchen, sie war bei Kriegsende mit ihren Eltern aus dem damals deutschen Stettin geflüchtet, hatte Aufnahme gefunden in Buxtehude bei Hamburg. Ja, schon manch einer hatte abfällig "Polack!" zu ihr gesagt, aber überwiegend hatte sie Wohlwollen erlebt, auch Hilfsbereitschaft.

Also durfte das Kind zu ihr kommen, nicht ganz zwei Jahre alt war es. Verschüchtert kam es der Schneiderin vor und kränklich, eben "spack", so sagt man in Norddeutschland.

Baby "Flori" 1968. Ihre Eltern nannten sie allerdings Olatunde Gbolajoko Oluwadamilare

Wer Florence Brokowski-Shekete heute trifft, erlebt ­eine lebhafte Frau, die mit sanfter Stimme lustige und ­dramatische Begebenheiten aus ihrem Leben erzählen kann, allerdings auch von bitteren Erfahrungen. Einen langen Nachmittag hat sie chrismon berichtet. Noch mehr Details stehen in ihrem Buch "Mist, die versteht mich ja! Aus dem Leben einer Schwarzen Deutschen".

Das Kind stand im Flur und weinte

"Flori" wurde sie von der Schneiderin genannt. ­Eigentlich hatte das Kind von seinen Eltern die Namen ­Olatunde Gbolajoko Oluwadamilare bekommen. Nigerianische Namen, schwer auszusprechen für europäische Zungen. Deshalb hatte das Ehepaar Shekete noch einen ­europäischen Vornamen vorangestellt: Florence. Schließlich war das Kind in Deutschland auf die Welt gekommen, in Hamburg, dort lebten die Eltern. Der Vater studierte auf Bauingenieur, die Mutter lernte Diätassistentin. Einen Anspruch auf einen Krippenplatz gab es damals nicht, und die Eltern durften ihre Ausbildungen nicht schleifen lassen, sonst hätten sie ihre Aufenthaltsbe­rechtigung riskiert. Sie suchten Pflegestellen. Lang ging es nie. Nun war die Schneiderin dran. Die Eltern ver­sprachen, Pflegegeld zu zahlen.

Das Kind stand im Flur und weinte. Aus Heimweh, dachte die Schneiderin, sie wickelte das Kind und gab ihm zu essen. Das Kind hörte auf zu weinen. Noch am selben Tag sagte es "Mama" zu der fremden Frau, was der gar nicht recht war. Aber das Kind blieb dabei. Es gab auch eine deutsche Oma, eine Tante, einen Onkel, zwei Cousins und eine Cousine. Dass Flori eigentlich ein fremdes Kind war, störte die Familie nicht.

Die Schneiderin stellte ihr Leben komplett um. Was ihr nun tagsüber an Zeit für die Schneiderei fehlte, holte sie abends und nachts nach. In der nur 30 Quadratmeter großen Wohnung fand sich neben der Nähwerkstatt noch ein Platz auf dem Boden für die Decke mit Floris Spiel­sachen.

Die eigenen Eltern waren ihr zu laut

Am Freitag wollten die Eltern kommen und das Kind übers Wochenende zu sich holen. Sie kamen nicht. Nicht diesen Freitag, nicht den nächsten. Ein halbes Jahr lang ließen die Eltern nichts von sich hören. Und dann fingen die "Besuchsattacken" an, so empfanden Flori und ihre ­Mama das, wenn die jungen Eltern das Kind unange­kündigt mitnahmen. Flori wollte nicht mit, aber sie musste. Die Eltern waren ihr zu laut, zu temperamentvoll; es gab kein Spielzeug dort und Frühstück erst mittags, und ins Bett ging man nachts um zwei. War sie wieder zu Hause, schlief sie die folgenden Tage.

Die Eltern zahlten immer seltener Pflegegeld, schließlich gar keines mehr. Dennoch behielt die Mama das Mädchen. Sie brachte dem Kind bei, dass alle Menschen gleich sind. Und meist hatte Flori das Gefühl, tatsächlich genauso zu sein wie alle anderen auch. Manchmal sagten Menschen komische Dinge zu ihr. ­Etwa, dass sie sicher mal Ärztin werden wolle, um "ihren Leuten zu Hause" zu helfen. Wie, fragte sich Flori dann, waren Mama oder Oma etwa krank? Oder ein Mitschüler wollte wissen, ob sie "überall so schwarz" sei. Das machte ihr Angst. Dann wurde ihr bewusst, dass sie anders aussah. "Äußerlich afrikanisch, innerlich deutsch", dieser Zwiespalt habe sich wie ein roter Faden durch ihr Leben ge­zogen, sagt sie heute.

"Nur nicht auffallen!"

"Nur nicht auffallen" – das war eine wichtige Regel im Leben der Mama. Natürlich fielen die beiden in der Kleinstadt Buxtehude auf, die hellhäutige Frau mit dem dunkelhäutigen Kind, das wusste die Mama. Also ­musste man sich extra gut benehmen. Flori trainierte sich ein ­besonders höfliches und zuvorkommendes Verhalten an, sie hoffte, dadurch ihre Hautfarbe zu kompensieren.

Es war eine behütete Kindheit, bis in die dritte ­Klasse. Dann kam das Frühjahr 1976, Flori war fast neun: Die ­Eltern gingen zurück nach Lagos, in die damalige Hauptstadt von Nigeria. Sie nahmen nicht nur ihre beiden ­kleinen Söhne mit, die sie einige Jahre nach der Tochter bekommen hatten, sie nahmen auch Flori mit.

1979 ist Flori endlich wieder bei Hildegard Brokowski in Buxtehude, ihrer "Herzensmama"

"Das überlebe ich hier nicht", sagte das Mädchen zur Mutter, als es aus dem Flugzeug stieg und nicht atmen konnte, so nass und schwer wie die Luft war. Dann der Empfang durch diese brüllende Menschenmenge, alles ­irgendwie Verwandte. Sie fühlte sich ausgesetzt und trotz all der Menschen sehr einsam. Und dieses Gefühl würde sie nicht mehr verlassen, solange sie in Nigeria war.

Es war nicht der geringe äußerliche Komfort, der ihr zu schaffen machte – zu Hause in Buxte­hude hatten sie auch keine Dusche, man wusch sich aus einer Schüssel, in Lagos nahm man einen Eimer mit in eine abgehängte Ecke im Hof. Es war der Mangel an Wärme, an Behutsamkeit, an Verständnis. "Vielleicht hätte mir nichts gefehlt, wenn ich immer nur bei meinen Eltern gelebt hätte. Aber dieser harte Kontrast . . . Dass meine Mutter mir einfach das schöne Kleid wegnahm, das Mama mir genäht hatte, und der Tochter einer Freundin schenkte; dass ich nie in den Arm genommen wurde." Liebten die Eltern das Mädchen denn nicht? "Doch, bestimmt, auf ihre Weise, nach ihren Möglichkeiten", antwortet die erwachsene Florence, "aber ich spürte diese Liebe nicht."

"Eine Ohrfeige. An meinem Geburtstag."

Sie war sprachlos. Nicht nur weil sie weder die Stammessprache Yoruba noch die Amtssprache Englisch konnte. Sondern vor allem, weil niemand ihre Gefühle verstand. "Ich weiß noch, ich hatte Geburtstag, alle waren fröhlich, nur ich nicht. Mein Vater fragte, was los sei, ich hab nichts geantwortet, dafür gab er mir eine Ohrfeige. An meinem Geburtstag. Ich hab mich einfach nicht wohlgefühlt, in nichts. Ich passte da schlichtweg nicht hin, weder in das Land noch in die Familie." Sie galt als das schwarze Schaf der Familie – ach nee, verbessert sie sich, als das weiße Schaf der Familie, mit dem nichts anzufangen war, das verzärtelt war, nur Deutsch sprach, Heimweh hatte – ein komisches Kind.

Die Eltern schickten sie auf die deutsche Schule in Lagos, wie auch immer sie das Schulgeld dafür auftrieben. Erst viel später erfuhr Flori von der Tradition, dass mindestens ein Kind einen guten Beruf erlernen sollte, um später die gesamte Familie zu unterstützen. In der deutschen Schule war sie das einzige Kind mit schwarzen Eltern, die anderen waren zum Beispiel Kinder von deutschen Botschaftsangehörigen.

"Nein, ich singe keinen Jazz": Schulamtsdirektorin Florence Brokowski-Shekete über Alltagsrassismus

Flori kam in der Schule nicht mit, sie war immer müde. Kein Wunder, sie und die Geschwister ­mussten die Hausarbeit machen, frühmorgens, spätabends, die Mutter delegierte alles. "Ich hatte den Eindruck: Sobald ein Kind laufen konnte, war es erwachsen und konnte helfen." In Europa war das lange Jahrhunderte ja auch so gewesen. Flori musste die vierte Klasse wiederholen.

Keiner merkte, wie schlecht es ihr ging. Bis sie eine neue Klassenlehrerin bekam, eine junge Deutsche. Die ­wunderte sich über Floris Aufsatz zum Thema "Mein schönster Traum" – darin schrieb das Kind, dass es am liebsten bei seiner Mama wäre. Merkwürdig, dachte die Lehrerin, das Kind lebt doch bei seiner Mama! Sie nahm das be­kümmerte Kind beiseite – und erfuhr von dem ganzen Elend.

Flori wurde immer schwächer

Diese Lehrerin schaffte es, den Eltern ­respektvoll, aber doch deutlich zu vermitteln, dass ihre Tochter in Nigeria nicht überleben würde. Flori war oft krank, hatte schnell hohes Fieber, wiederkehrend Bandwurmbefall, wurde immer schwächer.

Die Eltern rangen lange mit sich. Endlich, dreieinhalb Jahre nach der Abreise aus Deutschland, ließen sie die Tochter zurück zur Schneiderin. Aber sie stellten Be­dingungen: Sommerferien in Nigeria verbringen! Abitur machen! Ärztin werden! Dann die Geschwister nachholen und ihnen ebenfalls eine deutsche Ausbildung finanzieren! Gut, von dieser letzten Erwartung erfuhr Flori erst später. Die Eltern liehen sich mal wieder Geld zusammen für das Flugticket. Es war eine Investition in ein Projekt, das nie eine Rendite abwerfen sollte. Aber das wusste ­damals noch niemand.

Endlich wieder zu Hause! Die Mama hatte beim Jugendamt ihre Pflegeerlaubnis erneuert, und auch Flori, 1979 mit zwölf fast schon Teenager, knüpfte an früher an und schob den Puppenwagen durch die Straßen. Ihre Umgebung fand das nicht altersgemäß, ließ sie aber gewähren.

Mit viel Fleiß holte sie den schulischen Rückstand nach. Aber dann nahten die nächsten Sommerferien und damit der Flug nach Nigeria. Er musste nur noch organisiert ­werden. Die Eltern riefen an, immer wieder – aber ent­weder waren Flori und die Mama nicht zu Hause, oder die Telefonverbindung zwischen Buxtehude und Lagos war derart schlecht, dass man die Eltern leider, leider einfach nicht verstehen konnte. Flori war nie wieder in Nigeria.

Sie lebten von der Hand in den Mund

Ihr Leben bei Mama fühlte sich normal für sie an. ­Allerdings lebten sie "von der Hand in den Mund". Anfang der 80er Jahre ließen sich immer weniger Frauen Kleidung schneidern, die Mama nahm mehrere Putzstellen an. Käse kam nur hauchdünn geschnitten aufs Brot, beim Metzger fragte man nach Wurstabschnitten, und wenn kein Geld da war, um den Ölofen zu befeuern, schalteten sie den Backofen für eine Weile an. Flori konnte auch nicht wie die Gleichaltrigen am Tanzkurs teilnehmen.

Aber was sie bedrückte, war etwas anderes: Sie merkte immer deutlicher, dass sie eigentlich gar nicht dazugehörte. Dass viele Familien in Buxtehude Distanz zu ihr hielten. Familien, die sich als nett, gläubig, tolerant und weltoffen gaben, sich dann aber offensichtlich doch nicht vorstellen konnten, einen solchen Menschen (mit dieser Hautfarbe) in ihrer Mitte zu haben. Zumal Eltern von ­Jungen. Die schienen überfordert von ihrem Äußeren, so Floris Eindruck. "Ich machte den Menschen Mühe. Das war mir unangenehm. Ich begann, unauffällig zu werden, um so wenig mühevoll wie nur irgend möglich zu sein. Ich erlegte mir einen inneren Gaststatus auf und verhielt mich wie ein Gast: abwartend, dankbar, niemals fordernd."

Sie wird 16, sie gilt immer noch als Nigerianerin, sie braucht eine Aufenthaltserlaubnis. Dafür müsste Mama nachweisen, dass sie genug verdient für sich und Flori. Doch das amtlicherseits geforderte Einkommen ist viel zu hoch. Auf einmal ist von einer "Ausweisung" die Rede. Am Ende bürgt der Kirchenvorstand für Flori, dass sie niemals dem deutschen Staat auf der Tasche liegen werde. Sie darf hierbleiben, erst einmal. Aber nicht arbeiten.

Die Geldspenden sind ihr furchtbar peinlich

So manches Mal erhalten sie und ihre Mama nun Geldspenden. Und wenn sie mit dem Kirchenchor einen Ausflug machen und man in eine Gastwirtschaft einkehrt, werden die Essen für "Brokowskis" übernommen. Flori ist sehr dankbar dafür. Andererseits ist es ihr furchtbar peinlich. Zum Teil wissen auch die Kinder, dass ihre Eltern bürgen oder spenden.

Und sie hat das Gefühl, dass Gegenleistungen für die Spenden erwartet werden. Eigentlich hatte sich die ­Mama ja schon jahrzehntelang ehrenamtlich in der ­Kirche ­engagiert, jetzt ist sie 60 und gesundheitlich nicht mehr gut beisammen, sie hat Probleme mit dem Rücken, ­stolpert häufig, zumal in der Dunkelheit – aber nun soll sie die Gemeindebriefe austragen und dem Küster beim Fegen der großen Kirche helfen. Flori liest der Mama die De­mütigung, die sie empfindet, am Gesicht ab.

Schulamtsdirektorin Florence Brokowski-Shekete im Video-Talk mit Yared Dibaba, TV-Moderator und chrismon-Herausgeber, über Rassismus, Oromo und Plattdeutsch

Die Mama ist immer öfter niedergeschlagen, liegt noch im Bett, wenn Flori von der Schule kommt. Das junge Mädchen hilft ihr – im Haushalt, beim Gemeindebriefaustragen, bei den Putzstellen. Und steht doch selbst unter Druck: Nur für ein Studium wird sie hierbleiben dürfen, nicht für eine Ausbildung. Sie muss das Abitur schaffen! Jede verhaute Klassenarbeit ist eine Katastrophe für sie.

"Verkäuferin, das hätte zu Flori gepasst"

Aber endlich, sie ist dem Abitur nahe, erteilt ihr die Ausländerbehörde eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung, und jobben darf sie nun auch. Das erste Mal ein Gefühl von Sicherheit! Und von Freiheit. Florence, wie sie nun, in der Oberstufe, genannt wird, verdient sich Geld durch Nachhilfestunden – und ändert ihren Kleidungsstil: Sie trägt immer seltener die von Mama geschneiderten Röcke mit Rüschen und tiefen Falten, dafür immer öfter Hosen.

Sie macht Abitur. Erstaunlich finden das wohl manche in der Kleinstadt. Die erwachsene Florence ahmt den Tonfall nach: "So, so, die Flori. Also, Verkäuferin, das hätte gepasst. Die Mutter war ja Schneiderin. Jetzt also Abitur, aha, interessant!"

1993, mit Mitte zwanzig, als junge Lehrerin

Aber so richtig aus ihrem braven Kokon kommt sie erst durch ein Praktikum im Freizeitheim Buxtehude. Da ist sie unfreiwillig, sie wollte in einen Kindergarten, nicht zu Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen. Aber die ­Jugendlichen tun ihr gut, sie sind offen und ehrlich, ­nennen sie "Flo", bringen ihr Darts, Billard, Tischkickern bei und sagen Sätze wie: "Guck mal, der Kakao sieht aus wie Muttermilch von Flo!" Da konnte sie gar nicht beleidigt sein, sie musste lachen, und sie lacht heute erneut darüber: "Auf so einen Satz muss man erst mal kommen! Natürlich ist das rassistisch ohne Ende, aber der Jugendliche meinte das nicht rassistisch, sondern er wollte eine Verbindung zu mir."

Und dann: die Erwachsenenadoption

Dann studiert sie, Hauptschullehrerin will sie werden, mit den Fächern Deutsch, Evangelische Religion und Englisch. Nach der letzten Vorlesung an der Hochschule in Lüneburg hetzt sie zum Bahnhof, um noch nach Buxte­hude zu kommen. Partys sind nicht drin. Die Mama wartet doch. Sie hätte gar nicht das Geld, um auszuziehen, das Studium verdient sie sich damals selbst.

Und dann ist Florence 21 und also auch nach nigerianischem Recht volljährig. Sie und die Mama bean­tragen die Erwachsenenadoption, ihre "Herzensmama" ist nun auch offiziell die Mama. Die Amtsrichterin hält als ­neuen Nachnamen einen Doppelnamen für angemessen: ­Brokowski nach der Mama, Shekete nach den leiblichen ­Eltern. Nun kann sie die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen und in der Folge auch BAföG, damals als Darlehen.

Die junge Frau entfaltet ihre Flügel, so empfindet sie es. Sie zieht zur Fortsetzung ihres Studiums nach Heidelberg – und fällt endlich mal nicht auf, so international wie die ­Menschen dort sind, zumindest in der Fußgängerzone: die Tourist:innen und die Angehörigen der US-Armee und ihre Familien.

Brathähnchen mit Rotkohl und Klößen

Natürlich telefoniert sie oft mit der Mama, besucht sie, dann gibt es ihr Lieblings­essen: Brathähnchen mit Rotkohl und Klößen, danach Marmorkuchen. Es schmerzt sie, wie einsam die Mama ist. Sie fühlt sich schuldig. Sie hilft ihr im Haushalt, er­ledigt viel für sie, überweist regelmäßig Geld – aber sie kann nicht nach Buxtehude zurückziehen. Und die Mama will nicht nach Heidelberg.

Einiges bekommt die Mama noch mit von Floris Werde­gang: dass sie den Führerschein macht, ein eigenes ­Auto hat, Mutter wird, alleinerziehend ihr Staatsexamen besteht, wegen des Mangels an freien Schulstellen sich selbstständig macht und in großen Firmen Deutsch und Englisch unterrichtet sowie Interkulturelle Kommunika­tion. Die Mama ist stolz. Und sie ist sehr gerne Oma.

Florence Brokowski-Shekete: Mist, die versteht mich ja! Aus demLeben einer Schwarzen Deutschen. Orlanda-Verlag, 2020, 22 Euro

Eines Abends – es war beruflich ein Tag mit heraus­fordernden Situationen gewesen, die sie aber alle bestand – ruft die Tochter in Buxtehude an und sagt: "Mama, ich möchte dir danken für alles, was du mir für mein Leben mitgegeben hast!" Wenige Wochen später stirbt Irmgard Brokowski, im November 1998, mit 74. Buxtehude ist seitdem keine Heimat mehr.

Ist sie eigentlich auch ihren leiblichen Eltern dankbar? Hm, ja doch, nämlich dafür, dass die Eltern dem Rat der Lehrerin in Lagos folgten: das Mädchen wieder bei seiner Pflegemutter in Deutschland leben zu lassen. Und sie bewundert die Eltern für einiges: wie mutig sie waren, wie schnell sie Deutsch lernten! Gern schaut sie sich die alten Fotos an: "Sie waren intelligente, anmutige, schöne Menschen. Besonders meine Mutter war wirklich eine Augenweide. Und beide sehr charmant." Manchmal telefonieren sie kurz.

Nicht zur Beerdigung des Vaters

Vor zwei Jahren starb der Vater. Sie flog nicht zur Bestattung nach Lagos. Warum nicht? "Man könnte denken, ich sei kaltherzig, bin ich aber nicht. Denn zur Beerdigung meines deutschen Onkels bin ich gefahren, zu ihm hatte ich ja eine Beziehung, auch zur Beerdigung meiner Tante."

Schließlich wird sie doch noch Lehrerin an einer ­Schule, und sie liebt es zu unterrichten. Warum sie dann auch noch Schulleiterin wird? "Weil immer wieder ­Menschen an mich geglaubt haben", sagt sie. Die melden sie zum Beispiel zu einer "Fortbildung für führungswillige Lehr­kräfte" an. Dabei kann sie es sich lange gar nicht vor­stellen, Schulleiterin zu sein. "Ich wollte nie vorne stehen, ich hab mir immer hinten einen Platz gesucht, wenn ich einen Saal betrat. Aber dann kam Obama – ein Schwarzer, der Präsident werden wollte! Irgendwann war ich bereit, in die erste Reihe zu gehen."

Sie bewirbt sich auf gleich vier freie Schulleitungs­stellen und erwartet gar nichts. Am Ende hätte sie bei allen vier anfangen können. Ein paar Jahre später die nächste Stufe: Sie wird die Chefin von vielen Schulleitungen. Sie arbeitet nun im Schulamt in Mannheim. Mittlerweile darf sie sich sogar Schulamtsdirektorin nennen.

Ein Spaziergang war diese Karriere nicht. Jetzt, da ihr Buch herausgekommen ist, erhält sie Mails wie diese: "Ich muss ehrlich zugeben, auch ich war damals sehr erstaunt zu sehen, dass ausgerechnet Sie Schulleiterin wurden."

Inzwischen, mit 53 Jahren, hat sie sich ausgesöhnt ­damit, immer aufzufallen. Wer freundlich fragt, bekommt sogar eine Kurzbiografie von ihr mitgeteilt. Außer sie ist gar zu sehr in Eile. Und wenn eine Großmutter an der Ampel fragt, ob der Enkel ihre Hand anfassen darf, um zu prüfen, ob die dunkle Farbe abgeht, dann darf er. Für viele andere, das weiß sie, wäre das eine Grenzüberschreitung.

Manches macht sie fassungslos

Aber auch sie kennt Grenzen. Es macht sie fassungslos, wenn Menschen mit allerbester Bildung sie in der Pause einer Fortbildung ansprechen und nicht glauben können, dass sie Lehrerin ist, sie sei doch bestimmt "eine ­Praktikantin aus Timbuktu". Oder wenn Leute meinen, eine dunkelhäutige Frau an der Seite eines hellhäutigen Mannes könne nur ein Urlaubsmitbringsel sein oder ­gekauft. Dass sie mindestens einmal die Woche zu hören bekommt, wie erstaunlich gut sie Deutsch spreche – das wiederum perlt an ihr ab.

Sie hat viel von der Mama übernommen, aber was ­andere Leute über sie denken, das ist ihr im Laufe ihres Lebens dann doch ziemlich gleichgültig geworden.

Produktinfo

Florence Brokowski-Shekete: "Mist, die versteht mich ja! Aus dem Leben einer Schwarzen Deutschen." Orlanda-Verlag, 2020, 22 Euro