Was? Du willst ins Kloster? Diese Frage haben sie alle zu hören bekommen von ihren Kindern, von Freundinnen, von den Ex-Ehemännern. Passiert ja nicht alle Tage: Frauen, die sich in ihren Berufen verwirklicht und Kinder großgezogen haben, die in großen Städten glücklich waren, packen ihre Sachen, ziehen ins kleine Walsrode in der Lüneburger Heide und werden evangelische Stiftsdamen.
Eva von Westerholt hat vor einem Jahr noch als Managerin in der Immobilienbranche in Frankfurt am Main gearbeitet, sie ist mit Schriftstellern und Theaterleuten befreundet, verpasste keine Ausstellung und kein Konzert. Jetzt ist sie in Walsrode Äbtissin. An diesem kühlen Morgen im Juli steht sie um halb acht in pinker Seidentunika in ihrer Küche im Äbtissinnenhaus und kocht Eier. Der kleine Frühstückstisch steht etwas provisorisch in der Diele, im Flur stapeln sich Kisten, der Umzug war erst kürzlich, das Haus ist noch nicht ganz fertig renoviert. Aber das schwarz-weiße Kuhfell liegt schon auf dem Wohnzimmerparkett, auch der Designersessel und die Antiquitäten haben ihren Platz gefunden.
Vor der Reformation gab es auf dem Gebiet des heutigen Niedersachsen rund 200 Klöster. Davon sind 15 Frauenklöster als evangelische Damenstifte erhalten geblieben. Walsrode ist eines der ältesten und wurde im 10. Jahrhundert gegründet, wohl damals schon als Damenstift. Unverheiratete adelige Frauen und Patriziertöchter sollten in der klosterähnlichen Anlage standesgemäß leben können, ohne sich wie in klassischen Nonnenklöstern durch eine strenge Klausur und Armutsgelübde einschränken und lebenslang binden zu müssen. Im 13. Jahrhundert wurde zwar auch in Walsrode eine Ordensregel mit Klausur, Stundengebet und anderen religiösen Verpflichtungen eingeführt, aber auch danach durften die Fräulein reisen, Geschäfte tätigen und weiter über persönliches Eigentum verfügen. Einige sollen sich sogar Mägde gehalten haben.
Was für die Seele
Eva von Westerholts Vorgängerinnen verwalteten jahrhundertelang riesige Ländereien, Wälder, Dutzende Höfe, Schenkungen und Stiftungen. In den Klostergebäuden, die im Mittelalter vermutlich weitläufiger und mächtiger waren, lebten früher bis zu 80 Menschen. Heute mutet die Anlage wie ein Landgut an: sechs größere und kleinere, maximal zweistöckige Gebäudekomplexe aus dem 18. Jahrhundert, umgeben von einem großen Garten mit hohen alten Linden und Walnussbäumen, buschigen Haselnusssträuchern, Rosen, Blühstreifen, kleinem Teich. Momentan leben hier sechs Frauen, Platz wäre für zwölf. Einige Wohnungen stehen leer, weil die Bewohnerinnen in Pflegeeinrichtungen umgezogen oder gestorben sind.
Eva von Westerholt ist schmal und zart und rührt das Brötchen auf dem Frühstücksteller kaum an. Sie spricht zugewandt, mal mit höherer, mal mit tieferer Stimme, eine Mischung aus kapriziös und bodenständig. Die Stellenausschreibung für die Äbtissin hat sie auf einem Onlineportal gesehen, wo Mitarbeiter für Nonprofit-Organisationen gesucht werden. Sie ist jetzt 60, geschieden, Sohn und Tochter sind aus dem Haus, sie suchte eine neue Aufgabe. Nicht nur Zahlen und Immobilien, etwas Sinnvolleres sollte es sein, eine echte Bestimmung und was für die Seele. Sie hatte sich gerade an der Uni Frankfurt für Theologie und Kunstgeschichte eingeschrieben.
Komfortables Leben
Die tausendjährige Tradition des Klosters! "Absolut faszinierend, sich in diesen ganz großen Kontext zu stellen", sagt Eva von Westerholt. Die Lüneburger Klöster haben Kriege, Plünderungen und Brände überstanden, sie haben die Reformation überlebt und die Säkularisierungswelle 1803. Besitz und Vermögen gingen nach der Reformation allerdings auf den Landesherrn über, der sich im Gegenzug verpflichtete, den Lebensunterhalt der Damen zu finanzieren.
Heute kommt die Klosterkammer Hannover, eine Sonderbehörde des Landes Niedersachsen, dieser Verpflichtung nach. Die Klosterkammer ist die größte nicht staatliche Waldbesitzerin in Deutschland und die größte Erbbaurechtsausgeberin. Sie finanziert den Erhalt der Gebäude und Kunstschätze und ermöglicht den Stiftsdamen ein komfortables Leben.
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Die Zwei- bis Drei-Zimmer-Wohnungen in den backsteinfarbenen Barockhäusern aus dem 18. Jahrhundert sind geschmackvoll saniert. Die Frauen leben darin mietfrei und zahlen lediglich die Nebenkosten. Wenn Bewohnerinnen pflegebedürftig werden, können sie ins betreute Wohnen im eigens darauf spezialisierten Kloster Marienwerder umziehen. Sollte die Rente dafür nicht ausreichen, hilft die Klosterkammer aus. Voraussetzung dafür, dass man in eines der Klöster einziehen und "Konventualin" werden darf, ist, dass man alleinstehend und evangelisch ist. Und bereit, sich mit den anderen zu einer "Lebensgemeinschaft auf christlicher Grundlage" zu verbinden und "kulturellen, kirchlichen und sozialen Zwecken zu dienen". So steht es in der Klosterordnung, die jede unterschreiben muss.
Christlich leben und arbeiten
Diese Verbindung aus gutem christlichen Leben und Arbeiten und dass jede für sich lebt und doch gemeinsam mit den anderen, "reizte mich", sagt Eva von Westerholt. Sie kam her, lernte die Bewohnerinnen kennen, wohnte eine Woche zur Probe, grübelte, will ich das, kann ich das – und ließ sich im Dezember 2019 von den Stifts-damen zur neuen Äbtissin wählen. Im Prinzip sei sie eine Art Geschäftsführerin und geistliche Vorsteherin, sagt Westerholt.
Brötchen, Quark und Eier sind gegessen, zwei Stunden sind vergangen, mehrmals hat sich das Handy mit Domglocken-Klingelton gemeldet, eine Etage tiefer wartet die Sekretärin mit Briefen, sie muss jetzt los. Man sieht sich am Nachmittag.
Bis Eva von Westerholt Äbtissin wurde, trafen sich die Stiftsfrauen sonntags zum Gottesdienst. Ansonsten ging jede mehr oder weniger ihre eigenen Wege. Westerholt will die Gemeinschaft und auch das christliche Profil stärken. Sie führte Rituale ein. Jetzt treffen sie sich mittwochnachmittags in der Klosterkapelle, zünden eine Kerze an, lesen einen Psalm und sprechen darüber, beten ein Vaterunser. Anschließend essen sie zusammen.
Heute hat Gisela Cames im Gemeinschaftsraum im Äbtissinnenhaus Suppe gekocht und den ovalen Esstisch mit einer dezent gemusterten Tischdecke, feinem Porzellan und Silberbesteck gedeckt. Cames, 75, feuerrote Haare, vier Kinder, Anwältin aus Berlin, besichtigte 2003 mit einer Reisegruppe die Lüneburger Klöster. "Als ich hier durchs Tor ging, wusste ich: Das ist es", sagt sie. So oder so ähnlich ging es auch den anderen Bewohnerinnen, die an diesem Sommerabend um den Tisch sitzen. Sie sind alle über 70, wollten im Alter nicht alleine leben und vereinsamen oder womöglich den Kindern zur Last fallen; vier sind geschieden, eine zog ein, nachdem ihr Mann gestorben war.
Sie siezen sich - auch nach Jahren
"Frau Krause, können Sie mir bitte das Salz geben?" "Gern, Frau Dr. von Westerholt" – Die Frauen wohnen beisammen, einige seit Jahrzehnten, und begegnen sich doch mit Distanz. Als sie 1990 hier angekommen sei, habe ihr die frühere Äbtissin die Hand zum Handkuss entgegenstreckt, erzählt Thea Bosse, 89. "Ich stamme aus einem ganz normalen Berliner Haushalt und war doch sehr erstaunt." Den Handkuss haben die Frauen abgeschafft – Thea Bosse war dann selbst jahrelang Äbtissin –, das Siezen haben sie beibehalten. Weil es Respekt schaffe und es einfacher mache, Konflikte zu lösen. "Man kann sich hier nicht fallen lassen mit seinen Macken", sagt Gisela Cames. "Wir sind kein Therapiezentrum", stellt Elisabeth Krause klar.
Nach dem Essen holen alle ihre Terminkalender aus der Tasche: Besprechung des Dienstplans. In der Klosterordnung heißt es, dass die "Kunstschätze des Klosters zu betreuen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen sind." Konkret bedeutet das: Die Stiftsfrauen bieten Führungen an und öffnen den Garten, die Kapelle und den großen Versammlungsraum, den Remter, für Besucher und Besucherinnen. Wer, wann und wie oft muss im Dienstplan festgelegt werden.
Über viele Jahrhunderte seien Schlösser und Klöster Wirtschaftsbetriebe gewesen, täglich hätten sich die Schlossbewohner mit den Menschen aus den Dörfern ausgetauscht und zusammengearbeitet, hatte Eva von Westerholt beim Frühstück erzählt. Erst später habe man sich abgeschottet. Heute gebe es Walsroder, die noch nie im Kloster gewesen seien – obwohl die Anlage direkt an das Städtchen mit seinen Cafés, Restaurants und Geschäften angrenzt.
In den Ort hinein öffnen
Westerholt will das ändern und das Leben im Stift mehr als bisher mit dem Ort vernetzen. Konzerte, Lesungen, Familien- und Kindernachmittage auf dem Klostergelände sollen überregional Aufmerksamkeit bringen. Andere Klöster haben sich geöffnet, indem sie zu Meditationswochen und Einkehrtagen einladen, in Fortbildungskursen religiöses Wissen vermitteln oder zusammen mit anderen Institutionen gesellschaftspolitische Seminare veranstalten.
Seitdem Westerholt Äbtissin ist, stehen die Tore immer offen. Wer mag, kann sich im Garten und im Langen Haus, einem der Wohntrakte, umsehen. Den Sommer über hat die benachbarte Kirchengemeinde die Sonntagsgottesdienste im Klostergarten gefeiert. Für die Stiftsfrauen bedeutet der Westerholtsche Öffnungskurs, dass sie im Sommerhalbjahr nicht mehr nur wie bisher jeden Nachmittag zwei öffentliche Führungen anbieten, sondern sich auch den ganzen Sonntag dafür freihalten. Eine empfängt Gäste am Haupttor, eine in der Kapelle, eine im großen Versammlungssaal, dem Remter. "Wenn Besucher reinkommen, bitte Handy und Bücher zur Seite legen, um zu signalisieren, dass wir ansprechbar sind", ermahnt Eva von Westerholt und schaut streng über den Brillenrand.
Weniger Freiheit, mehr Dienste
Aber Frau Cames hat sich mit Freunden am Sonntag zum Mittagessen verabredet, das muss sie nun absagen, weil es im Dienstplan am Sonntag noch Lücken gibt. Frau Anders hat Tochter und Enkel zu Besuch und muss sehen, wie sie das mit dem Besuchsdienst in der Kapelle vereinbaren kann. Und auch Frau Krause schaut mit Stirnrunzeln in den Kalender: Sie muss wohl die Feldenkrais-Stunde im Turnverein absagen, weil ja jetzt donnerstags immer Bibelstunde ist. Die Damen murren ein bisschen, aber alle wissen: Die Klosterpflichten gehen vor. Und was die Äbtissin bestimmt, wird gemacht. Der Konvent darf nur beraten.
Da nun jeden Tag Besucher aufs Gelände kommen, ist es auch nichts mehr mit Sonnenbaden im Bikini im Garten. Und ihre Wäsche müssen die Stiftsfrauen neuerdings drinnen trocknen. Auch das passt nicht jeder.
Zur christlichen Tradition gehört, dass sich die Bewohnerinnen sozial engagieren, je nach persönlicher Neigung und Gesundheit. Frau Krause hat früher im Rheinland als Arbeitspädagogin in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet und in Walsrode jahrelang die Ferienfreizeiten der Lebenshilfe organisiert. Da das coronabedingt momentan nicht möglich ist, arbeitet sie bei der Telefonseelsorge mit. Andere engagieren sich im Hospiz, bei der Tafel oder im Kirchenvorstand der örtlichen Gemeinde.
Eine Grenze der Öffnung gibt es aber doch, da sind sich alle einig: Männer müssen draußen bleiben. "Frauenklöster waren immer Schutzräume, das sollen sie auch bleiben", sagt Eva von Westerholt. Und Frau Krause: "Irgendwann hat man einfach genug von Männern." Falls das eine doch anders sieht, sich verliebt und eine Beziehung eingehen will, steht das Tor offen. Mit einem Partner im Kloster zusammenzuziehen, ist nicht möglich. Aber jede kann das Stift jederzeit wieder verlassen.
Evangelische Frauenstifte
Frauen- oder Damenstifte sind religiöse Lebensgemeinschaften für evangelische Frauen, die keine Gelübde ablegen und in einer klosterähnlichen Anlage leben. Die früher meist adligen Frauen heißen auch Konventualinnen, Kanonissen oder Chorfrauen. Nur wenige Stifte haben die Säkularisierung überlebt. Die 15 Klöster, die zur Klosterkammer Hannover gehören, sind deshalb eine Besonderheit. Die rund 100 Bewohnerinnen mit einem Durchschnittsalter von 75 Jahren leben mietfrei, auf Gemeinschaft und Religiosität wird Wert gelegt. Dazu gehören die sechs Lüneburger Klöster (Walsrode, Medingen, Wienhausen, Ebstorf, Lüne, Isenhagen), die von der Klosterkammer finanziert werden und sich selbst verwalten, die fünf Calenberger Klöster, die von der Klosterkammer finanziert und verwaltet werden, sowie vier freie Stifte, die nur unter Rechtsaufsicht der Kammer stehen.
Im Kloster Stift zum Heiligengrabe in Brandenburg lebt ein kleines Frauenkonvent nach dem Leitsatz der Zisterzienserinnen "ora et labora". Im ehemaligen Damenstift Kloster Zehdenick starb 1970 die letzte Stiftsdame, heute wohnen hier "kirchennahe Personen".
Im Hamburger Damenstift St. Johannis wohnen 70 evangelische Hamburgerinnen – aber nicht mietfrei. In den vier Schleswig-Holsteinischen Damenstiften St. Johannis vor Schleswig, Uetersen, Preetz und Itzehoe lebt nur noch in Itzehoe eine Konventualin. Im Kloster Neuenwalde in der Nähe von Cuxhaven wohnen drei betagte Frauen in einer ansonsten als Bildungszentrum genutzten Anlage. Einige Damenstifte heißen zwar noch so, sind aber evangelische Seniorenheime, beherbergen Standesämter oder vermarkten ihre Wohnungen über den Immobilienmarkt.