Nimmt die graue Mehrheit der Alten in unserer Gesellschaft den Jüngeren die Luft zum Atmen? So will es scheinen. Die Rentner haben Konjunktur. Sind sie die Armen der Nation? Oder, im Gegenteil, zu mächtig geworden? Jede Wette: Die öffentliche Debatte wird bald verebben, ohne uns klüger gemacht zu haben. Und im Wahljahr wieder aufflammen, weil die Alten die Vielen sind.
Nach den Gesetzen der schnellen Medien steht die Konjunktur für diesen Sommer fest: Der Armen- und Reichenbericht wird die Kinderarmut zum nächsten öffentlichen Hype machen. Das Ergebnis wird in beiden Fällen gleich sein: heftige Debatte, geringe Selbsterkenntnis. Und nach der großen Aufregung wird der übliche Rückfall in die öffentliche Gleichgültigkeit stattfinden. Gegenüber den Alten, die sich die Wertschätzung der Gesellschaft verdient haben. Gegenüber den Kindern, die ohne Empathie und Hilfsbereitschaft der Leistungsträger keine Chance haben.
Die "Wahrnehmungslücken" gehören zu den bedenklichsten Medienparadoxien
Die Medienwelt hat einige Paradoxien hervorgebracht. Die "Wahrnehmungslücken" gehören zu den bedenklichsten. Medien sind so schnell wie nie und allgegenwärtig. Aber die Fähigkeit der Gesellschaft zur Selbsterkenntnis nimmt ab. Es ist ein beängstigendes Phänomen unserer Demokratie geworden, dass wichtige Themen des Mainstreams ein Stiefmütterchendasein in der Öffentlichkeit führen oder so behandelt werden, dass die Menschen sich selbst und ihre Probleme darin nicht wiedererkennen.
Die Kluft zwischen der "öffentlichen" und der "veröffentlichten" Meinung ist nicht neu.AmStammtisch wurde immer anders geredet als in Leitartikeln geschrieben. Die Medien durften den Stammtisch verachten, die Politik musste ihn beachten. Es entsteht eine neue Spaltungslinie in der Gesellschaft: Die Menschen, deren privates oder berufliches Leben von langsamen Prozessen bestimmt wird, können kaum oder gar nicht mithalten. Denn Zeit, Geduld, Einfühlungsvermögen muss aufwenden, wer Menschen beschützt, pflegt, betreut. Doch das öffentliche Tempo verlangt Zeit und eine Verfügbarkeit, die Eltern, Lehrer, Polizisten oder Krankenpfleger nicht haben.
Städte wie Berlin, Hamburg, Frankfurt hängen mit ihrem Tempo nicht nur die Unterschichten ab, die längst ins elektronische Ghetto des Privatfernsehens verbannt worden sind, sondern den ganz normalen Mainstream. Der Blick auf die öffentlichen Angelegenheiten wird bestimmt von den Milieus und Schichten, die teilhaben können an einer Umtriebigkeit, deren Events, Partys, Kongresse kaum realer sind als die Medien, die überall den Ton angeben. Für normale Bürger wird diese Öffentlichkeit immer unzugänglicher. Wer am Wochenende das Klassenzimmer renovieren muss, zeigt Einsatz fürs Gemeinwohl. Zeit für die Partizipation an der öffentlichen Meinungsbildung hat er nicht.
Kein Zufall, dass nach der hessischen Landtagswahl "G8", das achtstufige Gymnasium, zum Beispiel dafür wurde, wie eine lange unbeachtete Unzufriedenheit erst durchdringt, wenn sie Wählerstimmen kostet. Ähnliche Effekte gibt es bei beinah allen Fragen, die mit Schule, Bildung, Hochschulen, Integration zu tun haben. Offiziell brummt der Reformprozess. Es hört und sieht allerdings Geschichten aus ganz verschiedenen Welten, wer darüber mit Eltern, Lehrern, Studenten, Schülern spricht.
Modernisierung auf dem Rücken von Schülern, Lehrern und Erziehern
In der Politikerwahrnehmung und in den Politikteilen der Zeitungen ist das Glas halbvoll. Der Modernisierungsprozess läuft auf Hochtouren, die zentralen Kategorien heißen Effizienz und Konkurrenzfähigkeit. Wer auf sich hält, verbreitet ein Bild der Betriebsamkeit. Die Praktiker erleben dasselbe anders. Reformen im Bildungswesen sind überfällig - seitdem aber tatsächlich modernisiert wird, geschieht das oft auf dem Rücken von Schülern, Lehrern und Erziehern. Sie müssen im Eiltempo das Kleingedruckte nachliefern, für das Politiker, die Erfolge vorweisen müssen, weder Sinn noch Zeit haben. Und ausbaden, wenn im Eifer des Gefechts unausgegorene Experimente gemacht werden.
An den Türen der Bildungseinrichtigen kleben überall neue Etiketten: "Ganztagsschule" oder "Modul", "Case-Manager" oder "Bachelor".Wer durch diese Türen gehen muss, hat oft das Gefühl, einem Etikettenschwindel aufzusitzen. Es ist höchste Zeit für Ganztagsschulen. Aber Deutschland ist das einzige Land, das für viele Schüler eine Ganztagsschule ohne Mittagessen und pädagogisches Konzept, dafür mit Mathematik in der achten Stunde einführt. Schön, dass die Studiengänge, die Studenten zu den neuen Bachelor- und Master-Abschlüssen führen sollen, manchem Professor einen zusätzlichen Job in den Akkreditierungsgremien verschafft haben. Weniger schön, wenn die neuen Studiengänge in den altbekannten überfüllten Seminaren stattfinden. Oder, schlimmer noch, schon wieder reformiert werden müssen, bevor die ersten Studenten ihren Abschluss machen.
Die Politik umgeht solche Widersprüche großräumig. Das kann sie sich nur leisten, weil die mediale Debatte sie nicht erkennt. Denn die Nöte der Betroffenen entziehen sich den Gesetzen der medialen Öffentlichkeit gleich doppelt. Wer für Kinder, Studenten, Integrationssuchende - oder Alte, Behinderte, Suchtkranke - etwas tun will, kann dies nur in langsamen Prozessen, die voller Irrtümer und Widersprüche stecken, denen mit Geduld und Hartnäckigkeit begegnet werden muss. Nichts aber entzieht sich der beschleunigten Medienwelt mehr als: Langsamkeit. Sie kann im Fernsehen nicht sichtbar gemacht werden, sie langweilt in Schlagzeilen und Artikeln. Medienleute suchen nach dem schnellen Erfolg oder dem finalen Scheitern. Wegen ihrer öffentlichen Aufgaben fehlt Eltern, Polizisten, Krankenschwestern die wichtigste Voraussetzung für die Teilnahme an dieser Öffentlichkeit, eben die Zeit.
Die Gesellschaft spaltet sich zwischen umtriebigen Städtern und Normalbürgern
Der Zugang zu Informationen und Nachrichten steht so vielen Menschen offen wie noch nie. Das Fernsehen ist praktisch allen zugänglich. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis das Internet eine ähnliche Verbreitung haben wird. Doch wer hört dort wem zu, wer kann sich Gehör verschaffen, wer gibt den Ton an? Kommunikation in der Mediengesellschaft ist für die Politiker, die mit sensiblen Stoffen wie Vertrauen und Glaubwürdigkeit handeln:
Learning by Doing, Versuch und Irrtum. Und für die Bürger: Glückssache. Menschen und Institutionen, Mitglieder von Parteien, gemeinnützige Organisationen fühlen sich von der Politik im Stich gelassen, weil die öffentliche Meinung ihre Anstrengungen, Probleme und Konflikte nicht mehr widerspiegelt.
Auch die medialen Urteile über den öffentlichen Dienst haben sich viel weniger geändert, als dieser es verdient. Im Allgemeinen gelten Beamte und Angestellte der Verwaltungen als Inbegriff deutscher Reformunfähigkeit, als sicherheitsverwöhnt und unbeweglich. Wird es konkret, ist die Klage über diese überregulierte Bürokratie jedoch schnell vergessen. Denn jeder heruntergefallene Dachziegel wirft die Frage auf, ob die Vorschriften ausreichen oder mehr Kontrolle durch die Behörden nötig ist.
Es sind ganze Berufsgruppen, die auf ähnliche Art inWahrnehmungslücken verloren gehen. Polizisten, Hausärzte oder Lehrer sitzen an ihren jeweiligen Stammtischen und fühlen sich als Prügelknaben der Nation, die ausbaden müssen, was Politik und Medien gemeinschaftlich versäumen.