Nach Moskau fuhren wir früher durch die Ukraine, ohne anzuhalten. Sie war nur ein Teil der großen Sowjetunion, lag weit ab vom Zentrum, nichts Wichtiges schien hier zu passieren. Sicher, wir hatten von einer Region namens Galizien gehört, jenem Schmelztiegel der Kulturen, der in der Literatur so oft beschworen wurde. Aber dass dieses im Krieg zerstörte Wunderland im Westen der Ukraine lag, entging uns damals. Galizien schien mit keinem real existierenden Ort mehr verbunden. Jetzt grenzt die Europäische Union an die Ukraine, und plötzlich erscheint auch Galizien wieder auf unserer inneren Landkarte. Ob sich noch etwas finden ließe von dessen Besonderheit, dem Verschmelzen östlicher und westlicher Traditionen, von der starken Religiosität der Menschen und der Offenheit für das Fremde?
Pastellfarbene Häuserfassaden, römische Brunnen, Glockentürme und Kirchenkuppeln. Wir könnten in Rom sein oder in Paris, nur bröckeliger, verwitterter wirkt die Altstadt von Lwiw, dem früheren Lemberg. Einen Moment lang scheint die Stadt seltsam vertraut, im nächsten abweisend fremd. Alle paar Meter dringt aus einer der vielen Kirchen leiser Gesang. An der Seite der lateinischen Kathedrale schlüpft ein Mann im Anzug unter den Plastikvorhang, der die Skulptur "Christus im Grab" während der Restaurierung verbirgt, schmückt den steinernen Leib mit Rosen, küsst ihn von Kopf bis Fuß. An einem gewöhnlichen Sonntag findet man die Gottesdienste so überfüllt wie andernorts nicht einmal zu Ostern. Vor der Reise haben wir Berichte vom September 1989 gelesen. Damals geschah in dieser Stadt eine stille Revolte, von der im Westen kaum jemand Notiz nahm. 300 000 Menschen demonstrierten für die Wiederzulassung der verbotenen griechisch-katholischen Kirche. Um eine ganz besondere Kirche geht es da, eine Art Ost-West-Kirche, die zwar dem Papst untersteht, aber den byzantinischen Ritus praktiziert. Die orthodoxen Geistlichen, die vor der Wende das Sagen hatten, empfanden viele West-Ukrainer als verlängerten Arm Moskaus. In ihrer Kirche sollte Ukrainisch gesprochen werden. Gotteshäuser wurden besetzt. So erlebte die griechisch-katholische Kirche, die in der Sowjetzeit im Untergrund existierte, ihre Auferstehung. In der Dominikanerkirche geht die Messe zu Ende. Erwartungsvoll reihen sich Jugendliche in eine lange Schlange ein, um sich von Vater Inokentij mit einem feinen Pinsel Salböl auf die Stirn tupfen zu lassen. Der Barockbau beherbergte zur Sowjetzeit das Museum für Atheismus, jetzt ist er Anlaufpunkt für Studenten und Berufsanfänger.
"Warum kennt man uns bei euch so wenig?",
Nach der Messe versammeln sich 30 von ihnen zum Abendgespräch mit dem großen, freundlichen Priester. Frauen in Stretchjeans, junge Männer im Jackett, die aussehen, als seien sie auf dem Weg zur Tanzstunde. Ein Student liest den Brief einer Frau aus diesem Kreis vor, die seit kurzem illegal in Spanien arbeitet. Der Job in einer Restaurantküche, fast keine Freizeit, der erste Discobesuch, Kopfschmerzen von zu viel Marihuana. Plötzlich dreht sich das Gespräch um Westeuropa und die Ukrainer. "Warum kennt man uns bei euch so wenig?", bricht es aus Vater Inokentij heraus. "Hat man denn bei euch vergessen, dass Jaroslaw der Weise Europa vor den Tataren bewahrt hat, schon im 11. Jahrhundert? Warum werden unsere Leute bei euch eigentlich wie Menschen zweiter Klasse behandelt?" Wir schweigen.
Europa baue eine neue Berliner Mauer, diesmal an der Grenze zwischen Polen und der Ukraine, sagt ein junger Mann scharf. "Müsste nicht der gemeinsame Glaube die Leute aus West und Ost miteinander verbinden?", fragt Vater Inokentij. Von der Politik verspricht er sich wenig. Dem Glauben hingegen traut er eine Menge zu. So sehen es viele und gerade die Jüngeren: Religion ist die wichtigste Ressource, das Einzige, worauf Verlass ist. Sehr jung sieht Myhajlo Kryzun aus, bartlos. Sein uralter Volkswagen hoppelt übers Kopfsteinpflaster. Der 22-Jährige studiert Elektrotechnik und verkauft Handys, aber jetzt bringt er uns zum Frühlingslager des Pfadfinderbundes Plast außerhalb der Stadt. Nein, Russisch spricht er nicht. Das heißt: Nur wenn es gar nicht anders geht. Myhajlo trägt ein olivgrünes Pfadfinderhemd mit grauem Halstuch. Das Schulterwappen zeigt einen sehr aufrechten Reiter auf einem Schimmel. Es ist Bogdan Chmelnizkij, legendärer Kosakenführer, der im 17. Jahrhundert einen Aufstand gegen die polnische Herrschaft anführte und einen ukrainischen Staat begründete, aber auch Pogrome gegen Juden anzettelte.
Europa baue eine neue Berliner Mauer, diesmal zwischen Polen und der Ukraine
Warum haben sie sich ihn als Vorbild gesucht? "Der beweist: Wir Ukrainer können nicht nur Sklaven im eigenen Land sein, sondern auch führen!" Über den Führern aber steht Gott. "Liebe Gott und die Ukraine, das ist das erste Gebot von Plast", erklärt Myhajlo. Gott und Vaterlandsliebe in einem Atemzug für unsere Ohren klingt das gefährlich, wie eine Losung aus vergangener Zeit. Aber damit hält sich Myhajlo in seinem Enthusiasmus nicht auf, er rattert alle 14 Gebote der Pfadfinder herunter, mitsamt Erklärungen, wie einen Katechismus. Dabei wirkt der junge Mann gar nicht so regelversessen. Nur wie einer, der in einer unübersichtlichen Gesellschaft klare Prinzipien sucht. Vor dem Camp von 650 Pfadfindern hebt sich ein Schlagbaum. Auf dem breiten Streifen zwischen den Mädchen- und den Jungenzelten zeigen uns drei Mädchen mit leuchtenden Augen ihre für einen "Totem- Wettbewerb" kreierten Werke: eine Vogelscheuche, Kränze aus weißen Blumen, bemalte Holzteile. Solomija, Oxana und Marija sind 13 und 14 Jahre alt und mit ihren gefärbten Zöpfchen, engen T-Shirts und mit Schnüren verzierten Jeans nicht von Altersgenossinnen im Westen zu unterscheiden. Sie erzählen von zu Hause. Abwechselnd haben ihre Mütter und Väter in Portugal, Griechenland und Polen gejobbt. "Das macht uns kein bisschen traurig", Marija reckt stolz das Kinn, "das macht uns stärker." Was wünschen sich die Mädchen am meisten? "Dass Visa in andere Länder leichter zu kriegen sind", sagt Solomija. Die anderen nicken. Dann treten sie ihre Wache neben der blau-gelben ukrainischen Fahne an. "Das müssen wir nicht, es ist uns eine Ehre", ruft uns Oxana zu. Irgendwie fügt sich beides ineinander: Der Drang fortzugehen scheint genauso groß wie der Stolz auf das eigene Land.
Der Drang fortzugehen scheint genauso groß wie der Stolz auf das eigene Land.
Während bis zu sieben Millionen Ukrainer in der Fremde arbeiten, schießen daheim Denkmäler für den Freiheitsdichter Taras Schewtschenko, den Sohn leibeigener Bauern, aus dem Boden. Enthusiasten von der Jugendorganisation Moloda Prosvita reisen unter dem Motto "Du sollst dich nicht schämen, Ukrainer zu sein" in den Osten des Landes, um den Russisch sprechenden Landsleuten das Ukrainische sowie volkstümliche Weihnachts- und Osterspiele beizubringen. In manchen dieser Spiele versucht noch wie in alten Zeiten die Figur eines schlitzohrigen Juden die Zuschauer zu übervorteilen. Aber selbst an der Universität, wo uns Dozenten begeistert von dem Volksbrauch erzählen, findet das niemand antisemitisch. á Was außer ein paar Museen, Tempeln und Friedhöfen ist geblieben von Galizien, dem Schmelztiegel der Völker? Von Lwiw, das der österreichische Schriftsteller Joseph Roth einst rühmte: "Die Stadt demokratisiert, vereinfacht, vermenschlicht, und es scheint, dass diese Eigenschaften mit ihren kosmopolitischen Neigungen zusammenhängt." Anfang des 20. Jahrhunderts machten Juden etwa ein Drittel der Bevölkerung von Lwiw aus. Im November 1941 wurden sie im Norden der Stadt in ein Ghetto gezwungen, von 1942 bis 1943 wurden 130000 allein im Vernichtungslager Belzec ermordet. Heute gibt es wieder zwei kleinere jüdische Gemeinden, aber viele der Jüngeren wandern aus. Gleichzeitig gibt es eine Gegenbewegung, einen Pilgerzug tausender frommer Juden aus Israel und Amerika. Seit einigen Jahren kommen sie, um ihre heiligen Orte in der Ukraine wieder aufzurichten und dort zu beten. Wir erfahren von der Ankunft einer Gruppe strenggläubiger chassidischer Juden aus Israel. Vier Männer mit langen, schwarzen Bärten, schwarzen Hüten und Anzügen warten vor einem Hotel in Lwiw. Ihr Reiseführer warnt uns, sie würden den Kontakt zu Fremden, insbesondere Frauen, eher meiden. Dürfen wir sie begleiten? Nein. Dann noch ein Blick. "Im eigenen Wagen?", fragen die Männer auf Jiddisch. Wir nicken. Wir folgen dem Kleinbus, der die Landstraße in Richtung polnische Grenze nimmt. Frauen führen ihre einzige Kuh an der Leine zum Fressen auf eine Grasfläche. Ein paar Kilometer weiter beackert ein Bauer sein Feld mit Pferd und Pflug, durch die Wiesen stolzieren Störche. Für Momente glauben wir uns in ein anderes Jahrhundert versetzt.
Eine merkwürdige Gesellschaft hat sich zusammengefunden: der russische Busfahrer, die betenden Juden, deutsche Journalisten
Aber die frommen Besucher haben sich einiges vorgenommen: In vier Tagen durch Galizien, im Eiltempo. Am Rand eines Ortes hält der Bus vor einem Müllhaufen, in dem ein Hund herumwühlt, dahinter befindet sich eine eingestürzte Synagoge. Die Männer laufen um die Synagoge, springen zurück in den Bus. Nach kurzer Fahrt halten wir an einem riesigen, mit einem neuen Zaun umsäumten Feld, auf dem nur drei Grabsteine stehen. Die Männer legen ihre Gebetsriemen an, stellen sich im Halbkreis um einen der Grabsteine, den einer mit der Hand berührt. Sie beginnen, den Oberkörper wiegend, Gebete zu murmeln, jeder in seinem Rhythmus. Eine merkwürdige Gesellschaft hat sich da zusammengefunden, der russische Busfahrer, die betenden Juden, deutsche Journalisten, sonst weit und breit niemand. Aber die Erinnerung an das versunkene Galizien wird plötzlich lebendig. Als das Beten leiser wird, kommen wir näher, und einer wirft uns ein paar Erklärungen zu: "Das war ein großer Rebbe gewesen, der Rebbe von Belz mit seinen beiden Söhnen. Gott hat ihm die Kraft gegeben zu heilen. Er hat vielen Frauen geholfen, die keine Kinder bekamen." Vor der Umzäunung raucht er hastig eine Zigarette. Eine Nachbarin bekommt ein paar Dollar zugesteckt. Sie soll auf den Friedhof achten. In der Kleinstadt Showkwa gehen die Männer auf den leeren Marktplatz zu einem gewöhnlichen Feldstein. Sie sagen, dass hier 280 Juden von Deutschen erschossen worden seien. Sie erinnern sich an die Opfer, aber eigentlich sind sie gekommen, weil auch hier ein Rabbi gelebt hat. Wir stehen verwirrt daneben: Mit Menschen, die zum Gedenken an das Grauen des Holocaust herkommen, hatten wir gerechnet, das schon. Aber diese Frommen sind Pilger, sie wollen sich mit ihren Vorvätern vereinen und innere Stärkung erfahren. Bei der Synagoge in Showkwa stehen Leute aus dem Ort und gucken stumm. "Der ganze Ort voller Juden", ruft eine Frau aus. Die vier Männer in Schwarz drehen sich nicht um. Am Abend des vierten Tages werden sie wieder in Jerusalem sein. Wir kehren um nach Lwiw. Denn anderntags erwarten uns im griechisch-katholischen Priesterseminar am Stadtrand von Lwiw die 187 Priesterkandidaten des Gebiets, Schulabgänger mit Einheitshaarschnitt in knielangen schwarzen Gewändern. Sie versammeln sich gerade zum Mittagessen im Speisesaal. Der Präfekt läutet die Glocke, und durch den Speisesaal braust ein Ostergesang, begleitet von einem Hospody Pomylyj (Herr, erbarme dich). Der Präfekt lädt uns zum Essen ein. Es gibt Plow, Reis mit Fleisch und Roter Bete. In den oberen Räumen arbeiten Kandidaten unter Heiligenbildern am Computer. Warum wollen sie Priester werden? "Um Gott zu dienen", antworten mehrere, erstaunt über eine solche Frage. Weit mehr junge Männer wollen Priester und Mönche werden, als Plätze zu vergeben sind. Die Ost-West-Kirche wächst, verfügt schon über 70 Kirchen in der etwa 800 000-Einwohner-Stadt Lwiw. Am Stadtrand werden neue Kirchen gebaut, ebenso in den Dörfern. Sogar eine neue Kathedrale ist geplant womit der alte Streit mit den Orthodoxen in eine neue Runde geht, denn auch sie wollen eine neue Kathedrale bauen. Angeblich aber verweigert ihnen die Stadt ein passendes Gelände, es kam zu Protesten. Haben die Kirchen denn nichts Wichtigeres zu tun als neue Gotteshäuser zu bauen in einer Gesellschaft, wo in jedem Müllcontainer, an dem wir vorbeikommen, Menschen nach Essen wühlen? Wo jeder, der kann, sich im Ausland mit Gelegenheitsjobs durchschlägt? Wo manche Alte nur die staatliche Mindestrente von umgerechnet sechs Euro im Monat bekommen und Eltern drei Euro Kindergeld? Myroslaw Marynowytsch, Vizerektor der Katholischen Universität, lächelt leise, als wolle er sagen: Wer so redet, kommt von weit her, aus einem Land mit hohem Lebensstandard, wo aber Gemeinden zusammengelegt und Kirchen geschlossen werden. In der Ukraine jedoch, wo sie gerade eine neue Gesellschaft bauen, da bräuchten die Menschen dringend neue Kirchen, sagt er. Wer aufbauen will, brauche eine geistige Heimat.
"Europa versteht uns nicht."
Überall finden wir offene Türen, und zugleich spüren wir immer deutlicher die Kluft, die uns von den hiesigen Erfahrungen und Perspektiven trennt. Als ahne er unsere Gedanken, benennt der Rektor, zugleich Mitbegründer von Amnesty International in der Ukraine, ein grundlegendes Problem: "Europa versteht uns nicht. Europäer verstehen nicht, dass wir uns einfach nicht zwischen West und Ost entscheiden können, weder politisch noch kirchlich. Wir leben ein Dazwischen, wir leben beides." Wahrscheinlich hat er Recht: Das Volk hat sich seine Kirchen zurückerobert, damals, 1989, und jetzt holt es sich dort, was ihm am meisten fehlt: Zuversicht. Großmütter kommen am Arm ihrer Enkelinnen zur Messe, knien nieder zwischen tätowierten, kurz geschorenen Jugendlichen in Jeans. Der Chor singt das Glaubensbekenntnis, und leise, ohne Anstrengung, fallen die Gläubigen ein. Junge Frauen mit langen, offenen Haaren halten die bestickten Kirchenfahnen, heben und senken sie im Rhythmus der Liturgie. Mit Hingabe pflegen die Menschen das Brauchtum. Draußen auf dem Marktplatz ziehen am späten Nachmittag polnische Touristengruppen vorbei, vom Neptunbrunnen weiter zur Armenischen Kirche mit ihren leuchtenden Ornamenten in Lila, Blau und Grün. Längst haben sie die benachbarte WestUkraine, die lange Zeit zum polnischen Staat gehörte, als Einkaufs- und Reiseland entdeckt. Und allmählich wandelt sich der Landstrich auch für Besucher aus dem Westen vom unbekannten Territorium zum Geheimtipp, zu einem Stück Europa, sehr fremd und manchmal auch fremd vertraut.