Protestieren ist das Mindeste
Protestieren ist das Mindeste
Dorothea Pluta
Protestieren ist das Mindeste
Was kommt nach Putin? Olga Borisova vom feministischen Punk-Kollektiv Pussy Riot spricht über den Krieg gegen die Ukraine und die Zukunft Russlands.
Valeska Achenbach
04.09.2023

Wie kommt es, dass du so mutig bist? Steht dahinter eine bestimmte Geschichte?

Olga Borisova: Es geht nicht um Mut. Es geht darum, dass du schlicht zu viel Gleichgültigkeit erlebt hast und es leid bist, selbst gleichgültig zu sein. Dann kommt der Moment, wo du anfängst, kritisch auf die Welt zu blicken und die Nachrichten zu hinterfragen. Dann beginnst du, das System zu begreifen.

Mit 18 war ich ein Jahr lang Polizistin und habe das System von innen kennengelernt. Irgendwann hatte ich genug und war enttäuscht und empört. Ab einem bestimmten Punkt möchtest du einfach etwas dagegen unternehmen oder mindestens protestieren, weil du nichts anderes tun kannst.

Welchen Einfluss haben eure Projekte auf Frauen und junge Menschen in Russland?

Vor ein paar Jahren organisierten mehrere Mitglieder von Pussy Riot ein Stipendium für Aktivist*innen. Wir förderten damals drei Menschen, die sich aktivistisch, journalistisch oder per Videokunst mit dem Thema häuslicher Gewalt auseinandersetzten, mit jeweils 1000 Euro.

Olga BorisovaCraig Stennett / Getty Images

Olga Borisova

Olga Borisova, 28, ist seit Mitte der 2010er Jahre aktives Mitglied der politischen Protestkunst-Gruppe Pussy Riot. Zusammen mit Mascha Alekhina, die nach dem "Punk Gebet" in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale zwei Jahre in Lagerhaft verbrachte, setzt sie sich für politische Gefangene in Russland ein. Olga übernahm die kreative Redaktion von Maschas Buch "Tage des Aufstands", in der diese ihre Erlebnisse verarbeitet. Unter künstlerischer Leitung von Taso Pletner, Pussy-Riot-Unterstützende mit ausgezeichneter Dokumentartheater-Expertise, entstand das Konzertprogramm für die Riot-Days-Tour. Das Interview fand nach deren Europa-Abschlusskonzert Ende Mai in Görlitz statt.
Valeska Achenbach

Karin E. Lason

Karin E. Lason studierte Tiermedizin in Berlin und Paris, bevor sie transdisziplinär promovierte. Sensibilisiert für gute wissenschaftliche Praxis und Fake News will sie die Dinge genau verstehen, recherchiert gerne hintergründig und investigativ. Themenfokus der Wissenschaftsjournalistin ist One Health – samt Menschenrechten.

Es ging darum, Zahlen zu erheben und deutlich zu machen, dass wir ein Gesetz ­brauchen, um Frauen vor Missbrauch in der Ehe zu schützen. Denn: Wir haben ein ­solches Gesetz nicht. Wir hatten es einmal. Aber 2017 fing Russland damit an, häusliche Gewalt zu entkriminalisieren. Vorgeschlagen wurde das damals sogar von einer Frau. Sie war der Meinung, dass die Familie heilig sei und die Regierung sich nicht in familiäre Angelegenheiten einmischen sollte. Wenn mich also mein Ehemann schlagen würde, wäre das ­keine Straftat, sondern eine Ordnungswidrigkeit. Die Tat würde nur mit einer Geldstrafe belegt und nicht in der Opferstatistik ­auftauchen. Diese Fälle zählen also nicht, und uns fehlen aussagekräftige Statistiken.

Außerdem ist es so, dass viele Frauen gar nicht zur Polizei gehen. Denn sehr oft werden sie dort von Männern beschimpft. Oder die Frau wird psychisch manipuliert und verunsichert. Ihr wird eingeredet, dass doch wahrscheinlich gar nichts vorgefallen sei. Sie solle zurückgehen und mit ihrem Ehemann Frieden schließen – wegen der Kinder und so weiter. Das ist ein riesiges Problem!

Wer in Russland den Krieg gegen die Ukraine beim Namen nennt, statt von einer Militär­operation zu sprechen, muss mit einer ­hohen Gefängnisstrafe rechnen.

Ja. Ein Moskauer Lokalpolitiker, den wir bei unserem Konzert auch auf der Leinwand zeigten, hatte während einer Ausschuss­sitzung – also war es nicht wirklich ein ­öffentliches Ereignis – den Krieg als solchen bezeichnet. Und er wurde dafür zu sieben ­Jahren Gefängnis verurteilt.

Hast du in deinem täglichen Leben Angst davor, dass dich jemand verfolgt, dich angreift?

Nein. Wir sind hier sehr sicher. Viele Aktivis­tinnen und Aktivisten haben Russland ver­lassen. Aber wir haben viele Freundinnen und Freunde, die im Gefängnis sitzen, ­manche werden gefoltert. Einige haben einfach nur in einem Post in den sozialen Medien den Krieg thematisiert. Sie brauchen unsere Unter­stützung. Deshalb sprechen wir über sie auf der Bühne. Es ist wichtig, ihnen Briefe zu schreiben. Wenn du im Gefängnis sitzt, brauchst du wirklich deine "Support Group". Sie hilft dir, die Zeit in Haft zu überleben.

So war es auch bei Masha Alekhina. In ­Interviews betont sie immer, wie viel Aufmerksamkeit sie bekam. Menschen aus ­aller Welt unterstützten sie, schrieben Briefe, schickten Zeitungen. Sie halfen ihr dabei, sich lebendig und nicht vergessen zu fühlen.

Aber all die anderen machen keine Schlagzeilen, schaffen es nicht in die Nachrichten. Ihre Gesichter sieht man nicht auf den Covern von Zeitungen oder Zeitschriften, und Madonna erwähnt sie nicht bei ihren Konzerten. Sie haben Unglaubliches versucht, ihr Leben und ihre Freiheit riskiert, um zu protestieren. Das verdient wirklich Respekt.

"Wir fühlen uns schuldig, auch wenn das irrational ist"

In Deutschland, Europa und anderswo ­werden Russinnen und Russen derzeit oft pauschal als die Bösen wahrgenommen. Wie geht es dir damit?

Ich bin mir dessen bewusst. Ich fühle mich auch nicht davon angegriffen. Du willst deine Zeit nicht damit verschwenden zu erklären: "Oh, schau doch, ich gehöre zu den Guten!" Tu einfach das, was in deiner Macht steht! Dass wir Geld für Projekte in der Ukraine sammeln, zum Beispiel für ein Kinderkrankenhaus in Kiew, ist das Mindeste, was wir in dieser ­Situation tun können. Und es ist schrecklich zu wissen, dass Menschen aus unserem Land unschuldige Ukrainerinnen und Ukrainer töten. Wir fühlen uns tatsächlich schuldig, auch wenn das irrational ist, denn wir waren ja all diese Jahre über politisch aktiv. Es war uns nicht egal. Aber du denkst immer, dass du nicht genug tust.

Schlecht fühle ich mich angesichts der vielen Gleichgültigen. Wenn ich Geflüchtete aus der Ukraine treffe und mir ihre Geschichten anhöre – und dann auf Instagram meine Bekannten einfach chillen oder in einem Club tanzen sehe. Ich klage sie nicht an, denn ­Menschen versuchen einfach nur zu leben. Aber es zerreißt mich innerlich. So viele Menschen halten einfach still! Natürlich haben sie auch Familien und so, aber leider sind sie die Mehrheit. Die gleichgültige Mehrheit.

Hast du in deinem Familien- oder Freundeskreis Menschen, die für den Krieg einge­zogen wurden, obwohl sie dagegen sind?

Glücklicherweise nicht in meiner Familie. Aber eine gute Bekannte, die selbst gegen den Krieg ist, berichtete mir von ihrem militär­erfahrenen Stiefvater: Zunächst sei er geradezu aufgeputscht gewesen, zog pflichtbewusst in den Kampf. Er verbrachte etwa drei Monate dort, und nun wisse er nicht mehr, wie er sein Leben weiterführen soll, wegen dem, was er dort sah.

Es ist schrecklich zu sehen, wie viele das System Putin gewählt haben. Die Propa­ganda ist enorm. Wenn manche sagen, dass sie die Ukraine retten und alle Nazis töten wollen, aber es gleichzeitig Leute gibt, die auf ­russischer Seite kämpfen – mit Hakenkreuz-Tattoos! Da ist eindeutig etwas falsch. Es ist sehr traurig.

Wer sollte Russland regieren, wenn Putin nicht mehr da ist, und was würde sich dann ändern?

Es hängt wirklich viel davon ab, wer nach Putin kommt. Eine Gesellschaft zu verändern ist ein sehr vielschichtiger und komplexer Prozess. Aber: Nicht Putin ist es, der im Kriegs­gebiet ukrainische Frauen vergewaltigt. Das sind ganz normale ­Leute aus Russ­land. Wir könnten aus derselben Stadt sein. Es ist dieses Erbe Putins, das mir Angst macht. An diese Menschen zu denken, die auch nach ihm noch da sein werden. Die werden sicherlich ihr Leben weiter­leben und dann sagen: "Ach, das war während des Kriegs. Das war etwas anderes."

"Russlands muss sich endlich mit seiner Geschichten auseinandersetzen"

In Russland sagt man: "Ich war Koch." Auch wenn man eigentlich aktiver Soldat war.

Russland leidet seit langem unter einem posttraumatischen Belastungssyndrom. Ich denke an die Veteranen aus dem Krieg in Afghanis­tan. In meiner Kindheit wurde in den Nachrichten von Männern berichtet, die wahllos Menschen auf der Straße verprügelten. ­Gruselige Mitglieder der Gesellschaft – in Russland weit verbreitet.

Wir leben in einer Gesellschaft, die auch nach Putins Tod bleiben wird. Russland muss noch so viele Phasen und Prozesse ­durchlaufen, um Respekt zurückzugewinnen. Wenn jemand die ganze Nation anklagt, ist mir das egal. Denn es gibt sie nun einmal, ­diese Menschen. Wir sehen, was sie getan haben, wenn wir den Newsfeed öffnen. Wir sehen Butscha, Mariupol, viele weitere Orte.
Es braucht auch einen Bildungsprozess. ­Unter Stalin wurden Millionen von Menschen getötet. Die Täter wurden nie belangt. Russlands Gesellschaft muss sich endlich mit diesen Geschichten auseinandersetzen. Die Menschen sollten zuhören und verstehen, was mit ihnen passiert ist. Das wird lange dauern. Und es wird auch um Reparations­zahlungen für die Ukraine gehen. Die ­Billionen der ­russischen Oligarchen sollten dafür ver­wendet werden.

Also bedarf es einer großen Anstrengung der ganzen Gesellschaft. Welche Rolle könnten Personen aus dem kulturellen Leben dabei spielen?

Alle Kulturschaffenden haben das Land verlassen. Fast alle. Weil sie ihrer Arbeit in Russ­land nicht nachgehen können. Ein paar sind im Gefängnis. Wie die Schriftstellerin, die Antikriegsgedichte schrieb.

Werden die Künstlerinnen und Schriftsteller zurückkommen, wenn der Krieg vorbei ist?

Das kommt darauf an, wie dann das Klima sein wird. Es gibt so viele unterschiedliche Szenarien, wie der Krieg enden könnte. Wir hoffen, dass die Ukraine gewinnen wird – das wäre dann das Ende von Putins Regime. Für mich bedeutet das: Alle politischen Ge­fangenen kämen frei. Wir brauchen Reformen, neue Institutionen. In den 90ern, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, kamen viele Künstlerinnen und Künstler zurück. Für sie folgte eine großartige Zeit. Kunstschaffende, die aus Amerika oder Europa zurückkehrten, konnten arbeiten und ihre Werke verkaufen. Sie konnten frei ihre Meinung äußern.

Gleichzeitig war es eine schreckliche Zeit für die normalen Menschen. Ich stamme aus einer einfachen proletarischen Familie, Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie litten in den 90ern. Es gab kein Essen. Es gab gar nichts. Alles kam so überraschend – all diese Veränderungen. Derzeit spricht keiner über das, was sich nach dem Krieg entwickeln könnte. Denn es geht ja auch um den Tag danach. Was passiert dann? Ich kenne mich nicht genug aus, um konkrete Vorschläge zu machen. Aber es gibt Menschen, die das könnten. Und viele von denen sitzen gerade im Gefängnis.

Putins Regime ist neofaschistisch. Manche vergleichen es mit dem Dritten Reich. Und ­danach? Deutschland hat Erfahrungen mit Entnazifizierung. Wir können von diesem langen Prozess lernen. Denn die Deutschen gehen sehr bewusst damit um.

Jedoch: Einiges kehrt in Deutschland gerade wieder.

Ja, und das ist sehr beängstigend. Auch weil Putin diese Politik und die Bewegungen ­unter­stützt.

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